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Sexueller Missbrauch
"Kinder brauchen bis zu acht Anläufe, bevor ein Erwachsener ihnen glaubt"

Julia von Weiler vom Kinderschutzverein "Innocence in Danger" fordert mehr Wachsamkeit beim Thema Kindesmissbrauch. 80 bis 90 Prozent der Fälle fänden im nahen sozialen Umfeld statt, sagte von Weiler im Dlf. Internet und Smartphones erleichterten heute zudem die Aufnahme und Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen.

Julia von Weiler im Gespräch mit Sarah Zerback |
    Ein bayerischer Kriminalbeamter sitzt in seinem Büro vor einem Bildschirmen, auf denen fast nackte minderjährige Mädchen zu sehen sind. Die Aufnahme ist verschwommen.
    Pornoseiten und sexueller Missbrauch: Die riesigen Datenmengen im Internet sind gigantisch und schwer für die Ermittler zu erfassen. (dpa / Peter Kneffel)
    Sarah Zerback: Wer viel bei Facebook unterwegs ist, weiß: Immer mal wieder nutzt auch die Polizei die sozialen Medien, um Hinweise aus der Bevölkerung zu bekommen etwa, und postet dann zum Beispiel Bilder von Verdächtigen. Dass Ermittler aber das Foto eines Opfers zur Fahndung benutzen, eines kleinen Mädchens, das schwer sexuell missbraucht und dabei gefilmt wurde, das ist schon mehr als außergewöhnlich. Und doch wurde das Foto am Montag in Windeseile verbreitet und geteilt. Nur wenige Stunden später konnte das Bundeskriminalamt so nicht nur das unbekannte Mädchen finden – erst vier Jahre ist sie alt -, sondern auch den mutmaßlichen Kinderschänder.
    Julia von Weiler ist Psychologin und Leiterin des Kinderschutzvereins "Innocence in Danger". Guten Morgen, Frau von Weiler.
    Julia von Weiler: Guten Morgen.
    Zerback: Dass es nun in diesem Fall in Wiesbaden dann doch so schnell ging, so gut ausgegangen ist, ist das die Regel?
    Julia von Weiler ist Geschäftsführerin von Innocence in Danger, der deutschen Sektion des internationalen Netzwerks gegen sexuellen Missbrauch
    Julia von Weiler ist Geschäftsführerin von Innocence in Danger, der deutschen Sektion des internationalen Netzwerks gegen sexuellen Missbrauch (Imago)
    von Weiler: Eine solche Öffentlichkeitsfahndung ist ja schon mal gar nicht die Regel, weil die Beamten sich wirklich alle Mühe geben, Opfer ohne eine so große Öffentlichkeit zu identifizieren. In diesem Fall hat das wahnsinnig gut geklappt und ich freue mich sehr, dass dieser Schritt, über den sie sich viele Gedanken gemacht haben, so schnell zu einem guten Erfolg geführt hat.
    Zerback: Sie beschreiben das als außergewöhnlichen Weg. War es denn der richtige?
    von Weiler: Ich glaube, dass es in diesem Fall der total richtige Weg war. Wenn die BKA-Beamten von schwerem sexuellen Missbrauch sprechen, dann sprechen wir von körperlicher Verletzung und Penetration eines vierjährigen Mädchens, und da kann man sich vorstellen, dass alle Strafverfolger dieser Erde gerne wollen, dass ein solcher Missbrauch schnell aufhört. Dadurch, dass das Kind noch so klein war, nicht in die Schule geht und nicht zwingend notwendigerweise in einem Kindergarten angemeldet ist, war die Öffentlichkeitsfahndung eigentlich der einzige Weg, um dieses Mädchen so schnell wie möglich zu finden.
    Zerback: Alternativlos also, nachdem – das muss man dazu sagen – monatelang auch vergeblich im Internet gefahndet wurde. Dennoch wird gerade darüber diskutiert, was das eigentlich für die Persönlichkeitsrechte des kleinen Mädchens bedeutet. Inwieweit sehen Sie die durch die Öffentlichkeitsfahndung gefährdet?
    von Weiler: Na ja. Natürlich ist die Privatsphäre und das Persönlichkeitsrecht dieses Kindes verletzt worden durch diese Fahndung einerseits, die allerdings erfolgte, um das Mädchen aus einer unhaltbaren Situation zu befreien. Was man sich gleichzeitig überlegen muss ist, dass die Beamten ja über dieses Mädchen gestolpert sind, wenn Sie so wollen, im Missbrauchsmaterial, das längst kursierte. Da werden die Persönlichkeitsrechte massiv missbraucht.
    In diesem Fall ist – das klingt zwar ein bisschen zynisch, aber kann man sagen – das Kind noch so klein, dass es sich glücklicherweise im Verlauf des Lebens so verändern wird, dieses Mädchen, dass man sie nicht mehr zwingend notwendigerweise erkennen wird in fünf oder zehn Jahren. Trotzdem haben alle Organisationen, so auch wir, sobald die Fahndung erfolgreich war, alle Aufrufe mit dem Foto des Kindes entfernt und alle Menschen aufgefordert, es uns gleich zu tun, in der Hoffnung, dass da der Anstand gewinnt.
    "Man hat die Anonymität des Kindes so gut wie möglich gewahrt"
    Zerback: Sie beschreiben das. Sie haben das getan und diesen Aufruf nun gemacht. Glauben Sie, das ist nicht ein bisschen naiv, dass das tatsächlich alle Facebook- und Twitter-Nutzer und Internet-User machen?
    von Weiler: Nee. Wahrscheinlich machen das nicht alle. Ich glaube, dass es bei ganz vielen auch längst in vielen Tweets und Facebook-Posts und so weiter vergraben ist. Und natürlich ist es so, das sagen ja auch wir: Sobald ein Foto einmal digital geteilt ist, verliert man jegliche Kontrolle darüber. In diesem Fall ist es tatsächlich ja das Foto eines Mädchens, dessen Namen man glücklicherweise auch gar nicht weiß, und man weiß auch nicht, wo sie wohnt. Man hat auch keine Missbrauchsdarstellung, sondern man hat ein Ganzkörperfoto dieses Kindes genommen. Man hat, wenn Sie so wollen, die Anonymität dieses Kindes so gut es ging gewahrt, um es doch gleichzeitig zu finden. Und was man sich wirklich sehr klar machen muss ist, dass diese Missbrauchsdarstellung, der schwere sexuelle Missbrauch, der an diesem Kind begangen wurde, längst im Netz kursiert, längst überall von pädokriminellen Tätern und Täterinnen angeschaut wird und weiter geteilt wird. Dieses Problem halte ich in diesem Fall tatsächlich für sehr viel vordringlicher, weil ich weiß, dass die Betroffenen darunter, unter der Tatsache, dass ihre Missbrauchsdarstellungen ein Leben lang kursieren, enorm leiden.
    Zerback: Halten wir also fest: Der Erfolg gibt den Ermittlern recht. – Welche Wirkung hat denn dieser Fahndungserfolg nun auf die Szene, auf die Täter?
    von Weiler: Ich hoffe, dass sie ein Stück weit eine abschreckende Wirkung hat, dass den Tätern klar wird, und den Täterinnen, auch das Darknet ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Wenn man sich noch mal überlegt, wie die vorgegangen sind, dann sieht man allerdings auch, wie mühselig diese Arbeit ist, nämlich genau zu schauen, das ist ein Kind, das spricht deutsch, dann zu schauen, können wir den Tatort nach Deutschland verorten, dann irgendwann zu sehen, in irgendeiner Ecke spielt eine deutsche Fernsehsendung, wir werden uns immer sicherer, es findet in Deutschland statt. Dazu gucken sich diese Ermittler einen solchen Film noch mal und noch mal und noch mal und noch mal an. Das ist an sich schon eine wahnsinnige Herausforderung. Die Datenflut, mit der wir umgeben sind, von sexuellen Missbrauchsdarstellungen, die ist wahnsinnig enorm. Es gibt einen sogenannten Webcrawler, der von Canadian Centre for Child Protection entwickelt wurde, der polizeibekannte Missbrauchsdarstellungen aufspürt, damit sie gelöscht werden, und der findet alle 1,8 Sekunden einen Ort online, wo Missbrauchsdarstellungen gehostet werden. Es ist einfach eine riesige Dimension.
    Zerback: Ja, eine unvorstellbare Dimension. – Inwieweit hat denn aus Ihrer Erfahrung das Internet Kindesmissbrauch und Kinderpornographie auch verändert?
    von Weiler: Die digitalen Medien sind in jeglicher Hinsicht ein riesiger Katalysator und Beschleuniger. Das stimmt für alle positiven Entwicklungen genauso wie für alle negativen Entwicklungen. Und wenn man sich sexuelle Gewalt anschaut und die Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen, dann muss man sagen, schöner hätte sich das keine Tätergruppe backen können als das Internet und das Smartphone. Ich habe heute mit dem Smartphone quasi mein eigenes Aufnahmestudio die ganze Zeit bei mir. Ich habe gute Tonqualität, ich habe eine gute Filmqualität, ich kann es sofort hochladen überall. Überall gibt es Wlan. Ich kann es verbreiten, ich kann es anonym verbreiten. Es gibt eine neue Form, den sogenannten Livestream-Missbrauch, indem ich gemütlich zuhause sitze und ein Kind vor der Kamera gemäß meiner Regieanweisungen missbraucht wird oder sexuelle Handlungen an anderen Menschen vornehmen muss. Dafür zahle ich so was wie 100 Dollar und das Kind kriegt vielleicht drei.
    Und natürlich: Die Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen und auch die Ansprache von Kindern hat sich exorbitant verbreitet sozusagen. Sie ist ein riesiges Problem geworden. Deswegen sind solche Werkzeuge wie die vom Canadian Centre for Child Protection ein ganz wichtiger Schritt, den man gehen kann und von denen wir noch sehr viel mehr gehen müssen.
    "Gigantisch große Datenmengen"
    Zerback: Sprechen Sie denn da jetzt hauptsächlich vom sogenannten Darknet, also vom verborgenen Teil des Internets? Darum ging es ja jetzt auch bei dem Fall in Wiesbaden. Oder tatsächlich auch vom frei zugänglichen Internet?
    von Weiler: Das ist sowohl als auch. Der Webcrawler vom Canadian Centre findet diese Orte vornehmlich im World Wide Web, also im frei zugänglichen Netz. Und auch das Darknet ist ja für uns alle frei zugänglich. So ist es ja nicht. Wir können uns ja alle entscheiden, auch diesen Weg zu wählen. Es ist nicht ganz so komfortabel, aber auch da werden die immer besser. Und es gibt dann noch dazu die sogenannten Peer to Peer Netzwerke. Das heißt, da werden Computer miteinander verbunden und tauschen so Sharing-Files aus, in denen dann auch Kinderpornographie sich befindet. Die Datenmengen, mit denen die Ermittler inzwischen zu tun haben, sind so gigantisch groß, dass sie Jahrzehnte eigentlich brauchen würden, um das Material in Ruhe zu analysieren und zu schauen, ob sie denn Opfer oder Täter identifizieren können, und ich weiß, dass sie darüber massiv frustriert sind, weil sie natürlich, wenn sie sehen, wie so ein Kind gequält wird, gerne wollen, dass eine solche Qual aufhört.
    "Missbrauch ist eine Beziehungstat"
    Zerback: Das klingt natürlich wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Wie müsste man Kinder da besser schützen, um auch auf diese neue Entwicklung zu reagieren?
    von Weiler: Na ja. Hier haben wir es ja mit einem, wenn Sie so wollen, ganz normalen, so zynisch das klingt, sexuellen Missbrauch im sozialen Nahfeld des Kindes zu tun. Der Lebensgefährte der Mutter, so heißt es jetzt zumindest, hat hier missbraucht. 80 bis 90 Prozent aller Fälle finden im sozialen Nahfeld statt. Missbrauch ist eine Beziehungstat. Das heißt, wir alle, die wir mit Kindern leben und arbeiten, müssen uns in die Lage versetzen zu bemerken, wenn es Kindern nicht gut geht, und wenn wir anfangen, sexuelle Gewalt zu vermuten, dann müssen wir uns in die Lage versetzen, uns Hilfe zu holen, zum Beispiel das Hilfetelefon Missbrauch der Bundesregierung anzurufen und zu sagen, ich mach mir Sorgen. Da kann ich vollkommen anonym mich erst mal sortieren und das nicht sofort wegzupacken und zu sagen, ach nee, das kann nicht sein, weil dieser Mann oder diese Frau, die kenne ich und die sind nett und so weiter.
    Kinder brauchen auch heute noch bis zu acht Anläufe, bevor ihnen eine erwachsene Person glaubt, dass sie missbraucht werden, und diese Wege müssen wir verkürzen. Das heißt, wir müssen viel, viel achtsamer sein einerseits. Andererseits, wenn es um Smartphones geht, müssen wir uns sehr genau überlegen, wann wir es eigentlich richtig finden, unserem Kind ein solches Wahnsinnsgerät in die Hosentasche zu stecken, weil wir damit natürlich auch ein Stück weit Kontrolle verlieren. Und das letzte ist, natürlich zu sagen, dass auch Internet-Plattformen, Social Networking Sides oder Online Games oder die sich explizit an Kinder wenden, die, wie wir wissen, Tummelplätze für Täter und Täterinnen sind, ihrer Verantwortung nachkommen und da für eine gewisse ordentliche Sicherheit sorgen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.