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Schoah
Ein göttlicher Funke - auch in Auschwitz?

Seit der Begegnung mit dem Holocaust-Überlebenden Jehuda Bacon sei sein Leben heller geworden, sagte der Autor und Theologe Manfred Lütz im Dlf, der mit dem Künstler über das Gute, das Böse und den Sinn des Leidens gesprochen hat. Daraus ist ein Buch geworden.

Manfred Lütz im Gespräch mit Christiane Florin |
    Lager Auschwitz-Birkenau im Nebel
    Ehemaliges Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, Blick auf einen Wachturm (picture alliance / zb / Fritz Schuhmann)
    Christiane Florin: Im Januar 2015, zum Holocaust-Gedenktag, lief im ZDF-"heute journal" ein Beitrag über den Künstler Jehuda Bacon. "Leiden kann Sinn haben", sagte der. Dieser Satz klingt wie eine banale Ratgeberweisheit, aber Jehuda Bacon weiß, was Leiden bedeutet. Er ist Jude, 1929 in Ostrava geboren, er wurde nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert. Der Junge überlebte Vernichtungslager und Todesmärsche, seine Familie überlebte nicht. Yehuda Bacon begann 1946 ein Kunststudium in Jerusalem, er wurde Hochschullehrer und ein hochangesehener Maler. Seine Bilder hängen in bedeutenden Museen und auch in der Gedenkstätte Yad Vashem.
    Mein Studiogast Manfred Lütz ist Buchautor, Chefarzt einer psychiatrischen Klinik in Köln und Theologe. Und just in jenem Moment, als ein er Buch zum Thema Glück schrieb, sah er Yehuda Bacon im "heute journal" und wollte diesen Mann unbedingt kennenlernen. Zusammen mit Jugendlichen fuhr er nach Israel und lernte Jehuda Bacon tatsächlich kennen. Aus den Gesprächen ist ein Buch geworden. Es heißt "Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden", ein Zitat von Jehuda Bacon. Herr Lütz, mit der Frage nach dem Bösen fängt das Buch an. Dann erzählt Jehuda Bacon durchweg mehr vom Guten als vom Bösen. Wie kommt das?
    Manfred Lütz: Das finde ich das Eindrucksvolle bei diesem Gespräch mit Jehuda Bacon, dass er aus seiner existenziellen Erfahrung heraus nicht in Auschwitz, sondern vor allem nach Auschwitz, wo er wirklich Menschen kennengelernt hat, die ihm wieder den Glauben an die Menschheit zurückgegeben haben, die Erfahrung gemacht hat: Das Gute ist das Eigentliche. Das Gute hat Existenz. Das Böse hat keine Existenz. Das Gute, so sagt er als Jude, ist die Nähe Gottes. Der Mensch kann sich aber entscheiden, aus der Nähe Gottes ins Nichts, wie er sagt, zu gehen. Was ich so eindrucksvoll finde ist, dass er das existenziell gelebt hat und damit eigentlich das sagt, was Thomas von Aquin auch sagt, das, was wir in der katholischen Theologie alles gelernt haben. Aber ich habe nach diesem Buch den Eindruck: Mein ganzes Theologiestudium ist eigentlich Sekundärliteratur. Das sind am Schreibtisch entstandene Thesen, die in Büchern stehen, die auch gute Thesen sind, das ist keine Frage. Deutungen der Welt. Aber eigentlich müssen wir Theologen nachdenken über einen Menschen wie Jehuda Bacon, über jemanden, der das wirklich erlebt hat. Er hat eben erlebt, dass das Gute und das Böse nichts Gleichwertiges sind, sondern - so glauben wir Christen ja -, dass der Teufel besiegt ist. Dass der Mensch eigentlich, und das glaubten die griechischen Philosophen schon, zum Guten orientiert ist, aber immer das Böse auch tun kann. Aber das Böse ist nicht gleichberechtigt.
    "Dieser Funke ist unzerstörbar"
    Florin: Wo war Gott in Auschwitz? Das ist eine oft gestellte Frage, auch in der Theologie. Wo war er denn?
    Lütz: Das habe ich ihn (Jehuda Bacon) auch gefragt und dann hat er gesagt: Das ist eine sehr theoretische Frage. Und hat dann erzählt von seinen Erlebnissen, die er in Auschwitz hatte. Er ist nach Auschwitz gegangen und vorher hat ihm ein Lehrer, Jacob Wurzel, bevor er nach Auschwitz deportiert wurde und dort vergast wurde, gesagt: "Denkt an eins Kinder, in jedem Menschen ist ein göttlicher Funke und dieser Funke ist unzerstörbar." Und dann hat Jehuda Bacon mir in diesem Buch gesagt, dass er daran immer gedacht hat, dass er immer gedacht hat: "Die SS kann mich zu Asche machen, kann mich vernichten. Aber diesen Funken können sie nicht zerstören." Das, was mich unglaublich berührt hat, ist, dass er diesen Funken dann aber auch, wenn es heißt "in jedem Menschen", in den SS Leuten gesehen hat.
    Florin: In Hitler ja auch.
    Lütz: In Hitler, das war dann nachher der Höhepunkt. Ein SS-Mann, erzählt er, hat Leute brutal geschlagen, so brutal, dass sie fast tot waren - oder vielleicht wirklich tot waren. Und eines Tages hat er zehn Jungs antreten lassen. Und dann hat er sie marschieren lassen in einen Raum, in dem stand ein Tisch und auf dem Tisch lag eine Salami. Und dann hat er diese Salami in zehn Teile geteilt und hat gesagt: Esst. Und dann hat er gesagt: Haut ab. Mehr nicht. Und dann sagt Jehuda Bacon mit einem Lächeln: "Sehen Sie, auch in diesen Menschen ist dieser Funke Gottes." Und dann habe ich, Sie haben schon darauf angespielt, am Schluss gefragt: "Wenn Sie sagen, in jedem Menschen ist ein Funke Gottes, dann müsste das doch auch für Hitler gelten." Und dann er erst gezögert. Und hat dann gesagt: Das ist eine sehr spezielle Frage und hat dann einfach erzählt. Und er hat erzählt, dass Hitler einen Kriegskameraden hatte, der Jude war. Und der hat Hitler, als die Verfolgungen stark wurden, einen Brief geschrieben, ob er ihn denn ausreisen lasse. Und Hitler habe ihm ausreisen lassen. Und dann sagte Jehuda Bacon noch so lächelnd: "Sehen Sie? Da ist auch dieser Funke."
    "Existenzielle Fragen, auf die es keine glatten Antworten am Schreibtisch gibt"
    Florin: Es ist aber für Millionen Menschen nicht gut ausgegangen. Sie sind ermordet worden - trotz des göttlichen Funkens, den man vielleicht erkennen mag. Der Philosoph Hans Jonas hat einmal über den Gottesbegriff nach Auschwitz gesagt: Nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff Gott nicht ein. Die Frage bleibt doch: Wo war Gott in Auschwitz?
    Lütz: Der katholische Philosoph Robert Spaemann hat auf die Frage: "Wo war Gott in Auschwitz?" geantwortet: am Kreuz. Ich hatte mal eine Diskussion mit Henryk Broder im Fernsehen, wo Broder sich erst angemeldet hatte, er sei Atheist. Dann hat er nachher gesagt, er sei Agnostiker und dann hat er irgendwann gesagt: "Doch, jetzt habe ich mir überlegt, ich glaube doch an Gott, aber ich glaube, dass Gott ein Zyniker ist, angesichts dessen was er in Auschwitz zugelassen hat." Und dann habe ich darauf spontan geantwortet: "Ich glaube, ich könnte tatsächlich auch nicht an einen Gott glauben, der nicht ein gekreuzigter Gott ist." Also wenn Gott da oben sitzt und sich das ganze Elend anschaut und er hat diese Welt ja geschaffen, dann könnte ich an diesen Gott nicht glauben. Aber ich glaube an einen mitleidenden Gott und dass er den Preis der Möglichkeit, Böse zu sein, selbst erlitten hat. Das hat Jehuda Bacon ja erlebt in Auschwitz, dass er das selbst erlitten hat.
    Und jetzt ist Benedikt XVI. gerade mit einem Dialogbuch auf dem Markt. Peter Seewald hat ihm die Frage gestellt, wie er das denn sehe mit dem Bösen. Und da ist Benedikt XVI. auch sehr zögerlich und sagt, da habe er letztlich auch keine Antwort. Es gibt existenzielle Fragen, auf die es keine glatten Antworten am Schreibtisch gibt und wo wir noch so viele Bücher lesen können. Und das ist eigentlich das Kostbare an diesem Buch, das ich mit Jehuda Bacon gemacht habe: dass der keine Bücher geschrieben hat, sondern dass er das erlebt hat. Ich bin so engagiert für dieses Buch, weil ich finde, dass diese Gedanken viele Menschen mitbekommen müssten. Das ist ein Vermächtnis sozusagen. Und ich kann von mir nur sagen: Seit der Begegnung mit Jehuda Bacon ist mein Leben heller geworden. Ich sehe Schwierigkeiten, die ich erlebe, mit einer größeren Gelassenheit. Ich sehe es auch mit mehr Demut und mehr Bescheidenheit. Man bauscht ja viele Dinge so furchtbar auf.
    Unvermeidlich glücklich
    Florin: Kann man sich bei einem Bestseller-Autor gar nicht so richtig vorstellen?
    Lütz: Was kann man sich nicht vorstellen?
    Florin: Demut und Bescheidenheit.
    Lütz: Naja, ich versuche, das als Christ natürlich zu sein. Wenn man das jetzt mal ganz ernsthaft beantwortet: Ich versuche Bücher zu schreiben, die dem Menschen wirklich was bringen. Wenn Sie diese Bücher zu den Menschen bringen wollen, dann müssen Sie auf allen Bühnen tanzen. Klar. Und dann müssen Sie es auch "gut verkaufen". Aber ich hoffe jedenfalls, dass ich das nicht tue um mich selbst in den Vordergrund zu spielen, sondern um demütiger Diener einer Aussage zu sein. Ich habe dieses Buch geschrieben "Wie Sie unvermeidlich glücklich werden". Das ist eine ironische Kommentierung dieser ganzen Glücksbücher, die es da gibt, die eine Anleitung zum Unglücklichsein sind. Furchtbar viel Schrott gibt es in diesem Bereich. Karl Jaspers hat gesagt, die Grenzsituationen menschlicher Existenz sind unvermeidlich: Leid, Schuld, Kampf und Tod. Und wenn man zeigen könnte, wie man in diesen unvermeidlichen Grenzsituationen menschlicher Existenz glücklich sein kann, dann kann man wirklich unvermeidlich glücklich werden. Und das war sozusagen der ernste Kern dieses Buches "Wie Sie unvermeidlich glücklich werden". Und da war die Frage, wie kann ich das Leidenskapitel beginnen? Wie kann man im Leid glücklich sein? Und da sah ich im "heute journal" Jehuda Bacon, den ich nie vorher gesehen hatte. Vor dem Holocaust-Gedenktag hat er über Auschwitz berichtet und dann sagte am Schluss der "heute"-Sendung Claus Kleber: "Wir müssen Ihnen jetzt nochmal Jehuda Bacon zeigen, weil er etwas gesagt hat, was uns alle zutiefst berührt hat." Und dann sah man nochmal diesen freundlichen, alten Mann wie er sagte: "Man kann auch im Leiden Sinn erleben, wenn man so tief erschüttert ist, das man erlebt, dass jeder Mensch jemand ist wie man selbst."
    Florin: Aber ist das nicht manchmal auch erdrückend einem solchen Menschen zu begegnen, der in allem noch das Gute sehen kann, der im Leid noch einen Sinn finden kann?
    Lütz: Wenn ich mich beobachte, nachdem ich Jehuda Bacon kennengelernt habe, in bestimmten Situationen habe ich mich im Nachhinein ein bisschen wehleidig erlebt. Zuerst denke ich: "Das finde ich jetzt schrecklich, was mir das passiert ist." Dann denke ich: "Jetzt bleib mal auf dem Teppich." Und das ist das, was mein Leben heller gemacht hat, nachdem ich dieses Gespräch mit ihm geführt habe.
    "Aus dem Grauen schlechthin können wir nichts lernen"
    Florin: Aber damit haben Sie Ausschwitz eigentlich einen Sinn gegeben. Oder Jehuda Bacon hat Ausschwitz einen Sinn gegeben.
    Lütz: Ich habe Ihn gefragt: Was würden Sie machen, wenn Sie Mengele begegnen würden und was würden sie ihm sagen? Und dann sagt er: Ich würde ihn fragen: Wie können Sie eigentlich schlafen? Und dann hat er gesagt: Ich würde ihn aber nicht verurteilen, zum Tode verurteilen oder sowas. Erst hat er gesagt: "Ich würde ihn zwingen seine Biographie zu schreiben." Und dann hat er gesagt: "Nein, nein, wenn er nicht will, muss er nicht. Und ich würde ihm ein paar Vorgaben machen, denn sonst hätte das ja gar keinen Sinn gehabt", sagt Jehuda Bacon. Man kann Auschwitz natürlich, gerade von außen, wenn man selbst nicht in Auschwitz gewesen ist, einfach als das Grauen schlechthin beschreiben, aber aus dem Grauen schlechthin können wir natürlich nichts lernen fürs Leben. Dann kann man nur sagen: Es gibt das, es ist furchtbar. Es ist das was wir momentan in Syrien erleben oder im Terror anderswo. Insofern ist das Buch auch sehr aktuell. Die Frage, die ich häufig gestellt bekomme von Journalisten ist: Welche psychischen Störungen haben diese Terroristen oder gibt es psychologische Mechanismen die Leute zu Terroristen machen? Dann kann ich nur sagen: Das mag vielleicht manchmal sein, aber generell Nein. Es gibt das Böse, das ist ein Verbrecher. Die Möglichkeit des Bösen - das ist etwas unglaublich Unheimliches für uns Menschen, dass es das wirklich gibt, das Böse.
    Jehuda Bacon hat das ganz liebevoll mit den Jugendlichen gemacht. Als ich ihn abgeholt habe mit dem Taxi in Jerusalem zu diesem Gespräch hat er mir im Taxi von Přemysl Pitter erzählt, dem Mann, der nach dem Krieg ihn und andere Waisenkinder aufgenommen hat in ein Kinderheim. Er (Jehuda Bacon) war mit 14 nach Auschwitz gekommen und hatte keine Eltern mehr. Und zwar zusammen mit Hitlerjungen, also auch mit deutschen Waisenkindern und die haben sich nie gestritten, weil Pitter eine solche Liebe ausstrahlte, dass man auch einfach gar nicht auf die Idee gekommen ist. Und so hat man den Glauben an die Menschheit wieder gefunden. Dann habe ich gedacht, als er mir im Taxi dauernd von diesem Herrn Pitter erzählte, den ich gar nicht kannte, der ist vielleicht dement. Ich bin ja Psychiater, da hat man schnell mal so Ideen. Der sollte doch über Auschwitz erzählen und nicht über irgendeinen Herrn Pitter, den keiner kennt. Und dann kam er zu den Jugendlichen und dann hat er tatsächlich angefangen, davon zu erzählen, wie er wieder den Glauben an die Menschheit zurückgewonnen hat. Und das war unglaublich rührend. Dann erzählt er zum Beispiel, wie der Pitter ins Esszimmer kam, wo die Jungs alle saßen. Ein Junge hatte die Mütze noch auf dem Kopf. Und da hat er gedacht, dass sei so ein Lausbub, der weiß nicht, wie man sich zu benehmen hat, und hat ihm die Mütze vom Kopf genommen. Dann hat ihm ein Mitarbeiter gesagt: "Nein, nein, das ist kein Lausbub, das ist der Sohn eines Rabbiners und da trägt man die Mütze nun mal auf dem Kopf". Und dann hat er sich sofort entschuldigt und ihm die Mütze wieder gegeben. Und 25 Jahre später haben einige ehemalige Zöglinge von Pitter ihn eingeladen nach Israel. Dann hat er da eine Medaille gekriegt von der Regierung. Dann kam er zu ihnen fragte: "Ist hier auch der "Wolfi"?" Das war dieser Rabbinersohn und dann sah er ihn. Ja, der ist da. Und dann sagt der: "Kannst du mir noch verzeihen, was ich dir damals angetan habe?" Und in diesem Moment bekam Jehuda Bacon im Gespräch mit mir Tränen in die Augen und dann sagte er: "Dass nach 25 Jahren der sich noch entschuldigte dafür, dass er das nicht richtig gemacht hatte." Und so hat er auch den Jugendlichen erstmal von diesen Erfahrungen erzählt. Und dann hat er von Auschwitz berichtet. Und das hat er gemacht in einer Nüchternheit, die nicht oberflächlich war, die nicht gleich verharmlost hat oder gesagt hat: Ist jetzt nicht so schlimm. wir glauben an das Gute und dann so drüber weggegangen. Er hat in aller Nüchternheit und das ist dann eigentlich noch erschütternder. Wenn so ein liebenswürdiger Mensch einem erzählt was man mit diesem Menschen gemacht hat, dann hat man wirklich selbst Tränen in den Augen, als wenn jemand, das gibt es ja auch manchmal, dass Menschen die in Auschwitz waren und ganz verbittert sind, was man sehr gut verstehen kann, was man gar nicht kritisieren kann.
    "Haben Sie mal dran gedacht, Christ zu werden?"
    Florin: ... und die den Glauben an Gott verloren haben.
    Lütz: Ja, viele, viele. Und hier war es so: Man hatte eine solche sympathische Beziehung zu diesem Menschen, wenn man dann erfährt, was diesem Menschen angetan worden ist, dann erlebt man das Grauen von Auschwitz noch unmittelbarer. Aber er beschreibt es nüchtern.
    Florin: Nun sagt Jehuda Bacon, auf das Verhältnis zwischen Juden und Christen angesprochen: Wir beten alle zum selben Gott. Und der Mann, dieser Pitter, der ihm geholfen hat, war Christ, das sagt er auch explizit. Ist das nicht ein bisschen zu einfach? Woher kommen dann die Konflikte zwischen Judentum und Christentum, die ja bis die ja bis heute nicht ausgeräumt sind?
    Lütz: Wenn man mit so jemandem spricht wie mit Jehuda Bacon, versteht man das nicht. Die Frage ist zwar ein bisschen komisch, habe ich sonst auch noch nie einem Juden gestellt. Aber das ist - würde ich als Christ jetzt mal sagen - so christlich, was er sagt, dass man wirklich auf die Frage kommt: Haben Sie mal dran gedacht Christ zu werden? Und dann hat er sehr nett geantwortet: "Ach wissen Sie, ich bin als Jude geboren." Er spricht vom Imitatio Christi, er spricht vom Trinitarischen, er spricht davon, dass Gott die Liebe ist. Wenn er darüber spricht, wie er betet, dann sagt er Dinge, die die christlichen Heiligen auch alle gesagt haben. Das ist wirklich eine Situation, wo man sich fragt, was ist Christ sein dann noch mehr als das, was Jehuda Bacon gelebt hat und vorlebt. Ich kann als katholischer Christ nur sagen: Wenn ich sterben sollte und dann in den Himmel komme, was ich natürlich hoffe, was man nie genau weiß, und Jehuda Bacon ist nicht da, dann ist das nicht der Gott, an den ich glaube.
    Florin: Aber nochmal: Es gab einen christlich begründeten Anti-Judaismus. Haben Sie darüber gar nicht gesprochen?
    Lütz: Ich habe mit ihm über sehr viele Dinge gesprochen. Und es gab viele Dinge, wo sich sehr diskret sich zurückgenommen. Also er ist nicht jemand, der verbittert ist. Gar nicht. Sondern die Botschaft, die er hat, ist eine humanistische Botschaft - aber auch eine religiöse Botschaft. Nach dem Krieg war er befreundet mit Martin Buber, er hat sich damit beschäftigt, hat sich mit den Psalmen beschäftigt. Und die Frage des Antijudaismus oder auch die Frage der Situation Israels in der Auseinandersetzung mit der arabischen Welt: Das sind Dinge, da hält er sich sehr zurück mit Urteilen. Das ist auch das Eindrucksvolle für jemanden wie mich, der katholische Theologie studiert hat, der sich auch theoretisch sehr mit Antijudaismus auseinandergesetzt hat, mit der Geschichte der Kirche, wo es auch die entsprechenden schlimmen Dinge gegeben hat. Dass ich da jemandem begegnet bin, von dem ich den Eindruck habe: Das ist Urgestein. Das ist etwas Existenzielles. Der redet existenziell. Da war keine Platte, die er auflegte, obwohl er sicher schon häufig darüber gesprochen hat. Sondern er begegnet einem existenziell, unglaublich demütig, mit einer heiteren Bescheidenheit. Ein Mensch, der eine Liebenswürdigkeit ausstrahlt, die etwas ganz Unmittelbares ist. Wenn man so jemandem begegnet - das werde ich nicht vergessen, bis zu meinem Tod nicht vergessen. Wenn mir mal Glaubenszweifel kommen, werde ich an Jehuda Bacon denken und dann wieder ein besserer Christ werden.
    "Wir Psychiater werden zu viel interviewt"
    Florin: Und wenn Sie im Alten Messritus so etwas hören wie die Karfreitagsbitte, also die Fürbitte für die Juden mit dem Gestus: Die Juden haben den falschen Glauben, die haben den Messias nicht erkannt. Da müssten sich doch alle Stacheln aufrichten?
    Lütz: Auch darüber habe ich mit ihm gesprochen. Aber auch das ist etwas, was ihn überhaupt nicht aufregt, was er mit großer Milde als einen historischen Vorgang betrachtet. Sein Anliegen ist - und er hat mit sehr vielen evangelischen Christen zu tun von der "Aktion Sühnezeichen", auch mit katholischen Christen -, dass er versucht, die positiven Konsequenzen, die er für sein Leben glaubwürdig gezogen hat, die man in seinen Bildern auch sehen kann, zum Leuchten zu bringen und diese üblichen Debatten nicht zu führen. Er debattiert nicht, er existiert.
    Florin: Was sagt der Psychiater in Ihnen dazu? Sind Debatten überflüssig?
    Lütz: Der Psychiater in mir sagt dazu gar nichts. Wir Psychiater werden sowieso zu viel interviewt. Als Psychiater kann ich etwas sagen zu psychischen Krankheiten. Aber ansonsten kann ich zur Debattenkultur genauso viel sagen wie Sie als Journalistin, wahrscheinlich können Sie dazu sogar mehr sagen.
    Florin: Ich vermute, dass es sinnvoll ist, die Vergangenheit aufzuarbeiten, also über das zu sprechen, was geschehen ist, und, wenn nicht auf Rache zu sinnen, so doch das Bedürfnis zu haben, dass es Gerechtigkeit gibt. Dass es Prozesse gibt. Dass es eben nicht der Weg für alle sein kann, die Täter dazu zu zwingen, ihre Biografie zu schreiben.
    Lütz: Das kommt in dem Buch auch vor. Er hat Situationen erlebt, wo ihn Kinder von Tätern angesprochen haben. Er hat David Flusser, einen berühmten tschechischen Juden, der in Israel lebte, gefragt: Was soll ich tun? Und der hat ihm gesagt: Wenn sie bereit sind, Verantwortung zu übernehmen, dann kannst du ihnen vergeben. Er hat im Eichmann-Prozess in Israel ausgesagt; er hat im Frankfurter Auschwitz-Prozess ausgesagt. Seine Zeichnungen wurden als Beweismittel genommen, weil es ja gar keine Fotos mehr gab von den Krematorien. Er hat darauf Wert gelegt, dass er bei den Tätern nur das beschrieben hat, was sie getan haben. Der mit der Salami, von dem ich eben erzählt habe, der war auch da. Er war der Einzige, der sich zu seiner Schuld bekannt hat, der Einzige. Er hat Leute geschlagen, so dass sie reglos dalagen. Und dann hat Jehuda Bacon Wert darauf gelegt - ich habe die Auszüge aus dem Protokoll gelesen - zu sagen: "Ich konnte nicht sagen, ob die tot sind. Sie haben sich nicht mehr gerührt. Ich bin dann weggegangen." Das heißt, er hat nicht gesagt, der SS-Mann hat die ermordet. Er hat nur die Phänomene beschrieben, und er ist besonders stolz darauf, dass er das sehr nüchtern gemacht hat. Ohne Emotion und ohne das zu übertreiben. Er legt, was Auschwitz betrifft, sehr nüchtern Zeugnis ab.
    "Hass ist ganz gesund"
    Florin: Er sagt an einer Stelle: "Wenn ich jetzt auch hasse, dann hätte Hitler gesiegt." Max Mannheimer hat das ganz ähnlich ausgedrückt: Ich kann nicht hassen. Was wohl auch heißt: Ich will nicht hassen. Wie gesund ist Hass?
    Lütz: Ganz gesund. Psychisch Kranke hassen nicht aufgrund ihrer psychischen Krankheit. Wenn sie aggressiv sind, dann macht sie die Krankheit aggressiv. Sie sind nicht aggressiv. Das muss man immer unterscheiden. Hassen ist etwas, was gesunde Menschen wie Hitler, wie die SS-Leute machen. Jehuda Bacon beschreibt diese Geschichte, das ist sehr beeindruckend, wo er sagt: Sein Vater hätte Schnee schippen müssen als Jude in Mährisch-Ostrau. Nach dem Krieg sei er (Jehuda Bacon) wieder in Mährisch-Ostrau gewesen, da hätten Deutsche Schnee schippen müssen, die von Tschechen gezwungen wurden. Und da sei er auf den Gedanken gekommen, er könne auf diesen Deutschen einen Stein werfen. Und dann hat er überlegt, was dann passiert. Erstens ist dieser Deutsche vielleicht ganz unschuldig. Und zweitens, wird er dann wieder auf andere aggressiv sein und dann wird das immer so weiter gehen. Und dann hat er das nicht gemacht.
    Florin: Wenn Sie das Buch jemandem schenken wollten in pädagogischer Absicht nach dem Motto: Lies das, damit du dein Verhalten änderst. Wem würden Sie es schenken?
    Lütz: Allen Menschen, die ich kenne. Es ist das kostbarste Buch, was ich je geschrieben habe. Und das kann ich vielleicht sagen, weil ich es eigentlich nicht geschrieben habe, weil es seine Texte sind. Ursprünglich sollte es ein Dialogbuch werden. Ich hatte mir meine Fragen überlegt, auch meine Erfahrungen. Das wäre total lächerlich gewesen. Ich habe es ihm vorgelesen zum Teil, das hat er auch sehr bescheiden hingenommen, aber ich habe dann nur kurze Fragen gestellt und er hat dann wirklich geredet. Und was er gesagt hat, war so authentisch, dass man es so abdrucken konnte, wie er es gesagt hat, obwohl er sehr fragmentiert geredet hat. Ich musste die Fragmente nachher zusammensetzen. Aber 98 Prozent des Buches ist sein Text, und das ist das Ergreifendste, was ich bisher an Gespräch erlebt habe.
    Florin: Aber eine Hass-Fraktion, die daraus heute etwas lernen könnte, die gibt es ja. Haben Sie nie darüber nachgedacht, dorthin 100 Exemplare zu schicken?
    Lütz: In pädagogischer Absicht etwas dorthin zu schicken, das hilft nicht. Das wissen Menschen, die pubertierende Kinder gehabt haben, weil sie dann extra dagegen sind. Aber ich glaube, dass, wenn man jemandem begegnet, der so entwaffnend ist, der einen auch nicht angreift - Sie haben mir vorhin ein paar Fragen gestellt: Gerechtigkeit, wie ist das mit den Tätern? Mit Antijudaismus? -, der das gar nicht sehr thematisiert, sondern der versucht, aus den Erfahrungen, die er gemacht hat, wirklich das Gute zu ziehen, ohne rosa Brille. Das ist ja auch mühsam, wenn Leute nur über das Positive reden. Das ist bei ihm aber nicht so. Es ist total ernst, wenn er über Auschwitz und das Böse redet.
    Florin: Diejenigen, die Hate-Speech verbreiten, haben Sie nicht dezidiert im Blick gehabt?
    Lütz: Ich habe überhaupt niemanden im Blick gehabt. Ich habe einen im Blick gehabt: Jehuda Bacon. Und ich wollte mit allem Respekt, dass authentisch rüberkommt, was er ist. Was er als Existenz, als Mensch ist. Und ich glaube, dass das etwas Ewiges ist, was der sagt. Ich wünsche mir, dass dieses Buch in Schulen gelesen wird, damit sie nicht nur über Auschwitz lesen, das können sie auch in dem Buch, damit sie lesen, wie man ohne Bitterkeit, aber auch, ohne mit dem Schwamm darüber zu gehen, das darstellt. Ich glaube, dass ist sehr glaubwürdig, sehr authentisch. Es gibt ganz viele Menschen, die mich jetzt angesprochen haben und die Jehuda Bacon kennen, aber es gab nichts auf Deutsch bisher.
    Jehuda Bacon, Manfred Lütz: "Solange wir leben, müssen wir uns entscheiden."Leben nach Auschwitz.
    Gütersloher Verlagshaus, 16,99 Euro.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.