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Sigmar Gabriel zur Griechenland-Krise
"Eine Volksabstimmung kann Sinn machen"

Vizekanzler Sigmar Gabriel rät den europäischen Regierungschefs, den griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras bei seiner Idee eines Referendums zu unterstützen. Dieser müsse allerdings über das abstimmen lassen, was von Europa angeboten werde, sagte der SPD-Chef im DLF. Die Frage nach einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik hält er für wegweisend für die EU.

Sigmar Gabriel im Gespräch mit Jürgen Zurheide |
    Sigmar Gabriel im Gespräch mit Martin Zurheide
    Bundeswirtschaftsminister und SPD-Vorsitzender: Sigmar Gabriel (picture alliance/dpa/Patrick Seeger)
    Die Idee einer Volksabstimmung sei keine neue: Bereits zu Beginn der Griechenlandkrise habe der damalige Ministerpräsident Giorgos Papandreou dies gewollt, nicht aber die europäischen Regierungen, erinnert Gabriel im Deutschlandfunk. Das habe er schon damals falsch gefunden. "Wir wären gut beraten, Tsipras diesmal zu folgen." Ein Referendum könne Sinn machen, wenn die Bedingungen eines Reformprogramms für Griechenland klar seien. Hilfsprogramme in Höhe von 20 oder 30 Milliarden Euro nach Griechenland zu bringen, so wie Athen es fordere, könne Europa allerdings nicht akzeptieren, so Gabriel.
    Die EU unter Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker biete in den aktuellen Verhandlungen viel an: "Jetzt gibt es das Angebot, in Wachstum zu investieren. Das macht nur Sinn, wenn die Politik Griechenlands so organisiert ist, dass nicht jeden Tag neue Schulden hinzukommen." Wenn Tsipras das nicht wolle, ergreife er die "ausgestreckte Hand nicht" und mache "eine sehr ideologische Politik".
    Flüchtlingsfrage "größte Gefahr für EU"
    Im europäischen Streit um eine gemeinsame Flüchtlingspolitik spricht der SPD-Politiker von einer "großen Schande für die EU, dass eine Vielzahl von Staaten sagen: Wir wollen keine Flüchtlinge aufnehmen." Dieser Umgang mit der Flüchtlingsfrage stelle gegenwärtig die größte Gefahr für die Zukunft der Europäischen Union dar.
    Die Idee der EU werde zurzeit von Ländern wie Großbritannien, Polen und Frankreich infrage gestellt. "Wenn wir nicht aufpassen, zerstören wir in wenigen Jahren, was unsere Großeltern aufgebaut haben", so Gabriel. Vor allem die neuen zur EU gekommenen Staaten müssten "auch dann solidarisch sein, wenn es darum geht schwierige Zeiten durchzustehen".

    Hier können Sie das vollständige Interview nachlesen:
    Jürgen Zurheide: Jetzt also das Referendum. Das ist das neueste Kaninchen, das die Griechen aus dem Hut gezaubert haben. Über das Referendum wollen sie Unterstützung oder Ablehnung organisieren, so ganz genau weiß man das in diesen Momenten nicht. Damit geht das Drama um Griechenland in die nächste Phase.
    Das war der Bericht von Kai Küstner. Mitgehört hat Bundeswirtschaftsminister und SPD-Vorsitzender Sigmar Gabriel, den ich jetzt am Telefon begrüße. Guten Morgen, Herr Gabriel!
    Sigmar Gabriel: Guten Morgen, Herr Zurheide!
    Zurheide: Herr Gabriel, bekommen die Griechen noch ein paar Tage Aufschub, ein paar weitere Tage?
    Gabriel: Ich glaube, man muss sich am Anfang mal erinnern, dass die Idee einer Volksabstimmung über die Auflagen, die Europa machen will, wenn es Milliardenhilfen für Griechenland zur Verfügung stellt, keine Neue ist, sondern als die griechische Krise losging, hat der damalige sozialdemokratische Ministerpräsident Papandreou den Europäern gesagt, ich trage diese Auflagen mit, aber ich will meine Bevölkerung fragen, einfach weil es nicht so aussehen darf, als ob uns das immer aufgezwungen wird. Wir müssen das auch selber wollen. Und er war sich sicher, dass er eine Mehrheit bekommt.
    Damals haben die europäischen Staats- und Regierungschefs das blockiert. Ich habe es damals schon falsch gefunden, weil man keinem Volk verbieten kann oder keiner Politik verbieten kann, die Bürgerinnen und Bürger zu fragen. Und ich glaube, wir wären klug beraten, jetzt diesen Vorschlag von Herrn Tsipras nicht einfach so beiseite zu tun und zu sagen, das ist ein Trick, sondern wenn die Fragen klar sind, nämlich wenn wirklich klar ist, dass abgestimmt wird über ein ausgehandeltes Programm, dann kann das Sinn machen. Was ich nicht einschätzen kann und wo ich nicht so sicher bin, ist, ob die Bedingungen des Programms denn bereits ausgehandelt sind, denn Herr Tsipras kann natürlich seine Bürgerinnen und Bürger nur fragen zu den Dingen, die wirklich feststehen, damit nicht hinterher, nach einer Abstimmung, noch mal irgendwelche Interpretationen entstehen. Es muss ein klares Programm geben. Und was er möchte, dass Europa ihm 20-, 30-Milliarden-Hilfsprogramme nach Griechenland bringt, aber ohne jede Bedingung, das kann Europa nicht akzeptieren. Und deswegen muss er seine Bürger dann fragen, ob sie zweistellige Milliardenprogramme als Hilfe haben wollen und dafür bestimmte Maßnahmen eingehalten werden müssen, die dazu führen, dass Griechenland sich auch wieder Schritt für Schritt erholt.
    Zurheide: Nun ist ja, jetzt die etwas schwierige Lage, dass die Regierung und dass Herr Tsipras sagt, wir wollen das, was da im Moment ausgehandelt ist, so nicht. Also, es ist eine kuriose Situation, und da könnte man das Gefühl haben, dass die tricksen wollen, dass die sich quasi eine Legitimation ihres Volkes für etwas holen, was sie, na ja, so richtig nicht wollen. Das ist doch zumindest ein schwieriger Anfang, oder?
    Gabriel: Ja, das wäre allerdings auch eine absurde Situation. Sondern die Volksabstimmung macht nur dann Sinn, wenn das, was von Europa angeboten wird, zur Abstimmung steht. Und Europa bietet ja sehr viel an. Und viele der harten Maßnahmen, die am Anfang in der Debatte sind, sind ja vom Tisch. Ich kann verstehen, dass eine griechische Regierung und die griechische Bevölkerung nicht akzeptieren kann, wenn der Internationale Währungsfonds eine Mehrwertsteuererhöhung auf Medikamente durchsetzen will, obwohl es nicht mal eine anständige Krankenversicherung. Und ich hielte es auch für falsch, die kleinen Renten zu kürzen. Aber in der Rentenstruktur zum Beispiel des Öffentlichen Dienstes etwas zu ändern, wo Menschen nach kurzer Zeit frühverrentet werden können, das macht sicher Sinn.
    Also ich glaube, es gibt ein umfangreiches Paket – gerade Jean-Claude Juncker und Martin Schulz haben sich sehr dafür engagiert, dass ein Programm vorgelegt wird, das soziale Härten vermeidet, das aber gleichzeitig für das, was die griechische Regierung tun muss, dann ein sehr, sehr breites Hilfsangebot vorlegt, bei dem endlich, übrigens erstmals bei all diesen Hilfsprogrammen auch in Wachstum investiert wird.
    Der Fehler der alten Hilfsprogramme war, dass da nur über Sparen gesprochen wurde. Jetzt bietet die Europäische Union richtig Hilfen für Investitionen, für Wachstum und Arbeit, Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit an. Und ich finde, wenn Herr Tsipras was zur Abstimmung stellt, dann dieses Programm.
    Bisherige Programme haben versagt
    Zurheide: Aber genau das scheint doch jetzt in diesen Tagen gerade nicht verhandelt worden zu sein. Ich höre immer nur, dass da über die 15 Milliarden gesprochen worden ist, die Griechenland bis zum November über die Runden bringen würden. Genau die entscheidende Frage steht ja im Raum: Wie kommen die Griechen wieder an eigenes Wachstum, dass sie aus der Problematik herauskommen. Denn die bisherige Rettungspolitik hat da doch offenkundig versagt. Das müsste doch mal jemand auch laut und deutlich sagen.
    Gabriel: Das ist so. Die Rettungspolitik der letzten Jahre, die nur darauf gesetzt hat, die Staatshaushalte zusammenzustreichen, und zum Beispiel nicht dafür gesorgt hat, dass ein vernünftiges Steuersystem entsteht – ich meine, bis heute gibt es nicht einen Antrag einer griechischen Regierung an ein europäisches Land wie Deutschland, mal ein Konto eines griechischen Milliardärs einzufrieren, der zu Hause seine Steuern nicht bezahlt hat.
    Zurheide: Das ist übrigens der Mangel der Griechen, dass die das bis heute, und auch diese Regierung, noch nicht hingekriegt haben.
    Gabriel: So ist es. Also, wenn es darum ging, Privilegien zu beschneiden, dann ist wenig getan worden. Wenn es darum ging, bei den kleinen Leuten das Geld abzuholen, dann ist leider relativ manchmal sogar zu viel getan worden. Jetzt gibt es aber, das will ich schon noch mal sagen, von dem neuen Kommissionspräsidenten Juncker, anders als von seinem Vorgänger, das Angebot, auch in Wachstum zu investieren, die europäischen Fonds zur Verfügung zu stellen. Juncker hat selbst ein großes Programm angelegt für Investitionen in Südeuropa, von dem er sehr viel Geld nach Griechenland geben will. Aber das macht natürlich alles nur Sinn, wenn die Politik Griechenlands auch so organisiert ist, dass nicht jeden Tag neue Schulden hinzukommen.
    Und an der Stelle, finde ich, sagen die Europäer, sagt Frau Merkel, sagt Francois Hollande, sagt Jean-Claude Juncker, ihr müsst, wenn wir euch dieses Geld für Wachstum geben sollen, vorher dafür sorgen, dass nicht in euren eigenen Staatshaushalten ständig neue Schulden entstehen. Und ich finde, das ist schon ein angemessener Umgang damit. Und wenn er das nicht will, der griechische Regierungschef, dann lässt er eigentlich die ausgestreckte Hand sozusagen, ergreift er sie nicht, sondern betreibt eine sehr ideologische Politik. Und davon kann man ihm eigentlich nur abraten.
    EU-Flüchtlingspolitik ist eine Schande
    Zurheide: Nur die Frage ist ja, wie groß ist das Vertrauen in Europa, in die europäischen Institutionen angesichts der jüngeren Vergangenheit. Und ich könnte jetzt die Parenthese aufmachen und sagen, wenn man sich anschaut, was in der Flüchtlingspolitik passiert, kann man nicht allzu großes Vertrauen in Europa im Moment haben, oder?
    Gabriel: Also Griechenland, glaube ich, kann großes Vertrauen in Jean-Claude Juncker haben, das, glaube ich, bestreitet niemand. Was die Flüchtlingspolitik angeht, ich finde, es ist eine wirklich große Schande für die Europäische Union, dass hier eine Vielzahl von Staaten sagen, sie wollen keine Flüchtlinge aufnehmen. Das ist menschlich ein unfassbarer Vorgang, und ich glaube, dass das für die Zukunft der Europäischen Union die größte Gefahr ist.
    Wir erleben ja zurzeit eine Situation, wo zum ersten Mal nach Jahrzehnten europäischer Integration eher das Gegenteil passiert. Großbritannien überlegt, ob es austritt. Wir bekommen möglicherweise in Polen, einem großen europäischen Land, eine sehr europakritische Partei, in Dänemark, in Finnland sitzen sie in der Regierung, die Europakritiker, in Frankreich mit der rechtsradikalen LePen, die ist zurzeit in Umfragen die stärkste Partei. Wenn wir nicht aufpassen, dann zerstören wir in wenigen Jahren das, was unsere Eltern und Großeltern aufgebaut haben, nämlich einen fantastischen Kontinent, in dem zusammengehalten wird. Und die, die neu hinzugekommen sind, gerade auch die Osteuropäer, man muss das mal deutlich sagen, die können nicht erwarten, dass wir alle immer dann Solidarität leisten, wenn es darum geht, Geld für wirtschaftlichen Aufbau zur Verfügung zu stellen. Sondern sie müssen auch dann solidarisch sein, wenn es gilt, schwierige Zeiten der Union durchzuhalten. Und wir sind in schwierigen Zeiten.
    Wir können die Menschen nicht im Mittelmeer einfach ertrinken lassen. Wir tun alles, um in den Ländern wir Libyen und anderen Ländern dort zu helfen, in Syrien den Krieg einzudämmen. Aber viele, viele werden einfach flüchten aus bitterster Not mit ihren Kindern, weil sie vom Tod bedroht sind. Und es kann nicht wahr sein, dass Europa nicht zu einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik kommen, sondern sozusagen einige da alles tun und andere gar nichts tun. Das ist Handanlegen an die Wurzeln der Europäischen Union, und das dürfen wir nicht akzeptieren, werden wir Deutsche auch nicht akzeptieren.
    22 Millionen Tonnen CO2 werden eingespart
    Zurheide: Ich möchte doch zum Schluss des Gespräches dann kurz auf das Thema kommen, weshalb wir uns eigentlich verabredet hatten. Das war die Energiepolitik, auch wenn wir jetzt nur noch zwei, drei Minuten haben, Herr Gabriel. Noch mal die Grundfrage, was da im Moment passiert, bezogen auf die Kohlepolitik. Hat sich da, in der Kurzfassung, der Wirtschaftsminister Gabriel über den Umweltminister Gabriel durchgesetzt?
    Gabriel: Nein, das ist nicht so. Wir haben einen Vorschlag gemacht, den sogenannten Klimabeitrag, weil wir 22 Millionen Tonnen CO2 im Stromsektor zusätzlich einsparen mussten, das haben wir Ende letzten Jahres festgestellt. Wir haben damals übrigens die Unternehmen eingeladen und gefragt, wollen wir nicht gemeinsame eine Lösung suchen? Damals haben die Unternehmen Nein gesagt, sie haben gesagt, sie wollen gar nicht darüber reden. Und das fand ich, ehrlich gesagt, schon einen nicht ganz angemessenen Umgang. Dann haben wir gesagt, gut, dann machen wir auf jede Tonne CO2 ab einer bestimmten Größenordnung eine Abgabe. Dann wird es dazu kommen, dass insbesondere Braunkohlekraftwerke etwas weniger laufen. Dann haben uns Unternehmen und Betriebsräte gesagt, na, das wird eher dazu führen, dass wir die ganz abschalten müssen, und das bringt dann Strukturabbrüche und Arbeitslosigkeit in der Braunkohle. Und da habe ich gesagt, gut, wenn ihr das nicht wollt, dann macht eine eigene Alternative. Und dann haben die immerhin sieben Monate gebraucht, und jetzt liegt eine Alternative auf dem Tisch. Es ist übrigens dem nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister Garrelt Duin und dem Vorsitzenden der Gewerkschaft IGBCE, Michael Vassiliadis zu verdanken, dass es das gibt. Und die erreicht die 22 Millionen Tonnen auch.
    Zurheide: Da sind Sie ganz sicher? Da sind Sie sicher?
    Gabriel: Da habe ich keinen Zweifel, denn darin werden jetzt, statt dass CO2-Abgaben von allen gezahlt werden müssen, von allen Braunkohlekraftwerken, werden jetzt Kraftwerke stillgelegt. Das heißt, die Alternative zu einer Verteilung der Klimaabgabe auf alle Braunkohlekraftwerke ist die schrittweise Stilllegung von Braunkohle- und auch von Steinkohlekraftwerken. Damit erreichen wir die 22 Millionen Tonnen, und wir werden noch eine ganze Reihe Maßnahmen mehr machen im Bereich der Energieeffizienz.
    Zurheide: Ganz kurz, wenn ich da noch zwischengehen darf, eine Minute haben wir jetzt noch, das wir allerdings dann vom Steuerzahler bezahlt und nicht mehr von den Unternehmen. Ist der Vorhalt richtig oder falsch?
    Gabriel: Nein, der Vorhalt ist richtig. Beide Maßnahmen kosten Geld. Die einen wären über den Strompreis abgewickelt worden – also der Klimabeitrag hätte ja auch nicht dazu geführt, dass die Unternehmen ihn bezahlen, sondern der Stromkunde hätte ihn bezahlt. Und jetzt ist es so, dass wir Zuschüsse geben werden für eine ganze Reihe Maßnahmen, die auch außerhalb des Stromsektors laufen, also die 22 Millionen Tonnen werden jetzt zu fünf Millionen Tonnen durch Maßnahmen erbracht. Außerhalb des Stromsektors, die kosten Geld. Hat allerdings der private Kunde was. Der kriegt eine neue Heizungsanlage, wenn er das will, Wärmepumpenaustausch, Wärmedämmung. Und dann bleiben 16 Millionen Tonnen übrig, die müssen durch Stilllegung von Kraftwerken gebracht werden, Braun- und Steinkohle, das ist sozusagen der Nachteil, dass jetzt aus dem Bundeshaushalt auch Zuschüsse für den ...
    Zurheide: Wir laufen jetzt auf die Nachrichten zu, Herr Gabriel ...
    Gabriel: Ich muss es schon noch sagen, es zahlt nicht der Steuerzahler ...
    Zurheide: Ja, wir laufen jetzt auf die Nachrichten, deshalb müssen wir da jetzt hart dazwischengehen. Danke, tschüss, Herr Gabriel!
    Gabriel: Tschüs!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.