Susanne Luerweg: Der Name des Protagonisten Ihres Buches - Vernon Subutex - klingt für mich wie jemand, der vom Mars kommt, wie jemand aus einem Science-Fiction-Stück. Wie sind Sie auf den Namen gekommen?
Virginie Despentes: Ich habe den Namen als eine Reminiszenz an die 80er-Jahre erfunden, als wir jede Menge Artikel über Musik und die Punkbewegung geschrieben haben, und damals haben wir viele Namen erfunden. Aber es ist auch ein Name, den ich auf Facebook benutzt habe, weil ich aus ganz bestimmten Gründen dort sein wollte – aber nicht als Virginie Despentes, das war mir zu privat. Und dann habe ich nach einem Namen für meinen Protagonisten gesucht und gedacht: Okay, ich nehme meinen Facebook-Namen.
"Alles fühlt sich an, wie eine Ersatzdroge"
Luerweg: Aber ist Subutex nicht so etwas Ähnliches wie eine Ersatzdroge, wenn man heroinabhängig war?
Despentes: Ja, in Frankreich ist es sehr bekannt, weil es das Mittel war, das am häufigsten den Heroinabhängigen verschrieben wurde. Und Boris Vian hat unter dem Pseudonym Vernon veröffentlicht. Und ich hab diesen Namen genommen, weil er etwas von der Geschichte erzählt. Alles ist nicht so, wie es einmal war. Man nimmt Subutex statt Heroin, das ist ein wenig die These meiner Buchcharaktere. Alles fühlt sich ein bisschen an, wie eine Ersatzdroge - heutzutage.
Luerweg: Die Charaktere in Ihrem Buch "Vernon Subutex" scheinen ohnehin alle zu glauben, dass früher alles besser war.
Despentes: Ja, sie sind 40 oder Ende 40, und ich glaube, das ist ganz normal. Als ich jünger war, habe ich auch immer gehört, wie alte Leute sagten: "Zu meiner Zeit war alles besser!" Und plötzlich wachst du auf und bist auch nur noch von Leuten umgeben, die so etwas erzählen. Weil du einfach alt geworden bist.
Luerweg: Ihr Buch wird gerne als Gesellschaftskritik gelesen. Als Kritik an der französischen Politik. Sie haben es während der Regierungsjahre der Sozialisten geschrieben, zur Zeit von Francois Holland. Ist es also eine Kritik an dieser Ära?
Despentes: An dieser Ära und an der Zeit davor. Ich habe das Buch angefangen, als Nicolas Sarkozy noch an der Macht war, aber das war auch nicht besser. Wir sind einen sehr langen Weg gegangen, um dort zu landen, wo wir jetzt stehen. Deshalb ist es nicht wirklich eine Kritik, sondern ich wollte eher skizzieren, was ich sehe, wenn ich in Paris um mich blicke.
Abrechnung mit Macron
Luerweg: Jetzt ist Emmanuel Macron Präsident. In Deutschland und dem Rest von Europa denken viele, er sei der nette Mann von nebenan. Aber in Frankreich, wenn ich es richtig sehe, gibt es deutlich mehr Kritik an ihm. Sein Verhalten gegenüber Flüchtlingen ist wohl sehr hart, beispielsweise. Wie würden Sie die aktuelle Stimmung beschreiben?
Despentes: Meiner Meinung nach machen wir weiter wie bisher. Emmanuel Macron gehörte der Regierung von Francois Hollande an, und ich glaube, auf dem Weg geht es weiter. Und ich gehöre einer Gruppe von Leuten an, die glauben, dass uns dies direkt in die Katastrophe führt. Nicht nur wegen der Flüchtlingsdebatte, sondern auch, weil alles zerstört wird, was Frankreich einst zu dem gemacht hat, was wir schätzten. Seit Emmanuel Macron gewählt wurde, fällt mir keine Entscheidung ein, die er getroffen hat - oder kein Gesetz, das er verabschiedet hat -, das ich positiv bewerten würde, oder das zu irgendetwas Gutem führen würde. Das einzig Gute an Macron ist, dass er momentan weder Rassismus noch Antisemitismus schürt.
Zum Nachhören im englischen Originalton und in Langfassung:
das Corsogespräch XL mit Virginie Despentes
Luerweg: Am letzten Wochenende hat Marine Le Pen gesagt, dass sie den Namen ihrer Partei von Front National in Rassemblement National ändern will: neuer Name, neuer Inhalt?
Despentes: Wenn sie neue Inhalte hätte, dann würde sie es deutlicher sagen. Wenn Du am Eröffnungsabend Bannon aus Amerika einlädst, dann sagst du klar: Ich ändere meine Inhalte nicht. Aber es sieht so aus, als habe sich diese Front-National- oder Rassemblement-National-Geschichte bald erledigt. Und jetzt warten wir mal ab, wer die nächsten starken Köpfe der extremen Rechten sein werden. Vielleicht wird es noch schlimmer als unter Marine Le Pen. Marine Le Pen war nicht wirklich gut, sie war sowieso nur an der Spitze aufgrund ihrer familiären Verbindungen. Aber morgen kann vielleicht schon jemand aufsteigen, der sehr viel bessere Führungsqualitäten hat. Gleichzeitig mit den neuen Gesichtern, die bei der extremen Rechten auftauchen werden, die expliziter faschistisch sind, werden auch neue Gesichter bei den Linken in Erscheinung treten. Ich lebe viel in Spanien und beobachte dort den Aufstieg einer neuen politischen Linken, die ich wirklich sehr spannend finde. Und ich glaube, das ist auch bald in Frankreich möglich.
Feministin und Sexarbeiterin zugleich
Luerweg: Einer Ihrer Buchcharaktere ist ein Pornostar, Sie haben ebenfalls im Pornogeschäft gearbeitet. Eine vielleicht dumme Frage, aber ist es möglich, dort zu arbeiten und Feministin zu sein?
Despentes: Oh ja, man muss nicht Feministin sein, um dort zu arbeiten, aber genauso wenig umgekehrt. Aber ich glaube, die Dinge im Pornogeschäft haben sich in den letzten zehn Jahren sehr verändert, weil dort wirklich kein Geld mehr zu machen ist. Aber in den 80er-, 90er- Jahren, als ich Pornostars kannte, war es absolut möglich, Feministin zu sein. Und es gab eine große Bewegung, ausgehend von Amerika, von Pornogrößen wie Candida Royale und Annie Sprinkle. Sie machten es möglich, in den 90er-Jahren gleichzeitig eine Sexarbeiterin zu sein und starke feministische Meinungen zu vertreten.
Luerweg: Die #MeToo-Debatte wird in Frankreich mit einem etwas härteren Ausdruck formuliert: "Verpfeif' dein Schwein", heißt es. Und es gab diesen Brief von Catherine Deneuve und Catherine Millet, die sagten, ihnen sei die ganze Diskussion zu heftig. Wo positionieren Sie sich im Rahmen der Diskussion?
Despentes: Zuerst habe ich die Debatte namens "Verpfeif' dein Schwein" nie als verletzend empfunden. Und was die Reaktion von Catherine Deneuve und Catherine Millet betrifft: Ich verstehe die Angst vor einem aufkeimenden Puritanismus in den Künsten, aber es gibt etwas in diesem Brief mit dem ich absolut nicht einverstanden bin. Warum wurde er zum jetzigen Zeitpunkt gedruckt? Denn meiner Meinung nach hat das alles nichts mit dem tatsächlich zunehmenden Puritanismus in Frankreich zu tun. Es hat nichts mit den Frauen zu tun, die sich im Rahmen der #MeToo-Debatte geäußert haben. Ich hätte mich eher an die Kirche und die extreme Rechte gewandt. Der Brief, den sie geschrieben haben, kam mir vor, wie die Verteidigung sehr reicher Leute, die ihre Männer nicht bei der Polizei anzeigen wollten. Ich hätte ihn nicht unterschrieben. Ich finde, hier werden Reiche verteidigt, eine bestimmte Klasse.
Luerweg: Sie wurden hart kritisiert. Ihr Film "Baise moi" - fick' mich - wurde auf den Index gesetzt. Jetzt werden Sie als neue französische Stimme gefeiert. Fühlt sich das gut an?
Despentes: Es fühlt sich so an als wäre ich alt - aber es fühlt sich gut an, alt zu sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Virginie Despentes: "Das Leben des Vernon Subutex 2"
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 389 Seiten, 22 Euro.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 389 Seiten, 22 Euro.