Christiane Kaess: Am 4. März ist der frühere Doppelagent Sergei Skripal zusammen mit seiner Tochter Julia im südenglischen Salisbury bewusstlos auf einer Parkbank gefunden worden. Die beiden wurden mit dem Kampfstoff Novichok vergiftet, und weil der in der früheren Sowjetunion entwickelt wurde, geht die Regierung in London davon aus, dass Russland hinter dem Anschlag steckt. Moskau bestreitet das vehement und vermutet sogar andere Geheimdienste hinter der Tat.
Der Konflikt hat sich in den vergangenen Wochen massiv zugespitzt. Diplomaten wurden ausgewiesen, die Organisation für ein Verbot der Chemiewaffen in Den Haag wurde eingeschaltet, das Gift zu untersuchen. Ergebnisse sind noch nicht bekannt, aber in einem erhitzten Schlagabtausch zwischen London und Moskau fielen unter anderem die Wörter "Schwachsinn" und "pervers". In der vergangenen Nacht wurde zum zweiten Mal im UN-Sicherheitsrat über den Fall gestritten. Kai Clement berichtet.
Kai Clement berichtete aus New York, und mitgehört hat der britische Botschafter in Deutschland, Sir Sebastian Wood. Guten Morgen!
Sir Sebastian Wood: Guten Morgen!
Kaess: Herr Wood, hat Ihre Regierung in London sich zu schnell auf die These festgelegt, Russland stecke hinter dem Anschlag?
Wood: Nein. Es ist wichtig zu verstehen, dass es hier um ein Gesamtbild geht. Es ist nicht nur die Tatsache, dass wir wissen, dass dieses Nervengift von einem Typ ist, der ursprünglich in Russland entwickelt worden ist, sondern auch, dass unsere Nachrichtendienste wissen, dass die russische Regierung ein geheimes Programm des Novichok-Nervengifts behalten hat, dass sie sogar experimentiert haben, wie man kleine Mengen von Novichok am besten verabreichen kann, um Menschen zu töten, und dass Menschen wie Herr Skripal als Ziel betrachtet werden von dem russischen Staat und dass es sogar eine Vorgeschichte von staatlich unterstützten Morden gibt in Russland, und deshalb haben wir eine sehr klare Einschätzung, dass es höchstwahrscheinlich ein Anschlag im Auftrag des russischen Staates ist. Das ist nicht nur unsere Einschätzung, sondern auch von unseren Verbündeten.
"Wir haben unsere Belege mit unseren Verbündeten geteilt"
Kaess: Herr Wood, lassen Sie mich da einhaken. Sie sprechen jetzt wieder von höchstwahrscheinlich. Wenn die britische Regierung diese Belege hat, von denen Sie uns jetzt gerade erzählt haben, warum macht sie die nicht öffentlich?
Wood: Wir haben natürlich eine Verantwortung, die Sicherheit unserer Bürger zu verteidigen. Alle Regierungen in Europa und in der NATO haben diese Verantwortung, und deshalb musste es eine schnelle Reaktion geben. Es gibt sogar 28 Länder, nicht nur Großbritannien, sondern 28 Länder, die entschieden haben, russische Diplomaten auszuweisen.
Kaess: Aber Herr Wood, Entschuldigung -
Wood: Und damit wollten wir ein sehr klares Zeichen setzen, -
Kaess: Ja, aber ich habe Sie jetzt -
Wood: - dass es kein Weiter so geben kann.
Kaess: Das haben wir verstanden, aber ich habe Sie jetzt danach gefragt, warum diese Belege, von denen Sie sagen, die gibt es bei der britischen Regierung, die liegen ihr vor, warum sie die nicht öffentlich macht.
Wood: Wir haben unsere Belege mit unseren Verbündeten geteilt, und offensichtlich haben unsere Verbündeten diese Belege überzeugend gefunden, und vor der Öffentlichkeit haben wir gesagt, dass unsere Nachrichtendienste wissen, dass die russische Behörden früher experimentiert haben, wie man dieses Nervengift am besten einsetzt, um Menschen zu töten. Also die Belege sind klar genug. Wir haben eine starke Einschätzung, dass es höchstwahrscheinlich ein Anschlag des russischen Staates war, und deshalb mussten wir alle gemeinsam reagieren.
Es geht hier um ein etabliertes Verhaltensmuster der russischen Regierung. Wir haben Hackerangriffe auf unsere Ministerien gesehen, wir haben Diebstahl von Daten gesehen, Einmischung in unsere Politik und Wahlen, Verbreiten von Fake News, um unsere Gesellschaften zu spalten und sogar Hass zwischen unseren Gemeinden zu schüren.
Kaess: Herr Wood, das hat aber jetzt nichts mit dem Fall Skripal zu tun.
Wood: Und deshalb müssen wir ein gemeinsames Zeichen setzen, und das ist gut, dass wir diese Zeichen jetzt gesetzt haben.
"Das ganze Bild ist überzeugend"
Kaess: Gut, das haben wir verstanden, aber was Sie jetzt aufgezählt haben, das hat ja per se erst mal nichts mit dem Fall Skripal zu tun. Wenn der Chef des untersuchenden Labors in Porton Down sagt, er kann nicht sagen, ob das Gift in Russland hergestellt wurde. Wenn es so einfach ist für die Regierung, wie es anscheinend war, das zu belegen, dass das Gift aus Russland kommt, müssten es die Experten aus dem Labor dann nicht erst recht wissen?
Wood: Er hat bestätigt, dass dieses Nervengift vom Novichok-Typ ist, also ein Typ, das ursprünglich in russischen Laboren entwickelt worden ist und dass es auch ein Nervengift von militärischer Qualität ist, und wie ich schon gesagt habe, geht es hier um ein Gesamtbild.
Wir wissen schon, dass der russische Staat Menschen wie Skripal als Ziele betrachtet, es gibt diese Vorgeschichte von staatlich unterstützten Morden, und wir wissen schon, dass die russischen Behörden experimentiert haben, wie man dieses Nervengift am besten einsetzt, um Menschen zu töten. Also das ganze Bild ist ganz überzeugend, muss ich sagen, aber es geht hier um ein Verhaltensmuster von der russischen Regierung. Das muss man auch verstehen.
"Klarer Vorstoß gegen die Chemiewaffenkonvention"
Kaess: Das Argument der russischen Seite ist ja, dass alle Kampfgiftstoffe aus Sowjetzeiten im letzten Jahr vollständig vernichtet worden sind, und zwar unter der Kontrolle von ausländischen Experten, auch Experten aus Großbritannien. Dann hätten die einen Fehler gemacht.
Wood: Nach unserer Ansicht ist das falsch, völlig falsch. Unsere Nachrichtendienste wissen, dass es dieses Geheimprogramm vom Novichok-Giftstoff gibt, was die russische Regierung nie offengelegt hat. Es wäre ein guter erster Schritt für die russische Regierung, dieses Programm offenzulegen, weil es ein klarer Vorstoß gegen die Chemiewaffenkonvention ist.
Fall Litwinenko
Kaess: Der Öffentlichkeit, Herr Wood, fehlen dennoch nach wie vor die Belege, und auch im eigenen Land gibt es da unterschiedliche Stimmen dazu. Der oppositionelle Labour-Chef Corbyn, der wirft Außenminister Johnson vor, dass er entweder nicht all sein Wissen preisgebe oder übertreibe, und andere Labour-Politiker, die sprechen von Irreführung der Öffentlichkeit. Verliert Ihre Regierung so langsam die Glaubwürdigkeit im eigenen Land?
Wood: Überhaupt nicht, und der Außenminister und die Premierministerin, sie haben mehrmals betont, dass es um ein Gesamtbild geht, wie ich schon beschrieben habe. Ich werde mich nicht wiederholen.
Und bitte vergessen Sie nicht, dass es frühere Fälle gegeben hat, wie der Fall von Herrn Litwinenko, ein berühmter Gegner der Regierung in Moskau, der 2006 vergiftet worden ist in unserem Land, auf britischem Boden, mit einer radioaktiven Substanz. Die Polizei hat damals alles sehr sorgfältig untersucht, es gab sogar eine glühende Spur von Polonium vom Hotel, wo der arme Mann vergiftet worden ist durch die Stadt bis hin zum Flughafen, und dann in einem Flieger, der nach Moskau geflogen ist, und es gab zwei Verdächtige. Die russische Regierung war natürlich nicht bereit, diese zwei Männer auszuliefern, und einer von ihnen ist sogar jetzt ein Abgeordneter im russischen Parlament. Also das zeigt, was zu erwarten ist, wenn man sozusagen die Zusammenarbeit der russischen Regierung erwartet.
"Kein Weiter so für die russischen Geheimdienste"
Kaess: Herr Wood, sagen Sie uns noch kurz zum Schluss - denn wir laufen auf die Nachrichten zu -, sagen Sie uns noch kurz zum Schluss, was Sie glauben, wie die Chancen sind, dass sich das britisch-russische Verhältnis normalisiert.
Wood: Wir hoffen natürlich, dass es in der Zukunft möglich sein wird, ein besseres Verhältnis mit Russland zu haben. Wir haben überhaupt keinen Streit mit der russischen Bevölkerung. Wir schätzen sehr die Verbindungen zwischen unseren Bevölkerungen, und deshalb sind unsere Maßnahmen und die Maßnahmen unserer Verbündeten angemessen. Wir haben versucht, weil wir …
Kaess: Und diese Solidarität fordern Sie auch weiter ein?
Wood: Es kann kein Weiter so für die russischen Geheimdienste auf unserem Boden in Europa geben, und deshalb haben wir versucht, das Netzwerk der russischen Geheimdienste in unseren Ländern zu lähmen und zu zerlegen. Es ist gut so, aber wir wollen die legitimen Aktivitäten zwischen unseren Bevölkerungen nicht beschädigen.
Kaess: Sagt der britische Botschafter in Deutschland, Sir Sebastian Wood. Herr Wood, vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen!
Wood: Danke schön!
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