In unserer Zeit, die den endgültigen Niedergang des Zirkus erlebt, ist die Tradition des Clownesken weitgehend erloschen oder in eine Art sterilisiertes Kindertheater verbannt. Sie florierte seit der Antike und hatte noch bis zum Ersten Weltkrieg in den Metropolen ein dankbares Massenpublikum und viele Verehrer unter den Ästheten; in der Zwischenkriegszeit feierte sie dann auf der Bühne und in der Manege noch ein paar Triumphe, zeigte aber vor allem in einer letzten hektischen - schwarz-weißen - Blüte im Film, was sie konnte. Für uns von ferne historisch greifbar ist ihr erster schöner Höhepunkt in der Commedia dell’arte des 17./18. Jahrhunderts, von der sich nach mancherlei Veränderungen die klassischen Formen des Zirkusclowns herleiten; der zweite Gipfel ist das Slapstick-Kino seit 1914 bis in die 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts.
Joachim Kalka, Essayist und Übersetzer, veröffentlichte 2016 "Der Mond" im Berenberg-Verlag und soeben bei Reclam in der Reihe "Hundert Seiten" "Peanuts".
Das gesamte Manuskript zum Nachlesen:
Sprecher: Der Slapstick ist für uns der Hauptschlüssel zu einer verschollenen Komödientradition. Das rasche, überraschungsreiche, brutal und wunderbar komische Kino beginnt 1914 und erreicht seinen Höhepunkt in den zwanziger Jahren, vor Beginn des Tonfilms.
Sprecherin: Der "Slapstick" ist ein leichter Theaterknüttel, der maximales Geräusch mit minimaler Körperwirkung verbindet. Diese clowneske, kasperletheaterhafte, mit Pritschen und Stöcken zuschlagende Bühne florierte seit der Antike und hatte noch bis zum Ersten Weltkrieg in den Metropolen ein dankbares Massenpublikum und viele Verehrer unter den Ästheten; in der Zwischenkriegszeit feierte der Slapstick dann auf der Bühne und in der Zirkusmanege noch ein paar Triumphe, zeigte aber vor allem in dieser letzten hektischen Blüte im Film, was er konnte.
Sprecher: Gelegentlich macht das Kino dann später liebevolle kleine Huldigungs-Verbeugungen vor dieser vergangenen Tradition: Woody Allen rutscht in Sleeper auf einer zwei Meter langen Bananenschale aus. Aber beugen wir uns über den Slapstick wie über ein historisches Modell.
Sprecherin: Von ferne greifbar ist der Höhepunkt dieser Tradition in der Commedia dell’arte des siebzehnten-achtzehnten Jahrhunderts, von der sich nach mancherlei Veränderungen die klassischen Formen des Zirkusclowns hergeleitet haben. Die Commedia war ein Grotesktheater der rituell festgelegten Nummern und Gebärdenspiele, der sogenannten lazzi, bei denen die Originalität des Schauspielers in der überraschenden Variation des Vorgegebenen lag, der originellen Verkörperung einer fixen Rolle. Dieser clowneske Zug wirkt lange im Volkstheater fort.
Das bewundernde Lachen der Zuschauer
Sprecher: Der Slapstick-Film, mittlerweile unsere nahezu einzige bildkräftige Quelle für diese Tradition, beerbte das Grotesktheater der Music Hall, des Vaudeville und des Varietés in England, Frankreich und den USA. Der frühe Film bewahrt allgemein noch die Erinnerung an seine Ursprünge im Zaubertheater und Jahrmarktszelt auf; ein Slapstickfilm wie Chaplins A Night in the Show aus dem Jahr 1915 führt die Verbindung zur Music Hall geradezu zärtlich vor.
Sprecherin: Das Archaische dieser Tradition zeigt sich unter anderem im Verzicht auf einen irgendwie psychologisch wandelbaren "Charakter"; die Slapstickgestalten sind unveränderlich wie Marionettenfiguren oder Sammelbildchen, was sie mit den Comicfiguren verbindet, die ja teilweise noch einige Jahrzehnte später das lustvoll rüpelhafte Wesen dieses Genres beibehalten – wenn Donald Duck und Gustav Gans sich à la Slapstick prügeln.
Sprecher: Dem Unveränderlichen, Statischen, Maskenstarren einer Slapstick-Figur antwortet das Feuerwerk der Handlung, das zappelnde Überraschungspotential ihrer Aktionen. Hier entfaltet sich ein brutales, naives Verhältnis zur Welt und zur Mitwelt der anderen Menschen, wo alles unbekümmert in den Dienst des eigenen Vergnügens oder der eigenen Zwangslage genommen wird, oft mit einem schier unglaublichen Geschick.
Sprecherin: Die Fähigkeit, sich mit genialem Opportunismus aller Zufallsgegebenheiten zu bedienen, ruft im Slapstickfilm etwas Seltenes hervor: das bewundernde Lachen der Zuschauer. Walter Benjamins berühmtes Diktum‚ dem Fassadenkletterer müssen alle Ornamente zum besten dienen’, bewährt sich in dieser Slapstick-Welt. Hier kann ein herumliegendes Objekt, ein vorüberkommender Passant zum Werkzeug werden, zum Schemel, zum Wurfgeschoß, zur Barrikade, zum Paravent.
Sprecher: So erfinderisch die blitzschnellen Zugriffe der Slapstick-Schauspieler sind – viele der von ihnen geschaffenen Figuren haben trotz allem auch etwas von der verträumten Stasis der berühmtesten Commedia-dell-arte-Figur, des Pierrots. Die perfekte Synthese aus dieser leer lächelnden Starre und dem Desaster eines falschen Griffs ist die Kunstfigur Stan Laurel. Ähnlich führt Karl Valentin das mit seinem reglosen Gesicht und seinen katastrophal dynamischen Handlungen vor.
Phänomene des Komischen
Sprecherin: Obwohl die massive Gewalt in Slapstick-Filmen keine wirklichen Verletzungen hervorbringt, hat sie eine gewisse Schockwirkung. In den frühen Kurzfilmen von Chaplin beispielsweise findet sich ein erstaunliches Maß an Andeutungen libidinöser Gewalt, wenn Chaplin einen Antagonisten beißt. Die ritualisierten Hiebe des Genres gehören zu einer Gewaltkomik des Automatenhaften. Manche philosophischen Ästhetiken - von Bergson bis Freud - bringen das Phänomen des Komischen mit dem Bewusstlosen, dem wie Maschinellen einer menschlichen Handlung in Verbindung. Man könnte sich hier eine Unzahl von Belegen besorgen. Sehr schön hat Karl Kraus über diese Automatenhaftigkeit geschrieben, auf ein paar Seiten über die Grotesk-Clowns des Kabaretts, ein knappes Jahrzehnt vor dem klassischen Slapstickfilm. Der Text heißt "Bekannte aus dem Varieté" und erschien in der Fackel im Oktober 1909.
Sprecher: Nur ein schmales Plätzchen ist dem Varieté geblieben, um seinen Spiegel aufzustellen, der die großen Sonderbarkeiten des Lebens reiner spiegelt, als das Theater die kleinen Regelmäßigkeiten.
Sprecherin: Dieser Aufsatz widmet sich den Akrobaten und dem Jongleur, befasst sich jedoch sich vor allem mit jener Clownerie, die wir unter dem Namen des Slapstick kennen. Deren Praktikanten damals trugen einen anderen, ebenfalls charakteristischen Namen: die Knockabouts.
Sprecher: Dass zwei übereinander purzeln und auf die Nase fallen, das ist ein Humor, zu derb für unseren Geschmack und zu dürftig für unseren Verstand. Wir sagen, es sei ein kindisches Spiel, weil seine tiefere Bedeutung uns beleidigt. Ein Humor, so grundlos wie wir selbst. Nichts stellt er dar als uns selbst. Also alles, was wir nicht wissen…
Sprecherin: Die Knockabouts treten auf… "Aoh, lieber Freund, was machen Sie hier?" beginnt es, und mit Püffen und Knüffen endet es. Am Hintern seines Nächsten entzündet einer sein Streichholz. So ist das Leben. Einer will Bier trinken: Da bohrt er seinen besten Freund an und hält ein Gefäß unter die so entstandene Öffnung. Was ist der Mensch! Taugt er zur Maschine nicht, mag er kaputt gehen. Wir voltigieren über alle Widerstände der Materie, wir schwingen uns in die Luft, nichts scheint uns unerreichbar, und am Ende wären wir wirklich die Sieger über das Leben, wenn wir nicht im letzten Moment über einen Zahnstocher stolperten.
Sprecher: Der Knockabout – das ist der Triumph der maschinellen Kultur. Hurtigkeit, die nicht vom Fleck kommt, Zweckstreberei, die ein Loch in die Luft macht. Der Komfort aber ist mit aller Humanität der Neuzeit ausgestattet, und wenn es praktisch ist, einem Menschen den Schädel einzuschlagen, so ist es doch wieder feinfühlig, ihn zu fragen: "Haben Sie das bemerkt?"
Er könnte es übersehen haben, denn im Gemetzel der Automaten fließt kein Blut. Der Knockabout stellt uns alle zusammen dar… Er hat einen praktischen Zweck im Auge und ist bereit, ihm alle unwichtigeren Interessen unterzuordnen. Wenn‘s finster wird, zündet er das Haus an, um sich bei der Lektüre nicht die Augen zu verderben. Er ist durchaus der Mann der Resultate.
Kultureller Kontext der Vulgarität
Sprecherin: Kraus hatte diese Sphäre schon einige Monate zuvor im Mai 1909 in der Fackel berührt. In einer Tagebuch-Glosse heißt es:
Sprecher: Die Leute schlagen einander mit der Hacke auf den Schädel und fragen zartfühlend: Haben Sie das bemerkt?
Sprecherin: Die Komik dieses unangemessenen Satzes ist so etwas wie die Grundchiffre des Knockabout-Erlebnisses bei Karl Kraus. Dann folgt bereits die Beobachtung:
Sprecher: Es ist ein unaufhörliches Gemetzel der Maschinen, bei dem kein Blut fließt. Das Leben hat einen Humor, der über Leichen geht, ohne wehzutun. Warum diese Gewalttätigkeit? Sie ist bloß eine Kraftprobe auf die Bequemlichkeit. Man drückt auf einen Knopf, und ein Hausknecht stirbt.
Sprecherin: Der infantilen Verliebtheit ins Aggressive entsprechen auf dem Volkstheater vulgäre und laszive Züge. Sie bleiben in den Filmen der Zensurfurcht wegen weitgehend unsichtbar, aber gelegentlich brechen sie mit kindlich-kindischer Begeisterung hervor. Chaplin hat mit hübscher Frechheit die lange Szene des Teetrinkens in der Pfarrerswohnung in Modern Times so inszeniert, dass in dem schon teilweise mit dem Ton arbeitenden Film aus dieser wohlanständigen Handlung eine einzige Symphonie von Magengeräuschen wird.
Sprecher: Es ist überhaupt wichtig, bei diesen Filmen den kulturellen Kontext der Vulgarität zu sehen – vulgus, die Volksmenge: eine Qualität des volkstümlich Groben, Unanständigen, Subversiven. Die frühen Filme, zu denen man "Films" sagte lange noch in Deutschland – wurden in Buden, in Zelten, in den Hinterzimmern von Gastwirtschaften gezeigt. Das Kino entstammt einer Sphäre des Tingeltangel, entstammt der Jahrmarktsbude, es bildet sich heraus zwischen Akrobaten, halbnackten Girls, dicken Damen und Athleten.
Sprecherin: Einer der wichtigsten Lyriker des Expressionismus, Jakob van Hoddis, hat 1911 in der Zeitschrift Sturm einen zehnteiligen Gedichtzyklus mit dem Titel "Varieté" veröffentlicht, der dem Kino seinen Platz anweist. Das erste Gedicht aus dem "Varieté" heißt "Loge" und beginnt:
Sprecher: Ein Walzer rumpelt, geile Geigen kreischen
Die Luft ist weiß vom Dunst der Zigaretten
Es riecht nach Moschus, Schminke, Wein, nach fetten
Indianern und entblößten Weiberfleischen.
Die Luft ist weiß vom Dunst der Zigaretten
Es riecht nach Moschus, Schminke, Wein, nach fetten
Indianern und entblößten Weiberfleischen.
Sprecherin: Hier wird der Grundakkord angeschlagen: der des Vulgären, Trivialen, Erregenden. Es folgen Nummern wie "Der Athlet", "Der Humorist", "Die Inderin", "Die Soubrette", "Lebendes Bild" und dann als zehntes Varieté-Stück "Schluss: Kinematograph." Nach den verschiedensten artistischen Bühnenauftritten folgt also eine Kinoaufführung.
Der klassische Slapstickfilm ist stumm
Sprecher:
Der Saal wird dunkel. Und wir sehn die Schnellen
Der Ganga, Palmen, Tempel auch des Brahma,
Ein lautlos tobendes Familiendrama
Mit Lebemännern dann und Maskenbällen.
Man zückt Revolver, Eifersucht wird rege,
Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf.
Dann zeigt man uns mit Kiepe und mit Kropf
Die Älplerin auf mächtig steilem Wege.
Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht –
Flirrt das hinein, entsetzlich! Nach der Reihe!
Die Bogenlampe zischt zum Schluss nach Licht –
Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie.
Der Saal wird dunkel. Und wir sehn die Schnellen
Der Ganga, Palmen, Tempel auch des Brahma,
Ein lautlos tobendes Familiendrama
Mit Lebemännern dann und Maskenbällen.
Man zückt Revolver, Eifersucht wird rege,
Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf.
Dann zeigt man uns mit Kiepe und mit Kropf
Die Älplerin auf mächtig steilem Wege.
Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht –
Flirrt das hinein, entsetzlich! Nach der Reihe!
Die Bogenlampe zischt zum Schluss nach Licht –
Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie.
Sprecherin: Bei van Hoddis zeigt der Kinematograph in wirrem Durcheinander "Kulturfilme" über Indien und die Alpen, Melodrama und groteske Komik, "lautlos tobend".
Sprecher: Der klassische Slapstickfilm ist stumm; ebenso die ihm vorhergegangene Pantomimenbühne. Deren Schauspieler sagen nichts, ihre Komik ist prä-verbal. Das Slapstick-Kino arbeitet gelegentlich erfinderisch mit der Schrift - Komik entsteht aus zufällig verdeckten Warntafeln, vertauschten Straßenschildern oder Hotelzimmernummern. Doch die Sprache, die in den Zwischentiteln des Stummfilms auftaucht, spielt keine bedeutende Rolle.
Sprecherin: Der Kino-Slapstick der zwanziger Jahre ist die letzte große Erscheinungsform einer uralten Theatertradition, die nach und nach dem "Prozess der Zivilisation" zum Opfer gefallen ist. Die Verjagung des Harlekins vom deutschen Theater durch den Sprachforscher und Dramaturgen Gottsched ist eine markante Zäsur in diesem Prozess; Justus Möser hat 1777 mit der Schrift Harlekin oder die Verteidigung des Grotesk-Komischen vergeblich dagegen protestiert. Der gute Geschmack hat ganz allgemein kein Sensorium mehr für die volkstümlichen Techniken, die ihm nur primitiv erscheinen. Der große Altphilologe Eduard Norden schreibt in einer Abhandlung über Die römische Literatur aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts über den altrömischen Komödiendichter Plautus völlig aus der Perspektive eines solchen Geschmacksurteils: Plautus habe die griechischen Vorbilder verflacht.
Sprecher: Nur zu oft schädigt er deren feine Natürlichkeit durch aufdringliche Possenreißerei, ihre urbane Eleganz durch rustikale Derbheit, zerdehnt Motive zu unerträglicher Breite, verdirbt die Charakteristik der auftretenden Personen, zerreißt, nur auf momentane Wirkung bedacht, den feingesponnenen Faden der Handlung und zerstört die wohldurchdachte Ökonomie, indem er die Originale entweder aufschwellen oder zu lose aneinandergereihten Szenen einschrumpfen lässt.
Sprecherin: Das liest sich wie eine Musterkarte der typischen Züge jener volkstümlichen Komik, über die man die Nase rümpft: Aufdringlichkeit, Krassheit, Breite, Anti-Psychologie, Betonung des Augenblicks, Zersetzung der Handlungslogik. Also, summa summarum, etwas sehr Modernes. Tatsächlich hat das moderne Theater seit Alfred Jarrys König Ubu über Brechts Mann ist Mann bis zu Artaud und Beckett immer wieder auf Züge dieses Grotesktheaters zurückgegriffen. Denn das Groteske ist ein Modus der unbekümmerten Transgression – doch ist diese Grenzüberschreitung nicht pathetisch, sondern naiv.
Reflexhaftes Lachen
Sprecher: Der Slapstick ist der unbekümmerte Widerstand gegen das Realitätsprinzip, ein Einspruch, der auf diese Weise wohl nur an einem bestimmten historischen Punkt formuliert werden konnte, der aber immer noch in unserem "befreiten" Gelächter beim Anblick der alten Filme nachhallt.
Sprecherin: Wir lachen im Kino auch reflexhaft, wenn jemand hinfällt. In dem schönen Laurel-und-Hardy-Film "Brats" rutscht Ollie einmal schmerzhaft die Treppe hinunter. Unten rutscht wiederum Stan auf dem Rollschuh aus, der Ollie zu Fall gebracht hatte – der Rollschuh trifft die Hauskatze, die sich maunzend unter ein Möbelstück flüchtet.
Sprecher: Als ich diesen Film einmal im Kino in einer Kindervorstellung sah, lachte alles hysterisch bei Ollies Katastrophe; die darauf folgende kleine Szene ließ ein Kind mitleidig und vernehmlich sagen:
"Oooh – die arme Katze!"
Sprecherin: Der Unterschied, der hier gemacht wurde, ist interessant: Den Menschen kann man wie ein Objekt belachen, das Tier nicht. Es "spielt" ja auch nicht mit.
Das grandios Unbekümmerte der Gewalttätigkeit in diesen Filmen ist sehr komisch, hat aber auch etwas nicht ganz Geheures, eine leichte Unheimlichkeit auf dem Grunde der Komik. Man könnte hier ein analoges Phänomen heranziehen: Die Brutalität des Kasperletheaters wird in seiner englischen Version, der Punch-and-Judy-Show, bei näherem Hinschauen augenfällig und sinister. Fürst Pückler schreibt von einer Englandreise 1826 über die englische Kasperle-Figur, den Punch:
Sprecher: Er ist der gottloseste Komiker, der mir noch vorgekommen, und so komplett ohne Gewissen, wie das Holz, aus dem er gemacht ist, und ein wenig auch die Klasse der Nation, welche er repräsentiert.
Sprecherin: Was sich hinter dem einverständigen Gelächter verbirgt, wenn Punch seinen Stock auf einen Kopf nach dem anderen niedersausen lässt und das ganze Personal der Puppenbühne umbringt, zeigt überraschend eine Gespenstergeschichte. Der Meisters dieser Gattung, Montague Rhodes James, hat sie 1919 in der Sammlung A Thin Ghost and Others veröffentlicht; sie trägt den Titel "The Story of a Disappearance and an Appearance", die Geschichte von einem Verschwinden und einem Erscheinen. Der Erzähler, der in einer Reihe von Briefen an seinen Bruder von den zunächst vergeblichen Versuchen berichtet, in einem Landstädtchen das rätselhafte Verschwinden ihres Onkels aufzuklären, erzählt in einem dieser Briefe einen Traum, den er hatte - den Traum von einer Punch-and-Judy-Vorstellung.
Sprecher: Es saßen Leute - nur ein paar - zu meinen beiden Seiten, aber ich erkannte sie nicht, und dachte dann auch nicht weiter an sie. Der kleine Vorhang flog nach oben, und das Drama begann.
Ich glaube, jemand hat einmal versucht, Punch and Judy als ernste Tragödie umzuschreiben; wer es auch gewesen sein mag, diese Vorstellung hätte ihm ganz und gar entsprochen. Es war etwas Diabolisches an der Gestalt des Helden. Er variierte seine Angriffsmethoden – manchen seiner Opfer lauerte er auf, und wenn man sein fürchterliches Gesicht sah (es war gelblich-weiß, muss ich hier sagen), dachte man an den Vampir in Füsslis schlimmem Bild. Das Niederkrachen des Prügels auf den Köpfen, das mich normalerweise entzückt, war hier ein knirschendes Geräusch, als gäbe der Schädel nach, und seine Opfer zuckten und zappelten, wie sie dalagen. Die Bühne wurde bei jedem Verbrechen merklich dunkler, und endlich kam es zu einem Mord, der ganz im Dunklen geschah, so dass ich nichts von dem Opfer sehen konnte und einige Zeit brauchte. Er wurde begleitet von schwerem Atmen und schrecklichen gedämpften Lauten, und anschließend kam Punch heraus und setzte sich auf die Bühnenkante und fächelte sich Luft zu und betrachtete seine Schuhe, die blutig waren, und dann legte er den Kopf auf die Seite und lachte auf eine so tödliche Weise vor sich hin, daß ich einige der Leute neben mir ihr Gesicht verhüllen sah, und nur allzu gerne dasselbe getan hätte.
Abgesehen von der offenen Gewalttätigkeit wird der Mensch in allen möglichen Slapsticksituationen zum Objekt. Oder er macht sich dazu. Als Harold Lloyd, ein kleiner Kaufhausangestellter, in Safety Last zu spät kommt, lässt er sich (im hastig improvisierten Damenkostüm) als Schaufensterpuppe ins Warenhaus tragen, um die Kontrolle zu umgehen. Als Buster Keaton in Seven Chances möglichst rasch heiraten muss, um eine Erbschaft nicht zu verlieren, macht er reflexhaft einer Dame in einem Friseurladen einen Antrag. Der Friseur kommt und nimmt der Dame den Wachskopf ab: Es war eine Puppe. Keaton beginnt irritiert am nächsten Damenkopf herumzuschrauben – empört schreit dessen Besitzerin auf. Die Symmetrie eines solchen Doppelgags bezeichnet, wie verwechselbar wir mit bloßen Gegenständen sind.
Experimentelle Zerstörungslust gehört dazu
Sprecher: Es gibt andererseits eine Glückskomik in den Slapstickfilmen, die glückliche Variante der unvorhersehbaren Zufälle des Gegenständlichen. Zwei Szenen dieses Kinos mögen das klarmachen. Die glückhafte Phantasie, daß alle Gegenstände einem zu Diensten sind, erscheint "passiv", als souveränes 'Glück haben', in Keatons Steamboat Bill Junior: Als die abreißende Vorderfront eines Hauses im Hurrikan auf Keaton stürzt, umrahmt sie ihn, der unverletzt und reglos stehen geblieben ist, nur gleichsam zärtlich mit der Öffnung des obersten Fensters. Es kann einem nichts geschehen.
Sprecherin: Und als aktive, glückliche Beherrschung der Objektwelt können wir Charlie Chaplins Brötchentanz im Goldrausch nehmen: Er führt , im Traum, mit traumhafter Leichtigkeit, eine kleine Pantomime auf der Tischkante vor, zwei auf Gabeln gespießte Brötchen werden zu tanzenden Füßen. Ein solches Glück, in dem Gabeln und Brötchen uns umtanzen, ersehnen wir wie die Kinder. Wie Hal Roach bemerkt hat:
Sprecher: Tatsächlich repräsentieren oder porträtieren die größten Komiker Kinder oder das, was Kinder tun. Wenn Chaplin sich selbst mit seinem Spazierstock gegen den Hinterkopf schlägt und dann herumfährt, um zu sehen, wer ihn geschlagen hat, ist das die Handlungsweise eines Kindes.
Sprecherin: Die lange Ehrenliste der verschollenen "Clownsfürsten", wie ein Kenner liebevoll schrieb, enthält eine schier endlose Reihe von halb und ganz verschollenen Namen. Sie waren einmal berühmt - Snub Pollard, Fatty Arbuckle, Ben Turpin oder Larry Semon. Bei allen verbirgt sich hinter einem plakativen Hauptzug ihrer Maske, die aus der Korpulenz, dem Schielen, dem kindischen Gesicht besteht, eine bemerkenswerte schauspielerische Darstellungskraft.
Sprecher: Wen kennen wir heute noch? Laurel und Hardy, die nach und nach den törichten deutschen Namen "Dick und Doof" abgestreift haben; Buster Keaton, der seine Welt mit unwandelbar regloser Miene souverän regiert; Chaplin. Möglicherweise ein, zwei Auftritte von Harold Lloyd und Harry Langdon. Manche einstige Berühmtheiten der Slapstickkomik kennen wir vielleicht aus Nebenrollen in den Filmen der Bekannteren – etwa den wunderbaren Charley Chase, der in dem Laurel-und-Hardy-Film Die Wüstensöhne Stan und Ollie beim Jahrestreffen in Chicago als unwiderstehlich aufdringlicher Vereinsmeier begrüßt. Ein solcher Komiker hat aber Dutzende eigener Filme gemacht, in manchen Fällen an die hundert, in der kurzen Blütezeit, ehe der Zeichentrickfilm und das Format des Double Feature mit zwei langen Filmen an einem Abend der comedy short, der kurzen Komödie, den Raum im Kino wegnahmen.
Sprecherin: Oft treten die Figuren des Slapstickfilms einem Objekt mit der voraussetzungslosen Neugier eines Kindes oder eines Außerirdischen gegenüber. Eine klassische Formulierung findet sich in dem im Oktober 1916 gedrehten The Pawnshop, einer der großartigsten Episoden im Werk Chaplins. Charlie nimmt als Angestellter einer Pfandleihe einen Gegenstand zur Prüfung entgegen, den ein Kunde beleihen möchte – es handelt sich um eine große, massive Weckeruhr. Diese Uhr unterwirft Chaplin nun einer Reihe von Manipulationen, deren Repertoire beim ersten Ansehen schier unerschöpflich wirkt – er untersucht sie wie ein Arzt, hört sie ab, testet sie mit dem Reflexhammer, macht sie dann mit dem Büchsenöffner auf und verfährt mit den Innereien wie ein Zahnarzt, ein Klempner, ein Juwelier mit der Lupe, beruhigt die hin- und her rollenden und -springenden Rädchen und Federn mit hastig aufgespritztem Öl, hämmert, analysiert und reicht die Uhr dann nach einer eleganten Abfolge ebenso subtiler wie brutaler Eingriffe kopfschüttelnd in Stücken zurück.
Sprecher: Die experimentelle Zerstörungslust gehört zum urereigensten Bestand dieser Form von Komik. Ebenso die ingeniöse Brutalität der zwischenmenschlichen Manipulation, die den anderen plötzlich zur Schubkarre zweckentfremdet oder ihn zum situativ unvermeidlichen Fußschemel erniedrigt, in einer Filmwelt, die überall eine Gelegenheit bietet, den Mitmenschen wie einen Gegenstand zu malträtieren. Und er muss es sich, der Situationslogik wegen, gefallen lassen: In The Circus wird Chaplin, der Vagabund, von einem kleinen Ganoven über den Jahrmarkt verfolgt; als beide an der Fassade einer Bude, wo sich mechanische Puppen bewegen, miteinander zu raufen beginnen, bemerken sie, dass ein Polizist hersieht. Sie nehmen rasch das Wesen zweier Fassadenautomaten an, tun so, als gehörten sie in die Puppendekoration, und Chaplin schlägt in rhythmischen Abständen seinen Antagonisten auf den Kopf, um dann ruckartig den Kopf in den Nacken zu werfen und den Mund zu einem stummen Gelächter aufzureißen. Der andere darf sich unter dem ratlos-argwöhnischen Blick des Polizisten nicht rühren und leidet die Schläge, bis er bewusstlos umfällt.
Sennet - der avancierte Komikfabrikant
Sprecherin: Im Slapstick des amerikanischen Kinos lassen sich zwei Schulen unterscheiden, die man mit den Namen der Regisseure Mack Sennett und Hal Roach in Verbindung bringen könnte. Sennett ist der Choreograph der entfesselten wilden Jagd durch Gebäude und Städte, bei der die groteske Polizeitruppe der Keystone Kops in ihrem Auto, vor dem sich Passanten mit entsetzten Sprüngen retten, um Straßenecken wirbelt.
Überhaupt enden unzählige Filme dieses Typus mit einer hektischen Verfolgungsjagd. Roach dagegen führt seine Figuren – etwa Laurel und Hardy – in eine eher statische, mit hundert Möglichkeiten der Verwicklung ausgestattete Peinlichkeitssituation "und sieht", wie Raymond Durgnat trocken bemerkt, "ihnen methodisch dabei zu, wie sie nicht wieder herauskommen".
Sprecher: Sennett scheint insofern der weiter avancierte Komikfabrikant, als er die urbane Schockerfahrung losgelassener Geschwindigkeit zelebriert, ein Virilio der Sahnetorten: Alles ist zapplig-schnell geworden, so rasch, dass man es auf den ersten Blick nicht verarbeiten kann. Deshalb hat der komische Topos des "double-take", des zweimaligen Hinschauens so große Bedeutung: Ein Schauspieler sieht etwas Verrücktes oder Bedrohliches, nimmt es aber nicht eigentlich begreifend wahr und schaut wieder weg; eine Sekunde später ist die Wahrnehmung da und der Kopf ruckt entsetzt zum zweiten Mal in die alte Richtung.
Sprecherin: Das Mechanische, Zapplige dieser Filme lässt gerne die schauspielerische Virtuosität übersehen. Das Zeichen der Genialität des Komikers war seine Fähigkeit, dem Altvertrauten subtile neue Varianten abzugewinnen. Der Kritiker James Agee schrieb in dem wohl historisch wichtigsten Aufsatz über den Slapstick, "Comedy’s Greatest Era", der – bereits nostalgisch-retrospektiv – 1949 in Life erschien:
Sprecher: Die meiste Zeit bekam Chaplin seine Lacher weniger wegen der Gags an sich oder wegen seiner Fähigkeit, sie in irgendeinem gewöhnlichen Sinn zu melken, sondern durch seine geniale Begabung für das, was man die Färbung nennen könnte: die perfekte, ewig wechselnde Inszenierung seiner körperlichen und emotionalen Haltung zu einem Gag.
Sprecherin: Der englische Lyriker A. S. J. Tessimond schreibt in einem Gedicht, das "Chaplin" heißt:
Sprecher: God kicks us in the pants and sets banana-skins on the stairs.
Sprecherin: "Gott tritt uns in den Hintern und legt Bananenschalen auf die Treppe."
Das dürfte, setzt man für "Gott" den Zufall, das Leben oder unsere eigene Ungeschicklichkeit, die eine Wahrheit des Slapstick sein: das Bananenschalenhafte, uns ausrutschen Lassende unserer Umwelt.
Sprecher: Die andere: Wenn wir uns wie ein Automat verhalten, wie eine Maschine, wie ein Gegenstand, dann bekommt die Redeweise von der "Tücke des Objekts" einen neuen Sinn.