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So schnell wie möglich zurück

In den 90er Jahren wurden den Russlanddeutschen die von vielen ersehnte Ausreise nach Deutschland ermöglicht. Doch die Heimat blieb manchem fremd. Inzwischen steigt die Zahl derer, die es zurück gen Osten zieht.

Von Nadja Baeva |
    Heute hat David Ibe einen guten Tag. Es ist schon 15 Uhr, und er hat sich noch kein Insulin spritzen müssen. Meistens ist der Zucker schon morgens früh so hoch, dass es ohne Medikamente einfach nicht geht. Außer Diabetes hat der Spätaussiedler noch Knochenschwund und Rückenprobleme. Schon in Russland war der 56-Jährige krank, aber hier hat sich sein Zustand verschlechtert.

    "Am Anfang habe ich daran gar nicht gedacht, dass wir irgendwann nach Russland zurückkehren wollen würden. Aber in den letzten drei Jahren ist die Entscheidung immer ernster geworden. Der jüngste Sohn hat auch gerade die Ausbildung beendet und geheiratet. Jetzt, da beide Kinder aus dem Haus sind, fahren wir zurück. Wir wollen in der Heimat sterben."

    Vor sieben Jahren, als der Spätaussiedler mit seiner Familie nach Bonn kam, schien alles in Ordnung zu sein. David und Maria Ibe haben schnell Deutsch gelernt. Sie sprechen zwar nicht perfekt, aber es reicht, um sich zu verständigen. Maria Ibe arbeitet als Raumpflegerin, ihr Mann hat bis vor kurzem auch gearbeitet, solange seine Gesundheit das zuließ. Aber richtig einleben konnten sich die beiden trotzdem nicht. Maria Ibe:

    "Ich fühle mich fremd hier. Ich habe immer noch Komplexe, dass ich nicht wie die Einheimischen Deutsch kann und es nie können werde. Und dann noch diese Spannung die ganze Zeit: Wir haben immer Angst, dass wir etwas falsch machen, Angst vor Briefen von Behörden. Wenn man mal was nicht bezahlt, dann landet man im Nu auf der Straße. Ich bin müde von dem Ganzen. Das macht mich fertig."

    In ihrem Dorf nahe Nowosibirsk hatte das Ehepaar ein eigenes Haus mit Garten und Vieh. David Ibe war Kraftfahrer, seine Frau Maria Arbeiterin in einer Gärtnerei. In den 90er Jahren war das Leben in Russland für alle schwer. Oft hat man monatelang keinen Lohn bekommen. Dazu kam auch, dass sich die Spätaussiedler unter Russen immer schon fremd fühlten. Als die Spätaussiedler endlich nach Deutschland einreisen durften, war es keine Frage, dass sie davon Gebrauch machten.

    "Wir dachten, dass hier das Leben leichter wird. Es ist auch leichter, keine Frage. Aber ich bin hier ein Niemand. Keiner interessiert sich für dich. Und in meinem Dorf konnte ich rausgehen, mit den Nachbarn quatschen, jeder kennt dich. Ich habe jetzt keine Verwandten in Russland, aber ich will trotzdem in mein Dorf."

    Solche Geschichten, wie die des Spätaussiedlers David Ibe, kennen die Mitarbeiter der Wohlfahrtsorganisation "Heimatgarten" zuhauf. Dieses Projekt der AWO Bremerhaven war ursprünglich dazu gedacht, Kriegsflüchtlingen zu helfen, in ihre Heimat zurückzukehren. In der letzten Zeit haben sich immer mehr Russlanddeutsche an den Verein gewendet. Deswegen wurde für sie im Oktober dieses Jahres in Bielefeld eine spezielle Stelle eingerichtet. Wahrscheinlich die einzige in ganz Deutschland, klagt der Mitarbeiter Zafar Sharadzhabow:

    "Dieses Problem ist eigentlich noch nicht erkannt. Es gibt keine Abmeldepflicht für die Rückkehrer. Sie können in ein beliebiges Land auswandern, und dafür gibt es keine Statistik. Die Zahlen bleiben für uns verborgen. Vergessen wir nicht, dass die Menschen in den autoritären Systemen aufgewachsen sind. Sie haben immer Angst vor dem Staat, und das ist schon im Blut dieser Menschen. Sie wollen nicht mit den Behörden darüber sprechen."

    Dass es dieses Problem doch gibt, obwohl keine offiziellen Zahlen das belegen, zeigt die eigene Statistik von Zafar Sharadzhabow. Auf seinem Schreibtisch häufen sich Stapel von Akten der Spätaussiedler, die Deutschland verlassen wollen. Über 300 Anträge von Kiel bis Freiburg hat er mittlerweile bekommen, in denen die Russlanddeutschen um Hilfe bitten. Und das ist nur ein Bruchteil: Die, die etwas Geld haben, verlassen Deutschland auf eigene Faust. Die Gründe der Rückkehrer sind immer die gleichen:

    "Arbeitslos, fühlt sich nutzlos, krank. Keine Arbeit, keine Deutschkenntnisse, Kinder leiden, in der Schule verspottet, ausgelacht, als Russen beschimpft. Hautkrankheit, Rückenschmerzen, kriegt keine Chance, hier wieder beruflich einzusteigen. Seelisch leidet, Heimweh, Apathie, Sehnsucht."

    Wenn die Menschen die Entscheidung getroffen haben, Deutschland zu verlassen, stehen sie meistens vor vielen Fragen, auf die sie selbst keine Antwort finden: Wie kann man die russische oder kasachische Staatsbürgerschaft beantragen?, Hat man im Heimatland noch Anspruch auf die Rente?, Wie hoch sind die Mietkosten? Zu all diesen brennenden Fragen stellt die Organisation "Heimatgarten" Informationen zusammen. Aber das häufigste Problem ist jedoch das Geld. Die meisten der Spätaussiedler haben keine Ersparnisse für die Reise. Aus der langjährigen Arbeit mit Flüchtlingen kennt "Heimatgarten" hierfür eine Lösung, sagt Zafar Sharadzhabow:

    "Die meisten Familien sind Sozialhilfe- oder Arbeitslosengeld-II-Empfänger. Stellen wir uns vor: Eine durchschnittliche Familie bekommt als Hilfe vom Sozialamt durchschnittlich 1200 Euro pro Monat. Nur ein paar Sätze, das heißt 3000 bis 5000 Euro, wären genügend für die Familie, um zurückzukehren, dort Fuß zu fassen, eine Wohnung zu mieten, Arbeit zu finden. Dann wird das Sozialsystem in den Kommunen, in den Gemeinden entlastet. Und dann werden alle glücklich."

    Die Überlegung ist plausibel und logisch, findet der Leiter des Amts für Soziales und Senioren in Köln, Stephan Santlemann. So einfach ist es in der Praxis jedoch nicht.

    "Sozialhilfe ist ja eine Hilfe in einer besonderen Notlage. Sie wird nach einem Bedarf ausgezahlt. Das Gesetz sieht nicht vor, dass ich einen Vorschuss über mehrere Monate gewähren kann, das heißt also konkret eine Starthilfe auszuzahlen und das jemandem mit ins Ausland zu geben. Es ist nach dem Sozialhilfegesetz nicht möglich, Deutschen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, Sozialhilfeleistungen zu gewähren. Die einzige denkbare Möglichkeit wäre, dass eine Kommune das im Wege einer freiwilligen Leistung ermöglicht."

    Bisher sind jedoch lediglich fünf Prozent aller Anträge der Spätaussiedler an die Behörden mit der Bitte um finanzielles Entgegenkommen positiv beschieden worden. Auch die Familie Ibe aus Bonn wartet noch auf eine Entscheidung und hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Der gesundheitliche Zustand von David Ibe wird allerdings von Tag zu Tag schlechter:

    "Ich schlafe nachts nur zwei, drei Stunden. Alle Gedanken sind dort, in meinem Heimatdorf bei Nowosibirsk. Wenn ich, sagen wir mal, das Geld heute bekommen würde, würde ich mich morgen überall abmelden und übermorgen abhauen. Ich bin bereit, meinen deutschen Ausweis abzugeben, nur um wegzufahren. Es war ein Fehler, nach Deutschland zu ziehen. Man sollte da bleiben, wo man geboren wurde."