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Solidarität statt Almosen?

Aus der karitativen Idee aus den Vereinigten Staaten ist längst eine bestens funktionierende Versorgungsmaschinerie entstanden. In dem Sammelband TafelGesellschaft stellt Stephan Lorenz diese durchaus umstrittene Form vom Umgang mit Überfluss und Ausgrenzung zur Diskussion.

Von Matthias Bertsch |
    Die Tafelbewegung ist ein wunderbares Beispiel für bürgerschaftliches Engagement. Hier begegnen sich Menschen, die sich anderswo nicht begegnen würden. Wenn sozialer Ausschluss zu einem immer drängenderen Problem in unserer Gesellschaft wird, dann bilden die Tafeln eine kleine, aber wichtige Gegenbewegung zu dieser Entwicklung. Denn an den Tafeln ist jeder willkommen und erwünscht.
    Eigentlich sollte ein Sozialstaat so ausgerichtet sein, dass alle Bürger und Bürgerinnen ihr Auskommen haben und dass sie so versorgt sind, dass Suppenküchen, Lebensmittelgaben oder Ähnliches nur noch eine Erinnerung an graue Vorzeiten darstellen würden. Für GewerkschafterInnen ist das eine unverzichtbare Forderung.
    Die Zitate der grünen Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt und des IG Metall Vorstandsmitgliedes Regina Görner markieren die Eckpunkte der derzeitigen Diskussion um die Bedeutung der inzwischen knapp 900 Tafeln in Deutschland. In dem Sammelband des Soziologen Stephan Lorenz geht es allerdings weniger um die Tafeln selbst als um In- und Exklusion in der Gesellschaft im Allgemeinen. Die Tafeln seien letztlich nur Symptom einer – Zitat - "Transformation der wohlfahrtsstaatlichen Armutsbekämpfung", soll heißen: eines Um- und vor allem Abbaus des Sozialstaates. Der Grundgedanke dieser Kritik ist kaum von der Hand zu weisen: Was anfangs als rein zusätzliches Angebot gedacht war, hat sich inzwischen für rund eine Million Deutsche zur festen Größe in ihrer Haushaltsplanung entwickelt: Ohne die kostenlosen oder -günstigen Lebensmittel der Tafeln könnten viele Alleinerziehenden in Deutschland ihren Kindern kaum noch einen Kino- oder Schwimmbadbesuch finanzieren. Schuld daran sind, auf diesen Nenner bringen es viele Autoren in der TafelGesellschaft, die Agenda 2010 und Hartz IV.

    Die Menschen haben durch die Sozialreformen Rechtsansprüche verloren – und finden nun bei den Tafeln barmherzige Almosen. Freiwillige übernehmen Aufgaben bei der Sicherung des Existenzminimums, denen sich der Sozialstaat dadurch entledigen kann. Die Tafeln erscheinen so als Moment der Zukunft des bundesdeutschen Sozialstaats, die längst schon begonnen hat: Ein Sozialstaat für Arme ohne Rechte, ein Sozialstaat der Mildtätigkeit und Almosen.
    Drastische Worte des katholischen Theologen und Soziologen Matthias Möhring-Hesse, der zur Abwendung der von ihm beschriebenen Gefahr fordert, den gegenwärtigen Sozialstaat beim Wort zu nehmen und für die Zukunft geeignete und hinreichende Aktivitäten einzufordern, um allen in der Bundesrepublik lebenden Menschen eine volle Zugehörigkeit und umfassende Beteiligung zu gewährleisten. Vor diesem Hintergrund wird man den vom Verfassungsgericht erinnerten Auftrag einer hinreichenden Grundsicherung bestätigen, dass jedermann und jedefrau menschenwürdig leben kann.
    Es lohnt sich, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Februar dieses Jahres zu den Hartz-IV-Regelsätzen im Original anzusehen. Dort heißt es:

    Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (...) sichert jedem Hilfsbedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.
    "Mindestmaß an Teilhabe" und "umfassende Beteiligung" ist aber keineswegs das Gleiche, und es gehört zu den ärgerlichen Seiten der "TafelGesellschaft", dass in der immer wiederkehrenden Kritik an den Tafeln Behauptungen und Andeutungen oft eine sorgfältige Recherche ersetzen. Beispiel 1: Die beteiligten Supermärkte sparten durch die Abholung der abgelaufenen Lebensmittel durch die Tafeln hohe Entsorgungskosten. Konkrete Zahlen? Fehlanzeige! Beispiel 2: Beim Aufbau der Tafeln habe die Unternehmensberatung McKinsey eine zentrale Rolle gespielt. Tatsache ist, dass McKinsey in den 90er-Jahren im Rahmen eines sogenannten Pro-Bono-Projektes unentgeltlich an einem Handbuch für die Neugründung von Tafeln mitgearbeitet hat. Eine weitergehende Zusammenarbeit hat es nie gegeben. Im Beitrag von Luise Molling in der Tafelgesellschaft klingt das allerdings so:

    Selbst wenn man nicht soweit gehen will, die Existenz der Tafeln allein auf das Engagement der an den Hartz-Gesetzen beteiligten Unternehmensberatung McKinsey zurückzuführen ... – sie also als strategisch bewusst geplanten Teil der neoliberalen Umstrukturierungen zu betrachten -, ist nicht zu leugnen, dass die Tafeln in der Verkehrung des Subsidiaritätsprinzips Notlagen lindern, die erst durch die systematische Verarmung im Rahmen der Hartz IV-Gesetzgebung entstanden sind.
    Solidarität statt Almosen, lautet der in der TafelGesellschaft immer wieder vorgebrachte Appell. Angesichts der Tatsache, dass sie weder den Umfang der gespendeten Lebensmittel noch das freiwillige Engagement ihrer Mitarbeiter wirklich garantieren können, ist die Kritik, dass immer mehr Menschen in Deutschland auf die Tafeln angewiesen sind, nicht nur legitim, sondern wichtig, zumal die Tafeln von Politikern und Journalisten oft genug idealisiert werden. Umso erstaunlicher wirkt in diesem Kontext der letzte Beitrag des Buches: - "Armut schändet nicht – Über den Unterschied zwischen Armut und Elend", von Marianne Gronemeyer - der die gesamten Artikel vor ihr fast zur Makulatur werden lässt. Die Teilhabe am gleichberechtigten Konsum – eine zentrale Forderung der meisten anderen Autoren - führe nicht zur Solidarität der Menschen, sondern zur Gleichgültigkeit, die Fixierung auf staatliche Daseinsvorsorge bringe die "Selbsterhaltungskräfte der Bürger zum Erliegen". Gronemeyers Beispiele aus armen, aber würdevoll lebenden Gemeinschaften Afrikas klingen manchmal sehr sozialromantisch, doch im Kern wirft die emeritierte Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften eine zentrale Frage auf: Stärken die Tafeln in Deutschland die Selbstbestimmungskräfte der Bürger oder schwächen sie sie? Auf diese Frage aber gibt die TafelGesellschaft keine Antwort.

    Matthias Bertsch war das über: Stephan Lorenz: TafelGesellschaft. Zum neuen Umgang mit Überfluss und Ausgrenzung. Erschienen im Transcript Verlag, 240 Seiten kosten 22 Euro 80, ISBN: 978-3-8376-1504-3.