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Sotschi 2014
Schicksal der Tscherkessen ein Tabu

Der Austragungsort der Olympischen Spiele, Sotschi, war die letzte Hauptstadt Tscherkessiens. Bis das Volk von den Russen vertrieben wurde. Das sei ein Genozid gewesen, sagte der Historiker und Autor Manfred Quiring im Deutschlandfunk. In Russland sei das Thema ein Tabu.

Manfred Quiring im Gespräch mit Christoph Heinemann |
    Krasnaja Poljana: einst tscherkessisch besiedelt, jetzt ein Austragungsort der Winterspiele
    Krasnaja Poljana: einst tscherkessisch besiedelt, jetzt ein Austragungsort der Olympischen Winterspiele (picture-alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Christoph Heinemann: In Berlin befindet sich ein Mann im Hungerstreik. Seit einer Woche und noch bis zum 23. Februar nimmt Schamis Hatko keine Nahrung zu sich. Und es ist kein Zufall, dass dieser Hungerstreik genau den Zeitraum der Olympischen Winterspiele umfasst, denn Schamis Hatko ist Mitglied der tscherkessischen Versammlung von Hannover. Die Tscherkessen leben überall, nur nicht in ihrem ursprünglichen Siedlungsgebiet - ein Ergebnis ihres hundertjährigen Krieges gegen die russischen Zaren, der im 18. Jahrhundert begann und 1864 mit der Niederlage und ihrer Vertreibung endete. Hunderttausende starben bei der Flucht übers Schwarze Meer. Seit dieser Zeit weigern sich Tscherkessen, Fisch aus dem Schwarzen Meer zu essen, in dem so viele Angehörige starben.
    Das schreibt Manfred Quiring. Der ehemalige Korrespondent der Tageszeitung "Die Welt" in Moskau hat ein Buch geschrieben mit dem Titel "Der vergessene Völkermord: Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen". Ich habe ihn vor dieser Sendung gefragt, was der Austragungsort der Olympischen Winterspiele mit den Tscherkessen zu tun hat.
    Manfred Quiring: Sotschi ist mit der Geschichte der Tscherkessen ganz direkt verbunden. Sotschi war die letzte Hauptstadt Tscherkessiens. Tscherkessien ist das Land, in dem die Tscherkessen lebten logischerweise, das heute auf keiner Karte mehr zu finden ist. Das ist getilgt von allen Karten. Sotschi bleibt dennoch die letzte Hauptstadt und die Küste von Sotschi bis hoch nach Anapa war die Küste, an der die Deportation der Tscherkessen stattfand in die Türkei.
    Heinemann: Sie haben gerade die Deportation angesprochen. Inwiefern war der russisch-kaukasische Krieg ein Völkermord?
    Quiring: Er war aus Sicht der Tscherkessen, der tscherkessischen Historiker, denen ich mich auch anschließe, ein Völkermord wegen der Brutalität, wegen der massenweise Ermordung von Menschen und der „ethnischen Säuberung“, und diesen beiden Ereignissen sind viele Hunderttausend Tscherkessen zum Opfer gefallen. Angesichts dieses Umfangs - der ist zu vergleichen sicher mit dem Schicksal der Armenier - kann man mit einiger Berechtigung von Genozid sprechen.
    Heinemann: Wie kam es zu diesem Krieg und worum ging es?
    Quiring: Der Beginn des Krieges wird auf das Jahr 1763 gelegt, als die Zaren eine Festung auf tscherkessischem Gebiet errichten ließen, die Festung Masdog, und von da an fanden regelmäßig Gefechte und Scharmützel statt, die sich nach und nach hochschaukelten und zu einem hundertjährigen Krieg ausarteten. Ziel der Zaren war es, zunächst den Zugang zum Schwarzen Meer zu sichern, um dann weiter auf das Osmanische Reich und auf Persien marschieren zu können. Da reichte anfangs die Überlegung, wir unterwerfen uns die Tscherkessen und die anderen kaukasischen Völker und dann gehen wir weiter vor, bis sie dann merkten, dass es mit der Unterwerfung nichts wurde, und schließlich sie den Beschluss fassten, die Tscherkessen aus den Bergen zu vertreiben, entweder sie zu vernichten, oder sie in die Türkei zu deportieren.
    "Nach russischem Selbstverständnis war das ein Angriff auf Russland selber"
    Heinemann: Wie wird dieser Krieg im heutigen Russland bewertet?
    Quiring: Dieser Krieg wird in der Regel in der Öffentlichkeit überhaupt nicht bewertet. Wenn, dann ist das ein Nebenereignis, was kein großes Interesse öffentlich hervorruft, und im Zuge der Vorbereitung auf die Olympischen Spiele war das Thema regelrecht Tabu, wie ich von Freunden aus Moskau hörte.
    Heinemann: Inwiefern Tabu?
    Quiring: Es war Tabu, darüber zu reden. Man wollte die fröhliche Stimmung der Olympischen Spiele nicht mit dieser trüben Vergangenheit belasten und gleichzeitig auch den Protesten, die ja stattfanden, vor allen Dingen in der Türkei, wo zwei Millionen Tscherkessen leben, die dort stattfanden, diesen Protesten wollte man keinen weiteren Raum bieten und hat sie weitgehend ignoriert.
    Heinemann: Warum?
    Quiring: Nach russischem Selbstverständnis war das ein Angriff auf Russland selber. Es war der Versuch ihrer Meinung nach, dass man die Olympischen Spiele auf diese Art und Weise stören wollte, und es war, aus ihrer Sicht immer wieder gesagt, auch völlig ungerechtfertigt, weil das ein Krieg wie jeder andere war aus Sicht der russischen Geschichtsschreibung.
    Heinemann: War er aber nicht, würden Sie sagen?
    Quiring: Das war er aber nicht.
    Heinemann: Wie kam es noch mal genau zu dieser Brutalisierung dieses Krieges?
    Quiring: Nun, er schaukelte sich natürlich von beiden Seiten hoch. Die Tscherkessen wollten nicht Untertanen des Zaren werden, sie wollten nicht die russische Orthodoxie annehmen und sie wollten vor allen Dingen nicht aus den Bergen heraus, was Ziel der russischen Armee war und der Kosaken. Man wollte die Tscherkessen zunächst in die Ebene treiben, um sie dort anzusiedeln, damit sie sich nicht in den Bergen verschanzen konnten, um gegebenenfalls den russischen Truppen in den Rücken zu fallen, die unten an der Küste Festungen errichtet hatten.
    Heinemann: Sprechen wir über die tscherkessische Kultur. Ein wesentlicher Bestandteil der Kultur und der Lebensweise war ein fester Ehrenkodex. Wozu war jeder anständige Tscherkesse verpflichtet?
    Quiring: Dieser Kodex heißt Adyge Xabze und verpflichtet einen Tscherkessen zu Mut, Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Großmütigkeit und zur Bescheidenheit auch. Es galt als frevelhaft, wenn man mit seinem Reichtum prahlte und wenn man sich sozusagen gehen ließ. Man hatte stets beherrscht zu sein und musste gegenüber Frauen immer galant sein.
    Heinemann: Siedlungsgebiet der Tscherkessen ist eine Schnittstelle, nämlich die zwischen Orient und Okzident. Inwiefern hat das die tscherkessische Kultur mit geprägt?
    Quiring: Sie hat sie insofern geprägt, als die Kultur immer auch eine Kultur der kriegerischen Auseinandersetzung war. Schon Jahrhunderte bevor die Russen da unten ihre Interessen entdeckten, waren ja viele andere nomadisierende Heere dort durchgezogen. Die Hunnen waren dort unten, Timur Lenk hatte sein Heer …
    Heinemann: Der berühmte Tamerlan.
    Quiring: Tamerlan, richtig. Mit all diesen hatten die Tscherkessen natürlich kriegerische Auseinandersetzungen, mussten sich zum Teil in die Berge zurückziehen, kamen wieder in die Ebenen, wo sie ja ihre Viehzucht betrieben und ihre Pferdezucht, ganz berühmt die Kabardiner. Das prägte natürlich über die Jahrhunderte ihre sehr kriegerische Natur auch. Sie waren ständig mit dem Training beschäftigt, Reiterspiele fanden statt, und das prägte die Kultur ganz entscheidend.
    Heinemann: Es gab aber schon Berührungen zwischen Russland und den Tscherkessen. Immerhin war eine Ehefrau Iwans des Schrecklichen eine tscherkessische Prinzessin.
    Quiring: Ja! Die ersten Kontakte zwischen Tscherkessen und Russen waren ja auch nicht negativ, sondern man schloss Bündnisse. Die Tochter von Temrjuk, dem kabardinischen Fürsten, heiratete Iwan den Schrecklichen, Iwan IV., was eine dynastische Heirat war. Er wollte damit die südlichen Grenzen seines Reiches sichern und macht uns damit deutlich, welche große strategische Bedeutung die Region, aber auch das Volk der Tscherkessen hatten zu der Zeit.
    Heinemann: Stalin war bekanntlich Georgier, insofern mit der Geschichte der Kaukasus-Völker vertraut. Wie erging es den Tscherkessen in der Sowjetunion?
    Quiring: Die Tscherkessen in der Sowjetunion wurden erst mal territorial getrennt, was bis heute beibehalten wird und von russischer Seite als naturgegeben angenommen wird. Sie leben heute in Kabardino-Balkarien, sie leben in Karatschai-Tscherkess und sie leben in Adygeja. Adygeja ist die Bezeichnung für Tscherkessien, ihre eigene Bezeichnung. Sie nennen sich, die Tscherkessen nennen sich selbst in ihrer Sprache Adyge. In diesen drei territorialen, voneinander auch getrennten Einheiten leben sie heute. Es sind etwa noch 700.000 Tscherkessen, die in Russland leben, während es eine Diaspora von mehreren Millionen gibt, die verteilt ist auf die Türkei, auf den Nahen Osten und sogar in den USA lebt eine Gemeinschaft von etwa 8.000 bis 10.000 Tscherkessen.
    "Sie haben vor allen Dingen die Forderung nach historischer Gerechtigkeit"
    Heinemann: Was verlangen diese Tscherkessen heute während der Olympischen Spiele?
    Quiring: Sie haben vor allen Dingen die Forderung nach historischer Gerechtigkeit. Sie wollen, dass ihr Leiden, dass ihr Krieg und ihre Niederlage als solche als Trauertag und ein trauriges Ereignis betrachtet werden, und eine Hauptforderung der Tscherkessen heute besteht darin, das bedingungslose Rückkehrrecht durch Russland zu bekommen.
    Heinemann: Ist Russland dazu und zur historischen Anerkennung bereit?
    Quiring: Russland ist im Moment zu keinem von diesen beiden wesentlichen Punkten bereit. Die Historie schreiben sie selbst, schreiben die Sieger, so ist der russische Standpunkt, und sie haben kein Interesse, ein Opfervolk sozusagen zu beschreiben. Sie beschreiben den Sieg der Kosaken und der Zaren-Truppen, und das ist aus ihrer Sicht ein freudiges Ereignis gewesen, und damit wird es im wesentlichen belassen, obwohl es natürlich bei ernsthaften Historikern Anzeichen dafür gibt, dass sie das heute etwas anders sehen.
    Heinemann: Auch bei russischen?
    Quiring: Auch bei russischen, ja. Und das Rückkehrrecht möchten sie den Tscherkessen nicht einräumen, weil sie ohnehin im Kaukasus viele Probleme haben, Sicherheitsprobleme mit den anderen kaukasischen Völkern, insbesondere mit Tschetschenen, in Dagestan, Inguschetien. Sie befürchten, dass eine neue Gruppierung weitere Unruhe in den Kaukasus bringt.
    Heinemann: Nach dem Terror aus Tschetschenien ja möglicherweise verständlich.
    Quiring: Ja das muss man wirklich trennen. Der selbst ernannte Emir des Kaukasus, Doku Umarow, hat keine Verbindung zu den Tscherkessen. Das heißt, man muss das doch sehr sauber trennen, dass die islamistischen Kräfte, die sich im Untergrund mit Terroranschlägen dort bewegen, nichts mit den Tscherkessen zu tun haben, die zwar dem Islam anhängen, aber einer sehr liberalen Form des Islam und die Terrorismus grundsätzlich ablehnen.
    Heinemann: Wie werden überhaupt die Menschen aus den kaukasischen Gebieten im heutigen Russland behandelt?
    Quiring: Insbesondere in Moskau fällt es sehr auf, dass sie zwar sehr zahlreich dort vertreten sind, aber als Menschen zweiter Klasse betrachtet werden. Sie werden abfällig „Schwarzärsche“ genannt, regelmäßig angegriffen. Wenn man Schuldige sucht, sucht man Schuldige irgendwelcher kriminellen Unternehmungen in der Regel erst mal bei den Kaukasiern. Sie werden als Menschen zweiter Klasse dort behandelt.
    Heinemann: Manfred Quiring, Autor des Buchs "Der vergessene Völkermord: Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen".
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.