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Sozialfiguren der Gegenwart

In diesem Band werden aktuelle Typen und Figuren des Sozialen vorgestellt, die in den Medien und den gesellschaftlichen Diskursen eine Schlüsselstellung einnehmen. Sozialtypen wie der "Berater", der "Nomade", der "Manager" oder die "Diva" werden als zeitgebundene historische Gestalten verstanden.

Von Günter Beyer |
    "Ich zerstöre kein Unternehmen, ich befreie sie vielmehr. Der entscheidende Punkt ist doch, dass die Gier, leider gibt, es dafür kein besseres Wort, gut ist. Die Gier ist richtig. Die Gier funktioniert. Die Gier klärt die Dinge und ist der Kern jedes fortschrittlichen Geistes. Haben Sie vielen Dank."

    Ein Ausschnitt aus dem Film "Wall Street". Mit der Figur des profitgierigen Spekulanten Gordon Gekko hat Regisseur Oliver Stone einen Typus gezeichnet, der beispielhaft für eine einflussreiche kleine Gruppe in unserer Gesellschaft steht. Dass Gesellschaften heute untersucht und beschrieben werden können als zeitgebundene Ensembles so genannter "Sozialfiguren", ist die Überzeugung des Marburger Soziologen Markus Schroer:

    "Wir haben mit den Sozialfiguren einen Weg gesucht zu sagen: Wir nehmen die Pluralität der Gesellschaft ernst. Die spiegelt sich eben auch darin, dass wir es mit einigen wenigen ausgesuchten Sozialfiguren zu tun haben."

    Markus Schroer und Mitherausgeber Stephan Moebius lassen in ihrem Sammelband 40 dieser Figuren auftreten - ein panoramaartiges Lexikon von A - wie "Amokläufer" über den "Kreativen" bis zum Schlusslicht "Voyeur". Traditionell hat sich die Soziologie meist mit Großgruppen beschäftigt. Sie hat Klassen, Schichten und soziale Milieus analysiert. Soziologen sezierten die Industriegesellschaft, die Risikogesellschaft, die Wissensgesellschaft oder die Erlebnisgesellschaft. Der Diskurs über Sozialfiguren greift einen Gedanken auf, der bereits in den frühen 1980er-Jahren formuliert worden war.

    "Es gibt einen einzigen Referenzband von Gerhard Stein, der früher in keiner WG fehlte, da hatte man den Bonzen, den Lumpenproletarier, den Vamp, den Sponti und so weiter. Und wenn man sich das ansieht, diese Auswahl, sieht man schon sehr schnell, dass da einige Figuren heute kaum noch eine Rolle spielen. Aber andere an ihre Stelle getreten sind."

    Anfänglich hatten Schroer und sein Autorenteam eine Liste von rund 50 Sozialfiguren beisammen, die anschließend ausgedünnt wurde. Die Alleinerziehende findet man nicht darauf, auch nicht den Freiwilligen oder den Praktikanten.

    "Die Auswahl ist nicht zufällig. Darin spiegeln sich auch, selbst wenn man das gar nicht intendiert hatte, ja bestimmte Trends, die ohnehin in der Gesellschaft ne Rolle spielen oder in medialen gesellschaftlichen Diskursen diskutiert werden, beispielsweise der Trend zur Ökonomisierung. Sie haben relativ viele Sozialfiguren, die Sie eigentlich der Ökonomie letztlich zuordnen können."

    Zum Beispiel die Sozialfigur des Simultanten.

    "Simultanten erkennt man an folgenden fünf Aktivitäten:
    Sie bearbeiten möglichst viele Aufgaben gleichzeitig.
    Sie sind überall und jederzeit erreichbar.
    Sie sind hoch vernetzt und nutzen alle sich ihnen bietenden Synergieeffekte.
    Sie kennen keine regelmäßigen, auch keine zeitlich begrenzten Arbeitszeiten.
    Sie denken und planen nicht in Wochentagen und Wochenrhythmen. Eine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit ist ihnen fremd."

    ... schreibt der Münchner Zeitforscher Karlheinz Geißler in seinem brillanten Essay.

    "Bereits früh am Tag beginnen sie mit der Huldigung des Simultanismus: Unter der Dusche hören sie die neuesten Nachrichten, während der folgenden Rasur nehmen sie die Meldungen über die unerwarteten Kursverluste an der Tokioter Börse zur Kenntnis. Auf dem Weg zum Frühstück schauen sie nach den in der Nacht eingegangenen Fax- und Mailnachrichten."

    Irritierend auf den ersten Blick ist, dass - mit Ausnahme der Diva - Sozialfiguren ausschließlich in ihrer männlichen Form aufgelistet werden. Muss man sich Sozialfiguren also ausschließlich als Schlipsträger vorstellen? Welches Gewicht hat der Gender-Aspekt bei der Besetzung der Figuren?

    "Sie sind eigentlich ebenfalls von Frauen zu besetzen, würde ich jetzt erstmal sagen. Aber natürlich: Die Nomadin, die Medienintellektuelle, die Managerin, die Beraterin ist gewissermaßen mitgedacht, und wenn sie auch im Titel nicht auftaucht, in den Texten mitthematisiert."

    Das allerdings nur am Rande. Es wäre interessant zu wissen: Gibt es Unterschiede zwischen einer Spekulantin und einem Spekulanten? Und: Lassen sich vergleichbare Sozialfiguren auch aus der - sagen wir - chinesischen Gesellschaft destillieren?Sozialfiguren sind zeit- und kontextgebunden, und manche erfahren im Laufe der Zeit radikale Neuinterpretationen. So tauchen in Schroers Liste überraschenderweise auch der "Tourist", der "Spießer" und der "Voyeur" auf, den man doch verborgen hinter einem Schlüsselloch im weit entfernten 18. oder 19. Jahrhundert wähnte: Markus Schroer:

    "Er darf nicht fehlen meines Erachtens, weil man da ein schönes Beispiel dafür hat, wie sich so ´ne Sozialfigur und ihre Konnotation, ihre Assoziationen, die sie hervorruft, ändern kann über die Jahre, Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte. Ich glaube, man hat heute es mit einer Entskandalisierung des Voyeurs zu tun, wenn Sie so wollen."

    Adieu, ihr verachteten Gaffer und Spanner! Im 21. Jahrhundert ist die Schaulust nicht mehr verpönt. Sicherheitsdienste werden eigens dafür bezahlt, auf die Monitore der Überwachungskameras in Banken, Tankstellen und U-Bahnen zu schauen. "Broadcast yourself!" ist das Gebot bei "You Tube", und die Container-Insassen bei "Big Brother" wären enttäuscht, würden die Kameras nicht ständig draufhalten und die Zuschauer sich abwenden. Markus Schroer

    "Das wirklich Skandalisierbare ist, dass jemand sich nicht sichtbar machen kann. Und überhaupt nicht vorkommt."

    "Hacker, Diven, Spekulanten" - das sind 40 anregende, oft vergnügliche Lektionen in Soziologie der Gegenwartsgesellschaft. Auch, wenn manche Frage offenbleibt.

    Diven, Hacker, Spekulanten, Hrg.: Stephan Moebius/ Markus Schroer, suhrkamp, 2010