Archiv

Soziologe Dirk Baecker über Demokratie und Macht
"Es geht immer um dasselbe, nämlich um den Erwerb von Macht"

Der Soziologe Dirk Baecker beschreibt die Demokratie als "eine frei schwebende Konstruktion". Jeder Einzelne – ob Bürger oder Politiker – müsse sich immer wieder überlegen, inwiefern er sich daran beteilige und inwiefern nicht. "Machtausübung" und "Machtwiderstand" bedingten einander.

Dirk Baecker im Gespräch mit Michael Köhler |
    Südansicht des Reichstagsgebäudes in Berlin. Foto vom 11. August 2014.
    "Wer so tut, er sei wegen der Macht gegen die Macht, der lügt", sagt der Soziologe Dirk Baecker. (picture-alliance / dpa / Daniel Kalker)
    Michael Köhler: Da hatten wir also jüngst die Wahl und stehen erneut vor der Frage: Was machen mit der Macht? Der neue Bundestag wächst auf über 700 Abgeordnete an. Die Komfortzone der Volksparteien ist verlassen, eine ungemütliche Normalität sicherlich erreicht. Und jetzt geht es darum, eine stabile Regierung zu bilden. Wer aber hat darin noch Macht oder //die// Macht? Hat nicht gerade das Wahlergebnis gezeigt, dass der Macht durchaus auch misstraut wird? Ich habe mit dem Soziologen, dem Kultur- und Systemtheoretiker Dirk Baecker darüber gesprochen und ihn gefragt: Der moderne Verfassungsstaat hat ja die Macht verändert, er hat sie in Recht gegossen, in Recht transformiert – so lehrt es jedenfalls die Staatstheorie. Nun weiß jeder, der nicht nur Kinder oder Haustiere hat, dass auch die Machtlosen durchaus nicht unmächtig sind. Es lässt sich eben nicht alles verrechtlichen. Macht braucht immer auch Mitmacher. Also, wie sieht denn die Soziologie der Macht aus, das Verhältnis von Regierenden und Regierten?
    "Ein Staat, der ein Großteil der politischen Willkür an das Recht abgegeben hat"
    Dirk Baecker: Zunächst mal ist ganz wichtig, dass die Soziologen zögern bei der Formulierung, Macht sei in Recht transformiert. Das ist zwar vollkommen richtig, ein Großteil der Machtausübung findet statt in rechtlich kodifizierten Formen, daneben gibt es aber auch noch andere Formen, nämlich eine Ausübung der Macht in Form von Geld, also von Anreizen oder von Sanktionsandrohungen. Wichtig ist aber vor allem, dass Soziologen seit Max Weber dazu neigen, Politik und Recht als solche zu unterscheiden. Das heißt, die Frage des Rechts und des Unrechts, die vor Gericht geklärt wird, von der Frage der Ausübung von Macht, wer übt über wen in welchem Rahmen von Legitimität welche Art von Macht aus, wird voneinander getrennt, sodass wir eben nicht davon ausgehen, dass wir in einem Rechtsstaat leben, sondern in einem Staat, der ein Großteil der politischen Willkür an das Recht abgegeben hat, sich dort kontrollieren lässt, aber eben nicht restlos aufgeht im Recht.
    Köhler: Demokratie, habe ich bei Ihnen gelernt, ist nicht alleine nur Volksherrschaft, sondern ist die Frage, wer dazugehört, also die Frage einer Ausdifferenzierung, - richtig?
    Baecker: Ja, das fasziniert mich schon seit Langem. Demokratie leitet sich ja von dem griechischen Wort Demos, das man etwas zu schnell mit Volk übersetzt, ab, aber wenn man sich anschaut, dass bei den Griechen Demos immer im Unterschied zu Ethnos stand und Ethnos genau das ist, was wir heute als Volk oder als Stamm bezeichnen, dann ist Demos ganz etwas anderes, nämlich nicht das Volk als solches, dass sich auf einem bestimmten Boden, anhand einer bestimmten Sprache et cetera feststellen lässt, sondern es ist das zu Wahlbürgern bestimmte Volk.
    Es sind also nur ganz wenige Leute bei den Griechen, nur die Aristokraten und nur die Männer, nur ganz wenige Leute, die innerhalb einer größeren Bevölkerung befähigt sind, an einem demokratischen Prozess teilzunehmen, befähigt und berechtigt sind, an einem demokratischen Prozess teilzunehmen, sodass wir auch heute wieder die Frage stellen könnten, die wir aber um jeden Preis vermeiden: Von wem wollen wir, dass er Wahlrecht aktiv und passiv ausüben kann und von wem wollen wir es nicht? Wir stehen also hier schon vor einer politischen Entscheidung, nämlich wer gehört dazu und wer gehört nicht dazu.
    Köhler: Wer die Stimme abgibt, hat er noch eine oder hat er keine mehr? Oder andersrum gesagt: Hat die Kanzlerin gar keine Macht, weil sie gar keine Wahl hat, auch sie quasi Zwängen unterworfen ist?
    Dirk Baecker, Soziologe an der Universität Witten/Herdeck und Systemtheoretiker
    Der Soziologe und Systemtheoretiker Dirk Baecker: "Sie kommen aus dem Machtzirkel gar nicht raus." (picture-alliance / dpa / Ingo Wagner)
    "Man kann einem Befehl gehorchen, aber man kann ihn auch verweigern"
    Baecker: Nein, ich meine, das ist ja der spannende Punkt, dass Macht – zumindest dann, wenn man jetzt in diesem Fall nicht Max Weber, sondern Niklas Luhmann folgt – eine Form der Ausübung von Willkür ist, die bei denen, über die sie ausgeübt wird, ja Zustimmung finden muss. Das Spannende an Luhmanns Machtbegriff ist, dass nicht nur der Machthaber sogenannte Willkürchancen hat, sondern auch die Machtunterworfenen Willkürchancen haben. Die entdecken nämlich, dass man einem Befehl gehorchen kann, man kann ihn aber auch verweigern. Und das bringt uns in die Situation, dass Frau Merkel, dass jede Regierung nichts anderes kann als ihre Art und Weise der Machtausübung anhand der Frage, wo findet man unter den Wählern, unter den Bürgern welche Art von Akzeptanzbereitschaft, sozusagen messen zu lassen. Das heißt überhaupt nicht, dass sie machtlos sind, im Gegenteil: Das heißt nur, dass sie die Art und Weise, welche Macht sie über welche Gegenstände anhand von welchen Themen über wen ausübt, laufend vor einer größeren Öffentlichkeit und laufend vor einer Wahlbevölkerung rechtfertigen und dort auch zur Disposition zur Wahl stellen muss.
    Köhler: Nun ist unsere Demokratie deshalb stabil, unsere liberale Verfassung, weil wir eben nicht wie in Weimar diese Mischung aus präsidialen Elementen, plebiszitären und parlamentarischen haben, aber wenn ich Ihnen richtig zuhöre, gewinne ich den Eindruck, dass die Koalition, also jetzt nicht die Koalition aus Parteien, sondern die Koalition aus Macht und Politik anfängt sich aufzulösen. Ist das richtig?
    "Wir leben also in einer kontrollierten Demokratie aus historischen Gründen"
    Baecker: Wir sind ja in Deutschland in einer besonderen Situation nach '45. Die großen Parteien haben sich dort sehr schnell und nicht ganz unfreiwillig auf die Auffassung eingelassen, dass Demokratie Ausübung der Herrschaft des Volkes über das Volk ist, das heißt, das Volk muss beherrscht werden vom Volk. Man hat Parteien dazwischengeschoben, wir leben in einer Parteiendemokratie, und das bedeutet im Wesentlichen, dass Deutschland als Demokratie gebaut ist auf einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber einem Volk, das, wenn man es sozusagen bei seinem Willen ernst nehmen würde, auf Ideen käme, die man lieber nicht erleben möchte. Und genau das erleben wir ja gegenwärtig wieder. Wir leben also in einer kontrollierten Demokratie aus historischen Gründen, und es fällt uns extrem schwer, erstens das so auszusprechen und zweitens das eventuell zu korrigieren.
    Köhler: Also kann jeder Machthaber immer nur die Reichweite seiner Macht so weit bestimmen oder ausüben wie jene, die ihr zustimmen – ich rede jetzt paradox –, ja, auch zustimmen, also bereit sind, das hinzunehmen?
    Baecker: Ja, ganz genau, und das Interessante daran ist jetzt wiederum aus soziologischer Sicht, dass natürlich jeder, der für sich sich fragt, will ich Machtausübung über mich zulassen, eher zu einem Nein neigt. Wer will schon in einer unfreien Situation des Machtunterworfenen leben? Wenn aber dieselben Machtunterworfenen sich umschauen und sich in ihrer Gemeinschaft von Zeitgenossen umschauen und sich dann die Frage stellen, welche Art von Machtausübung möchte ich denn über meine Zeitgenossen ausgeübt sehen, dann steht die Machtbereitschaft schon auf einem ganz anderen Blatt, dann möchte ich nämlich ein hohes Maß an Macht, damit meine eigenen Mitmenschen unter Kontrolle sind und sich so benehmen, dass ich meinen Geschäften nachgehen kann, dass ich meine Kinder in die Schule schicken kann, dass ich mich einigermaßen sicher im Verkehr bewegen kann, dass ich nachts auf die Straße gehen kann und so weiter und so fort. Das heißt, wir legitimieren Macht wegen ihrer Ausübung über Dritte, nicht unbedingt wegen ihrer Ausübung über uns selbst.
    Köhler: Das ist interessant, denn im Wesentlichen beziehen ja die Protestbewegungen – egal wie sie jetzt heißen, parlamentarisch oder außerparlamentarisch – ihre Energie daraus, dass sie gegen etwas sind. Das hindert sie aber nicht daran, dass sie nach innen ja Gefolgschaften organisieren müssen, das heißt, sie kommen aus dem Machtzirkel gar nicht raus.
    "Diejenigen, die der Macht unterworfen sind, tun vieles dafür, um ihrerseits selbst die Macht auszuüben"
    Baecker: Nein, das wollen sie ja auch nicht. Ich meine, das Machtspiel in Demokratien, aber auch außerhalb von Demokratien besteht darin, dass diejenigen, die der Macht unterworfen sind, alles dafür tun oder vielleicht besser gesagt vieles dafür tun, um ihrerseits selbst die Macht auszuüben. Man hat es also immer mit Machtausübung und Machtwiderstand oder eben in demokratischer Form mit Regierung und Opposition zu tun. Und ob nun die Opposition im Parlament sitzt oder ob sie außerhalb des Parlamentes ihre Oppositionsrolle ausübt, es geht immer um dasselbe, nämlich um den Erwerb von Macht. Wer also so tut, er sei wegen der Macht gegen die Macht, der lügt.
    Köhler: Das ist interessant, weil es an einen Kern rührt, nämlich der Repräsentationsansprüche. Wer spricht da eigentlich für wen?
    Baecker: Ja, gute Frage. Legitimationsansprüche, Repräsentationsansprüche sind ja so eine Art von Diskurs von frei flottierenden Vokabeln, die in einer Öffentlichkeit, in einer halben Öffentlichkeit, in einer natürlich auch verdeckten Öffentlichkeit sozusagen der Hinterzimmer bewegt werden, um zu testen, wer ist eigentlich zu was bereit, welche Themen müssen eigentlich eine Regelung finden, wer würde mir zustimmen, wer würde mich ablehnen. Es ist ganz schwer zu sagen, wer da Ross und wer Reiter ist, es ist eher so eine Art von, ja, Selbstthematisierung der Gesellschaft, die sich in einem unbestimmten Adressatenraum darüber klar wird, welche Art von Ordnung sie will und welche Art von Ordnung sie nicht will.
    Köhler: Verstehe ich recht, man muss sich also um das Verhältnis dieser Variablen kümmern, die irgendwie in eine Balance kriegen, damit das nicht zu Missbrauch entweder auf der ein oder anderen Seite führt?
    "Eine frei schwebende Konstruktion auf der Suche nach Leuten, die Lust haben, sich daran zu beteiligen"
    Baecker: Ja, genau so würde ich es formulieren. Es ist, wie Georg Simmel das so schön formuliert hat: Auch die Demokratie ist wie jede Gesellschaft eine frei schwebende Konstruktion, bei der jeder Einzelne – die Machthaber genauso wie die Bürger – sich überlegen, na ja in welchem Ausmaß nehme ich daran teil, in welchem Ausmaß nehme ich daran nicht teil, welche Art von Gesichtsausdrücken, zum Beispiel unter Politikern, stelle ich diesem Spiel zur Verfügung, wie oft stelle ich mich der Kamera, wann verweigere ich mich der Kamera. Es ist eine frei schwebende Konstruktion, die laufend darum wirbt, dass sich alle Beteiligten tatsächlich an ihre Beteiligten - auf der politischen genauso wie auf der bürgerlichen Seite -, während natürlich alle, die Politiker genauso wie die Bürger, sich laufend auch an anderen Spielen beteiligen, die außerhalb der Politik liegen. Also, noch mal formuliert: eine frei schwebende Konstruktion auf der Suche nach Leuten, die Lust haben, sich daran zu beteiligen.
    Köhler: Und in der spielt nach allem, also abschließend gefragt, natürlich Kommunikation eine ganz wesentliche Rolle.
    Baecker: Das Ganze ist ein kommunikativer Prozess, weil es geht natürlich auch immer um Handlungen, die daraus resultieren. Aber wenn meine Handlungen keine Beobachter finden, die daraufhin ihre eigene Handlung korrigieren oder nicht korrigieren, das heißt, wenn meine Handlung nicht in einem kommunikativen Raum der Abstimmung mit anderen stattfindet, dann war es keine Handlung, dann hab ich etwas an mir selbst vollzogen, ohne dass es andere interessiert.
    Köhler: Das sagt der Soziologe und Systemtheoretiker, der Schüler von Niklas Luhmann, Dirk Baecker. Er lehrt Kulturtheorie und Management an der Universität Witten-Herdecke und hat recht beeindruckende Bücher über Themen wie Organisation, Störung und Ähnliches geschrieben.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.