Barbara Eisenmann dokumentiert in zwei Gesprächen mit kritischen und aktivistischen Intellektuellen, wie das Soziale und Politische rekonstruiert und Konzepte wie "das Gemeinsame" oder "Demokratie" in Spanien neu bestimmt werden.
(Teil 2 am 29.5.16)
Das komplette Gespräch zum Nachlesen:
Barbara Eisenmann: Marina Garcés ist Philosophin. Sie ist 1973 in Barcelona geboren und Professorin für Philosophie an der Universität in Zaragoza. In ihren eigenen Arbeiten entwickelt sie ein absolut zeitgenössisches philosophisches Denken, das über die Postmoderne als ein Denken des Endes moderner Kategorien hinausgeht. Wir treffen uns in ihrer Wohnung in Barcelona.
Ich möchte zuerst einmal nach Ihrem Verhältnis zur Philosophie fragen, das in den 90er-Jahren begann - der Hochzeit des postmodernen Denkens, eines Denkens des Endes der Geschichte, des Subjekts, der großen Erzählungen -, aber auch, inwiefern Sie Ausgänge und Auswege aus der Postmoderne gefunden haben, und zwar im Sinne eines wie Sie schreiben: "Danachs des Danachs, in dem eine erneuerte Einfachheit notwendig wird". Also vielleicht auch im Sinne einer erneuerten Philosophie der Praxis mit neuen Formen des Sprechens und Handelns.
Marina Garcés: Ja, ich habe Anfang der 90er-Jahre begonnen, Philosophie zu studieren. Und das war auf gewisse Weise ein unzeitgemäßes Abenteuer, denn es bedeutete, sich gegen die Zeit selbst zu stellen, just nach 1989, dem Jahr, in dem das Ende der Geschichte gefeiert wurde oder auch nicht gefeiert wurde, was auf philosophischer Ebene dann aber zur Ausarbeitung dieses Moments führte, dieses historischen Wendepunkts, und zwar in Begriffen des Endes, sozusagen als Ausarbeitung eines Post. Ein Post zum einen, weil hier etwas abgeschlossen wurde: die Moderne, die Geschichte, die großen Erzählungen, die Revolution, die Ideologien und so weiter. Aber für andere Autoren auch ein Post, insofern sich an den Rändern dieses Endes etwas öffnete. Das heißt, es gab hier durchaus auch ein befreiendes Moment, denn dieses Ende bedeutete auch das Ende starker Identitäten und linearer Erzählungen. Dennoch blieb sehr wenig Raum dafür, denkend zu atmen, mit dem eigenen Leben zu denken. Denn alles musste sich auf dieses Ende beziehen, auf die Ausarbeitung dieses Endes eines Projekts. Was wir dann lernten, war vor allem die Ränder zu kommentieren, uns in den Spalten dieser Ruinen der Geschichte zu bewegen. Heute, 20 Jahre später, bearbeite ich - wie viele andere Leute von anderen Ecken des Diskurses her auch - das Danach dieses Danachs. Was kommt nach dem Danach? Wie lebt man nach dem Danach? Was denkt man nach dem Danach? Was für Forderungen, was für Herausforderungen stellt es an uns? Was es auf alle Fälle nicht mehr gibt, ist eine Zukunft in den Begriffen der Moderne und auch keine große Erzählung mehr, aber es sind da auch nicht mehr nur die Ruinen. Was wir heute beobachten, ist allerdings, dass sich eine neue Erzählung durchzusetzen beginnt, eine neue dominierende einzige Zeit, nämlich die unsrer eigenen Auslöschung. Das ist nicht mehr die Zeit der Geschichte und ihrer Zukunftsversprechen, sondern es ist auf gewisse Weise eine umgekehrte Geschichte, eine katastrophische Geschichte, die uns in die Situation bringt, uns als Aussterbende zu denken. Aussterben in allen denkbaren Bedeutungen: als Spezies, als Welt. Mir geht es nun darum, daran zu arbeiten, was sich dieser neuen einzigen Erzählung entgegensetzen lässt, die sich nach dem Ende der Geschichte durchzusetzen beginnt, und zwar als Geschichte vom Ende der Menschheit. Wie lassen sich von dort her neue Möglichkeiten des Denkens öffnen?
Eisenmann: Wir werden das im Lauf des Gesprächs vertiefen; ich wollte vorher noch etwas anderes fragen: Die Philosophie ist immer eine konkrete Aktivität, in Beziehung zu ihrer Zeit und ihrem Ort. Die französischen Denker Gilles Deleuze und Félix Guattari haben dafür den Begriff Geophilosophie erfunden. In Spanien gibt es im Moment, ich nehme das so wahr, eine außergewöhnliche Produktivität, und zwar als theoretische und praktische Aktivität, als Aktivität, die Philosophie und Aktivismus, aber auch institutionelle Politik mit den sozialen Bewegungen verknüpft. Wie würden Sie nun die Umweltbedingungen, wie Sie selber das nennen, des gegenwärtigen Moments in Spanien beschreiben, wo es nicht zu rechten und rechtsextremen Antworten auf die Krise gekommen ist wie an vielen anderen Orten, sondern zu solidarischen und kooperativen Antworten.
Garcés: Spanien oder im Allgemeinen die Iberische Halbinsel teilt eine merkwürdige Voraussetzung innerhalb der intellektuellen Geschichte Europas, nämlich die, keine eigene philosophische Tradition zu haben. Die Halbinsel des Denkens, wie ich das nenne, ist tatsächlich eine Halbinsel in diesem Sinne, sie hängt im Verhältnis zum europäischen Kontinent und seinen philosophischen und politischen Traditionen auf eine periphere und merkwürdige Weise an einem einzigen Punkt. Im Gegensatz dazu ist der gegenwärtige Moment einer dieser Orte, so würde ich sagen, und Sie beschreiben das sehr gut, einer dieser Orte, wo sich auf sehr experimentelle Weise akademische Disziplinen mit ganz konkretem Aktivismus verbinden, theoretisch legitimierte mit nicht legitimierten Wissensformen, die von woanders kommen. Es gibt in diesem Moment tatsächlich einen Reichtum an Denken, an Begriffen, an Praktiken, die miteinander verwoben sind, und die, wie ich glaube, sich vor allem durch ihre Experimentalität auszeichnen. Ich glaube auch, dass man auf dieser Halbinsel des Denkens, auf dieser Iberischen Halbinsel, überhaupt nur experimentierend denken kann, eben, weil es keine Tradition gibt, weil es keine Institution gibt, die die Theorie beaufsichtigt hätte. Und auch, weil es keine klassischen politischen Organisationen gibt, wegen der politischen Geschichte des Landes selbst. Und so haben wir es jetzt mit einem Moment der Öffnung zu tun, allerdings auch einer großen Härte, was die materiellen Bedingungen angeht, die sozialen, die das Leben vieler Leute betreffen, vor allem der jüngeren. Diese Experimentalität, gegen die eigenen Bedingungen andenken zu müssen, und zwar in Abwesenheit großer theoretischer Referenzen, das halte ich heute für eine Gelegenheit.
Eisenmann: Marina Garcés erörtert in ihrem vorletzten Buch, das bisher nicht auf Deutsch erschienen ist - "Eine gemeinsame Welt" heißt es -, die gegenwärtige Welt als eine Welt, in der unsere jeweils eigenen Angelegenheiten zu einem gemeinsamen Problem, einem Problem für uns alle, geworden sind.
Einer Ihrer Ausgangspunkte einer Philosophie für eine gemeinsame Welt ist die globale Interdependenz. Interdependenz hört auf, etwas Abstraktes zu sein, wird zu einer immer direkteren Erfahrung. Wir müssen in diesem Moment nur an die vielen Menschen denken, die in Europa Zuflucht suchen, auch vor den verheerenden Folgen eines globalen Kapitalismus flüchten. Diese wechselseitige Abhängigkeit bringt nun allerdings nicht automatisch eine neue Vorstellung eines Wir mit sich, im Gegenteil, sie verstärkt immunisierende Tendenzen und auch xenophobe einer extremen Rechten. Sie haben in Ihrem Buch "Eine gemeinsame Welt" die universalistische Tradition der Moderne unter die Lupe genommen und vor allem die Figur des Wir, die sich dort artikuliert. "Gemeinsam im Abstrakten und divers und entkoppelt im Konkreten", so die Zusammenfassung. Könnten Sie diesen Faden der Moderne einmal ausrollen?
Garcés: Nun, die Moderne hat sich historisch selbst vernichtet, allerdings nicht so sehr konzeptionell. Dass die Geschichte im modernen Sinn des Wortes zu Ende ist, als eine Erzählung, die in der Zukunft ihren eigentlichen Sinn hat, wurde durch die Geschichte selbst vernichtet. Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert dieser Katastrophe. Nicht nur wegen der Weltkriege, auch die ersten Katastrophen, die mit der Produktion verknüpft sind: Bhopal, Tschernobyl. Also diese zerstörerische Dimension nicht nur der Politik, sondern der produktiven Maschine selbst. Und dennoch denken wir uns nach wie vor in Bezug auf diese Geschichte, die sich selbst zerstört hat, denken uns mithilfe moderner Kategorien: des Nationalstaats, als ein Wir in Bezug zum Nationalstaat, als kulturelle Identitäten, also nationale, religiöse, rassische. Und schließlich mithilfe der abstrakten Idee einer Menschheit, die ebenfalls eine moderne Erfindung ist, eine christlich-moderne, die sich heute allerdings anders darstellt. Denn das Ganze der Menschheit ist heute kein abstraktes Ideal mehr, kein Projekt, das es zu verwirklichen gilt, es ist vielmehr die Konkretion der Körper der menschlichen Spezies in ihrer Gesamtheit, verbunden mit einem erschöpften Planeten, der durch die Aktivität aller Menschen zusammen vernichtet wird. Das heißt, das Wir, das heute auftaucht, ist keine ideale Projektion mehr, es handelt sich vielmehr um eine konkrete Realität und um ein Ganzes, eine neue Totalität. Und wir wissen noch nicht, wie wir uns dazu in Beziehung setzen sollen, wir haben keine Erzählungen, keine Begriffe, keine Konzepte, um auf dieser ganz konkreten und bedrohlichen Ebene Wir zu sagen.
Eisenmann: Ich möchte noch einmal zurück zur Geschichte. Es gibt neben der Erzählung der universalistischen Moderne auch andere historische Fäden, unsichtbar gemachte. Und Sie sprechen von dieser anderen emanzipatorischen Tradition, in der auch das Wir anders bearbeitet wurde. Möglicherweise lassen sich dort Bezugspunkte finden, um die heutigen Probleme zu artikulieren.
Garcés: Ja, es gibt Fäden und Traditionen, Erfahrungen und Lektionen, nicht so sehr allerdings der Geschichte als linearem Rahmen, sondern der Vergangenheit, der akkumulierten Vergangenheit, die immer virtuell ist, die uns aber Werkzeuge zur Verfügung stellt, mit denen man leben und denken kann. Auch Praktiken, in denen das Wir keine Projektion ist, keine Identität, kein Projekt, sondern das, was uns wirklich zum Leben als einem gemeinsamen Problem verpflichtet. Praktiken der Solidarität, der gegenseitigen Hilfe, der Erfindung von Formen des Lebens, die von dieser Verbindung ausgehen und sie nicht bloß projizieren. Die davon ausgehen, dass Wir zu sagen, bedeutet, Formen zu finden. Und das können auch sehr materielle und konkrete Formen des Zusammenlebens sein, auch normative, institutionelle, kulturelle et cetera. Das Zusammenleben selbst ist also das Wir. Wir sind die, die sich nicht ausgewählt haben und trotzdem zusammenleben. Warum? Weil das Leben ein gemeinsames Problem ist. Niemand regelt sein Leben allein, niemand kann allein leben im eigentlichen Sinn des Wortes. Und deshalb benötigt die Fiktion des Individualismus, die Fiktion der Privatisierung der Existenz - die einen neben dem anderen, uns aber nicht zusammen leben lässt - dieses abstrakte Wir, diese vollständig erfundenen Figuren des Wir. Für mich ist das Wir aber die Prämisse: Wir sind immer schon hier, ausgehend von Verbindungen, die es auszuarbeiten gilt, damit sie, statt die Quelle von Reibungen und Konflikten, eben die Basis für gemeinsame Aktionen und ein gemeinsames Leben sind. Wenn wir also den Plural zum Ausgangspunkt des sozialen Lebens machen und nicht das Individuum, wenn wir das Leben als bereits plural begreifen, obwohl es singulär ist, stellt sich als fundamentales politisches Problem die Frage: Was trennt uns? Und nicht die Frage: Wie gelingt es uns, zusammen zu sein? Die Fragen, wie gelingt es uns, zusammen zu sein oder was haben wir gemeinsam oder wie können wir kollektive Lebensformen finden, nehmen das Individuum als Ausgangspunkt, Basis und Fundament der sozialen Organisation. Wir haben es hier mit einer sehr konkreten historischen Erfindung zu tun, die im 18. Jahrhundert ihren Ausgang nahm, mit der Marktwirtschaft, mit Locke und eben mit einer Ausarbeitung des Individuums als Atom des sozialen Lebens. Mir geht es aber darum, diesen Ausgangspunkt zu verlassen und zu zeigen, dass das Wir am Anfang steht und dass die Verpflichtung nicht etwas ist, was eingelöst oder aufgelöst werden kann wie im Gesellschaftsvertrag - das ist genau die Fiktion des Gesellschaftsvertrags -, sondern dass wir einander bereits verpflichtet sind in Räumen eines gemeinsamen Lebens oder in Beziehungen zu anderen, die mehr oder weniger komplexe Gesellschaftsformen annehmen.
Eisenmann: Könnten Sie einmal die Differenz zwischen zwei verschiedenen Konzeptionen des Gemeinsamen erläutern: Ihre eigene, also die eigenen Angelegenheiten als gemeinsame Probleme zu konzipieren, und diese neue/alte Idee von Gemeinschaft im Sinne einer Menschheitsutopie, wie sie Theoretiker wie Alain Badiou oder Slavoj Žižek vertreten, wenn sie von Kommunismus sprechen.
Garcés: Nun in dieser Krise der unterschiedlichen Formen, die wir aus der Moderne geerbt haben, Wir zu sagen und das kollektive Leben zu organisieren, ist eine der Reaktionen die, am Faden einer Nostalgie zu ziehen, die wiederum sehr typisch modern ist, nämlich die Nostalgie einer Gemeinschaft. Die Idee einer Gemeinschaft als etwas Organischem, Reziprokem, Egalitärem ist eine moderne Idee. Sie ist durch das moderne Leben, das urbane Leben, das von den ursprünglichen Gemeinschaften entwurzelte Leben, die die Leute zurückgelassen hatten, auch, weil es Systeme der Unterdrückung waren, besonders für Frauen waren das sehr geschlossene Lebensgemeinschaften, überhaupt erst hergestellt worden. Nun wird also die Gemeinschaft als Projekt, die Gemeinschaft als Nostalgie, der eine moderne Idee zugrunde liegt, in heutigen Krisenzeiten - also einer Krise des Sozialen, des Staates, aber auch des modernen politischen Subjekts - zu einem Ort, von dem her die Verbindung neu gedacht werden könnte. Ich habe dieser Reaktion gegenüber allerdings eine sehr kritische Haltung, einmal, weil ich sie für nostalgisch und abstrakt halte, zum anderen aber auch, weil eine Gemeinschaft, die von Wert ist, dies immer nur als ganz konkrete Form der Organisation des kollektiven Lebens sein kann. Wir können von Gemeinschaften überhaupt nur im Plural sprechen oder als gemeinschaftliche Erfahrungen im Plural. Es gibt Nutzergemeinschaften, Leute, die irgendetwas gemeinsam benutzen; es gibt Gemeinschaften von Leuten, die von etwas gemeinsam betroffen sind; es gibt Nachbarschaftsgemeinschaften. Was leisten diese Gemeinschaften, die sich von den Versprechen und Nostalgien entkoppelt haben? Nun sie geben dem Leben als einem gemeinsamen Problem eine Form.
Eisenmann: Der französische Soziologe Henri Lefebvre hat bereits 1965 konstatiert, dass wir im planetarischen Zeitalter leben. Das Überleben auf dem Planeten und das Überleben des Planeten selbst sind zu einem Problem für uns alle geworden. Und das ist für Marina Garcés die philosophische Ausgangssituation, von der her sie in ihrem neuen Buch "Unfertige Philosophie", das auch nicht ins Deutsche übersetzt ist, zu denken beginnt.
Garcés: Dieses Konkret-Werden der Menschheit, also dass die Menschheit keine Projektion mehr ist, auch keine abstrakte Idee, sondern dass sie in dem Moment konkret wird, in dem die Interaktion und die Folgen der Handlungen eines jeden Einzelnen und auch jeder Kollektivität hinsichtlich des Ganzen des Körpers des Planeten eine derart große Auswirkung haben auch auf die Lebensbedingungen jedes Einzelnen, das kennzeichnet das planetarische Zeitalter. Es geht nicht mehr bloß um die globale Welt des Kapitalismus, es geht nicht mehr bloß um die Internationalisierung der Kommunikation. Wir haben es vielmehr mit etwas zu tun, das materiell geworden ist. Eine Materialität, die nicht die des Ökonomischen ist, sondern die von Körpern, und zwar nicht bloß verstanden als Natur im klassisch ökologischen Sinn, sondern die von Körpern, die zusammenleben und so den Körper des Planeten bilden. Die ersten Erfahrungen damit werden im 20. Jahrhundert gemacht. Und deshalb gibt es da auch eine ganze Reihe von Autoren, die von dieser neuen, konkreten materiellen Totalität sprechen, die uns in ein Ganzes hineinzieht, das wir vorher so niemals denken mussten: die Atombombe. Und so beginnen in den 50er-Jahren, in den 60er-Jahren Autoren wie Anders, Lefebvre, Russell und andere von dieser Möglichkeit her zu denken und zu fragen: Wer sind wir als Subjekt? Als Subjekt von Entscheidungen, von Handlungen, auch als Subjekt von Werten und Ideen. Heute sind wir weiter, weiter als die Atombombe. Denn es ist unsere eigene Lebensweise, in die wir, ohne etwas zu entscheiden und ohne einen Knopf zu drücken, verwickelt sind und von der die mögliche oder tendenziell totale Zerstörung der Lebensbedingungen auf dem Planeten abhängt. Und diese planetarischen Bedingungen bedeuten, dass wir uns in subjektiven Begriffen denken müssen. Subjektiv heißt hier wirklich, wer entscheidet, wer handelt, wer bewertet die Folgen seiner Handlung. Und dieses Wer multipliziert sich auf eine Weise und in einer Vielfalt, die buchstäblich unsere Schemata sprengen. Wie können wir uns als Subjekte unserer Handlungen in diesem Maßstab überhaupt denken? Im konkreten Leben jedes Einzelnen passiert das ständig. Was mache ich als individuelles konkretes Subjekt, um zu vermeiden, dass das, was ich tue, die Lebensbedingungen des ganzen Planeten verschlechtert? Aber wenn ich im Verhältnis zum Planeten nichts bin, hat diese Frage gar keinen Sinn. Aber auch, wer sind wir alle als Handlungssubjekt, wenn es keinen Ort gibt, wo sich dieses Ganze oder die Entscheidungen für dieses Ganze anprangern ließen. Wir haben noch keine Institutionen für diese Ebene erfunden und auch keine Formen, wie ein kollektives Bewusstsein auf dieser Ebene auszuarbeiten wäre. Und dieser Sprung ist, glaube ich, heute der Ort, wo wir sowohl praktisch in Kollektiven arbeiten müssen, in den sozialen Bewegungen, in der Entwicklung von Praktiken, aber wir müssen auch Kategorien und Konzepte dafür finden. Denn das klassische politische Subjekt hat ausgedient, wenn es darum geht, uns im planetarischen Zeitalter zu denken.
Eisenmann: Da fällt mir dieses "Danach des Danachs" als Ausgang aus der Postmoderne wieder ein, von dem wir anfangs sprachen, und zwar, weil es sich durch eine körperliche Wende auszeichnet, im Gegensatz zur linguistischen Wende der postmodernen Philosophie, deren Koinzidenz mit dem Neoliberalismus auch zusammengedacht werden muss. Wie, auf welche Weise taucht der Körper heute auf, auf der Suche nach Auswegen aus der postmodernen Kultur und dem neoliberalen Kapitalismus?
Garcés: In dieser Sackgasse, in der sich uns all diese Fragen stellen, erhält der Körper beinahe den Status einer zentralen Referenz oder eines Scharniers, von dem her sich all diese Dimensionen des Denkens und des Handelns, die die Maßstäblichkeit verloren haben, die uns entgleiten, verbinden lassen. Und zwar weil der Körper so wie wir ihn heute denken - nicht mehr als Körper-Maschine, aber auch nicht nur als anatomischer Körper, sondern als dieses Gesamt von Beziehungen, die uns ausmachen -, der Ort ist, wo sich konkret und historisch alle Bedingungen der Materialität finden - einer Materialität, die widerständig und zugleich zerstörerisch ist. Und wir befinden uns an diesem Ort. Dieser prekarisierende Kapitalismus, dieser toxische Kapitalismus, dieser zerstörerische Kapitalismus, da, wo er schließlich hindurchgeht, das ist ja nichts Abstraktes, es sind unsere Körper, Körper, die leiden. All diese modernen Krankheiten, die gleichzeitig psychisch und organisch sind, toxisch und fast spirituell, sind mit den Formen des Lebens verknüpft. Und der Körper ist auch der Ort, wo sich dieses Subjekt selbst begegnet, das sich in keiner anderen früheren Repräsentationsform mehr ausdrücken kann. Wir sind nicht mehr nur nationale Subjekte, wir sind nicht mehr nur Klassensubjekte, wir sind nicht mehr nur Subjekte einer bestimmten Kultur. Aber was sind wir dann? Wir sind dieses Gesamt von Körpern, die zusammenleben, die gemeinsam ihre Aggressionen, ihre Wünsche, ihre Würde ausarbeiten. Körper und Würde, das sind für mich die zwei Seiten, die materielle und die politische, dessen, was die neuen Kartografien des Politischen sein können.
Eisenmann: Espai en Blanc - übersetzt: Leerzeichen -, ein Kollektiv, das die Philosophin Marina Garcés mitbegründet hat, beschäftigt sich schon länger experimentell mit neuen Formen des Politischen in kollektiven Filmprojekten und Publikationen.
Nun sind seit 2011 mit dem Auftauchen neuer politischer Subjekte fast überall auf der Welt der Körper, aber auch das Anonyme sichtbar geworden; man könnte sagen, anonyme Körper auf Plätzen, in öffentlichen Räumen, an gemeinsamen Orten wie Tahrir oder Taksim. Auch in Spanien, dort hat sich die sogenannte Bewegung des 15. Mai gebildet, ausgehend von der Besetzung eines Platzes mitten in Madrid am 15. Mai 2011. Inzwischen sind daraus neue politische Akteure entstanden, die seit einem Jahr viele Rathäuser regieren, auch die von Madrid und Barcelona. Wie würden Sie dieses Wir beschreiben, auch im Sinne einer neuen politischen Subjektivität, die vielleicht aus der Fragmentierung, Isolierung und Privatisierung heraushilft?
Garcés: Die Potenz einer Bewegung wie der des 15. Mai und all den anderen damit korrespondierenden Bewegungen im Jahr 2011 an so vielen Orten war die Potenz von Körpern, die sich zusammenfinden, auf Plätzen, in den Straßen, die zusammen essen, miteinander sprechen, die alle möglichen Materialien ausarbeiten, und zwar ausgehend von ihrer Singularität und ihrer Anonymität und von der Potenz eines: Wir sind einfach da. Und zwar nicht da, vermittelt über eine Forderung oder ein bestimmtes politisches Label, sondern wir sind einfach da: Wir existieren. Im Pressentiment, einer kollektiven, anonymen Veröffentlichung, haben wir damals ein Blatt gemacht, auf dem stand: Unsere Gewalt ist unsere Existenz. Unsere bloße Existenz sprengt den Rahmen. Was bedeutet das? Dass diese Existenz gewaltig ist, insofern sie alle Repräsentationsformen der politischen Identität infrage stellt, aber auch, dass sie fragil ist. Potent und gleichzeitig fragil, weil sie sich zerstreut, weil sie sich verliert im Alltäglichen des Lebens, der Arbeit, der Stadt und schließlich der Privatisierung des Lebens: Man geht nach Hause und schließt sich ein. Was nun können die Confluencias leisten? Also diese neuen politischen Räume, die neuen Parteien, die in Teilen aus dieser Erfahrung der Bewegung der Plätze entstanden sind und in Teilen nicht, weil sie nicht einfach eine lineare und direkte Übersetzung dieser Erfahrungen sind, sondern eben auch auf die Leerstelle antworten, die die alte Politik erzeugt hat. Was können sie also leisten hinsichtlich der Wünsche nach anderen Formen von Leben? Ich glaube, sie zeigen sehr schön die Idee, dass die Politik kein geschlossenes und stabiles System ist, sondern dass Politik ein offenes System ist, mit vielfachen Eingängen und Ausgängen, abhängig von in Zeit und Raum konkreten Projekten. Das heißt, diese alte Idee, dass Parteien, die rechts oder links sind, uns repräsentieren würden, das hat sich radikal geändert. Ich glaube, inzwischen haben wir es mit einem viel instrumentelleren Begriff von politischem Projekt zu tun und auch mit einem viel weniger identitären, in dem es darum geht, dass Leute, Bürger, Kollektive zusammentreffen und für bestimmte Zwecke zusammenarbeiten. Und auch, dass das nicht schon das Ganze politische Leben ist. Das heißt, nicht nur sind die Parteien nicht mehr die Repräsentation des Volks, sondern die Politik ist nicht mehr das Ganze unserer politischen Leben, sondern diese politischen Leben finden auch an vielen anderen Orten statt: auf der Straße, bei der Arbeit, Zuhause, in der Erziehung und so weiter. Und das ist das Beste, was dieses neue Magma aus Parteien, Nicht-Parteien, Confluencias gebracht hat. Aber das politische System ist sehr stark und seine Logik erlaubt wenig Variationen. Es ist schwer, die Türen und Fenster offen zu halten, wenn man auf Wahlzyklen reagieren muss, auf Repräsentationslogiken, auf Verhandlungen. Und da, glaube ich, haben wir vielleicht etwas vorschnell die alte Politik für tot erklärt. Denn die alte Politik, das sind nicht nur die Parteien, es ist vielmehr ein ganzes juridisch-institutionelles System, das seine eigene Logik hat und sehr viel Macht - Macht im Sinne von maßgeschneiderter Wirklichkeitsherstellung -, und alles, was sich diesem Funktionsmodus nicht anpasst, muss draußen bleiben. Aber gut, das ist auch die Bresche, die in diesem Moment offen ist.
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