Im Grundsatz verteidigte Schäfer-Gümbel die Arbeitsmarktreform. Diese habe Deutschland vorangebracht. Es gehe nicht um ein Infragestellen der Reform. Da, wo es aber Fehler gebe, müsse nachjustiert werden. Als Beispiel nannte er die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I. Mehr soziale Sicherheit helfe die Veränderungen, die es in der Arbeitswelt gebe, zu gestalten. "Angst und Sorge vor Veränderung ist nie ein guter Ratgeber", meinte Schäfer-Gümbel.
Zudem sprach sich der hessische SPD-Politiker dafür aus, Beschäftige stärker zu fördern. In einer sich stark veränderten Arbeitswelt stiegen die Anforderungen und der Bedarf an Qualifizierungsmaßnahmen. Der designierte Kanzerkandidat der SPD, Schulz, hatte angekündigt, er werde die "Agenda 2010" des damaligen Bundeskanzlers Schröder in einigen Punkten korrigieren.
Das Gespräch in voller Länge:
Sandra Schulz: Mitgehört hat der stellvertretende SPD-Vorsitzende, der sozialdemokratische Landeschef in Hessen, Thorsten Schäfer-Gümbel. Schönen guten Morgen.
Thorsten Schäfer-Gümbel: Schönen guten Morgen, Frau Schulz.
Schulz: Ich würde gerne anfangen mit einem Zitat von Martin Schulz über die Agenda-Politik. Das geht so: "Unser Land befindet sich auch wegen dieser Reform inzwischen ökonomisch wieder auf einem Spitzenplatz." Das hat er in seinem Buch "Der gefesselte Riese" 2013 geschrieben. Warum rückt er davon jetzt ab?
Schäfer-Gümbel: Er rückt davon nicht ab, weil beides wahr ist. Deutschland ist ökonomisch so erfolgreich, weil es die Sozialreformen gegeben hat. Aber es gab Nebenwirkungen dieser Reformen, die damals übrigens schon diskutiert wurden. Deswegen war die SPD immer der Auffassung, dass der Mindestlohn gleichzeitig kommen muss. Damals gab es unter anderem auch aus der Gewerkschaftsbewegung deutliche Kritik daran mit Blick auf die Sozialpartnerschaft. Deswegen ist das auf der einen Seite nicht gekommen, auf der anderen Seite nicht wegen den Mehrheiten im Bundesrat, die damals schwarz-gelb dominiert waren. Deswegen geht es um die Nebenwirkungen dieser Reform. Es geht nicht um die Frage, grundsätzlich irgendetwas hier in Bausch und Bogen abzulehnen, zumal in der Agenda 2010 ja ganz viele Dinge auch waren, die nie umstritten waren, beispielsweise was den Ausbau der Kinderbetreuung angeht oder der Ganztagsschulen.
Die Agenda 2010 nachjustieren
Schulz: Können wir das denn an dieser Stelle festhalten, weil das ja eine ganz entscheidende Frage sicherlich auch im Wahlkampf werden wird, wie es die Sozialdemokraten halten mit der Agenda 2010? Die steht wie ein Fels in der Brandung? Und alles andere, die Berichte auch von gestern, das war ein großes Missverständnis? Ist es das, was Sie uns heute Morgen sagen wollen?
Schäfer-Gümbel: Nein, nein, nein, nein, nein, nein! Das ist weder ein Missverständnis oder ein infrage stellen, sondern es ist schlicht und einfach so, dass die Agenda 2010 ein großes Reformprojekt war und ist, dass das Land vorangebracht hat, in dem viele wichtige Teile und richtige Teile sind, dass aber an anderen Stellen auch Nebenwirkungen hatte, die sich in den letzten Jahren verschärft haben. Deswegen hat Martin Schulz gestern klar gesagt: Da wo es Fehler gibt, muss auch korrigiert werden. Das gilt beispielsweise für die Frage des Arbeitslosengeld-I-Bezugs, und der Hintergrund davon ist, dass in einer sich weiterhin stark verändernden Arbeitswelt (Stichwort Digitalisierung, Industrie 4.0) die Qualifizierungsbedarfe für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter deutlich steigen und wir deswegen den Punkt Fördern und Fordern auf der Förderseite ausbauen wollen. Auch das hat er gestern angekündigt. Deswegen geht es nicht um ein infrage stellen, sondern es geht um Nachjustieren, so wie Sie es in der Anmoderation auch gesagt haben.
Mit sozialer Sicherheit die Arbeitswelt gestalten
Schulz: Experten sagen aber, gerade dieser kurze Bezug des Arbeitslosengeldes I, dieser ganz starke Anreiz, sich wieder einen neuen Job zu suchen, das ist ein ganz wichtiger Punkt dafür, dass die Agenda-Reform auch diese Wende am Arbeitsmarkt herbeigeführt hat. Um das noch mal zu sagen: Als die Reform eingeführt wurde, da lag die Arbeitslosigkeit bei zehn Prozent oder auch sogar darüber; jetzt im Moment sind ja so viele Menschen in Arbeit, wie seit 25 Jahren nicht. Das war ein Fehler?
Schäfer-Gümbel: Wir haben das damals schon diskutiert. Das war genau einer der umstrittensten Punkte in der Reform, innerparteilich mit den Gewerkschaften, aber auch öffentlich. Und die Teile der Experten, die sich gerade zu Wort melden und erklären, genau dass dieser Punkt, den Martin Schulz kritisch sieht und auch viele andere, dass man den auf jeden Fall halten soll, sind nun mal auch in der Regel Leute, die uns anderweitig Vorschläge machen, die aus unserer Sicht nicht zielführend sind, weil wir davon überzeugt sind, dass mehr soziale Sicherheit am Ende dazu hilft, auch die Veränderungen, die wir in der Arbeitswelt erleben, zu gestalten. Angst und Sorge vor Veränderung ist nie ein guter Ratgeber, weder persönlich noch gesellschaftlich.
Bessere Job-Perspektiven für Jüngere schaffen
Schulz: Das ist jetzt eine erste Konkretisierung auf dieses Thema, das Martin Schulz ja setzen will: das Thema Gerechtigkeit im Wahlkampf. Ist unser Land im Moment denn ungerecht?
Schäfer-Gümbel: Es gibt ganz sicherlich ungerechte Situationen. Das gilt beispielsweise für die Frage, in welcher Art und Weise Entlohnungen auseinandergehen. Es gilt aber ganz besonders dafür, wie die Perspektiven für jüngere Menschen sind. Ich will auch mit Blick auf die Irritation, die es gestern gegeben hat bei Zahlen, noch mal darauf hinweisen, dass jeder sechste Arbeitnehmer zwischen 25 und 34 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in einer befristeten Beschäftigung ist, und das ist der Grund, warum wir sagen, gerade in der Familiengründungszeit, dass wir Sicherheit wollen, und nicht, dass die jungen Leute in eine Befristung nach der nächsten gehen, dass sie in Werkvertragskonstruktionen gehen, in Leiharbeit, und das sozusagen in Dauerreihenfolge. Deswegen wollen wir die sachgrundlosen Befristungen abschaffen – übrigens nicht erst jetzt, sondern das stand schon im Wahlprogramm zu dieser Bundestagswahl, also zu der im Jahr 2013. Aber es war mit unserem Koalitionspartner dezidiert nicht umsetzbar. Wir bleiben aber dabei, dass die sachgrundlose Befristung aus unserer Sicht …
Probleme mit der Sozialpartnerschaft
Schulz: Herr Schäfer-Gümbel, kann ich darauf noch zu sprechen kommen, was Sie sagen, es gibt diese Ungerechtigkeiten? Wie kann das denn sein in einem Land, in dem seit fast 20 Jahren mit nur einer Unterbrechung Sozialdemokraten an der Regierung beteiligt sind?
Schäfer-Gümbel: Na ja, weil natürlich nicht alles politisch und staatlich entschieden wird, und gerade mit Blick auf die Frage, ob die Sozialpartnerschaft funktioniert, haben wir ja nun eine ganze Reihe von Problemen. Mit dem Mindestlohn-Gesetz, wo wir wirklich froh sind, dass wir es hingekriegt haben, ist ja eine ganz wesentliche Entscheidung mit gefallen, nämlich dass die Übergangsregelungen nur dann funktionieren, wenn sie in Sozialpartnerschaft umgesetzt werden, also Tarifverträge abgeschlossen werden zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Aber die Flucht aus Tarifverträgen und damit auch der Regelung von allgemeinen Arbeitsbeziehungen in den Betrieben, die nicht staatlich organisiert werden, sondern die Teil der Sozialpartnerschaft sind, da muss man dafür sorgen, dass die Gewerkschaften dort auch starker und auf Augenhöhe agierender Partner sind, gleichzeitig auch im Unternehmerlager dafür sorgen, dass es wieder mehr Unternehmen gibt, die sich auch in den Verbänden organisieren. Das ist eines der wesentlichen Themen. Das können Sie nicht einfach über eine Verordnung oder ein Gesetz machen, sondern da sind gesellschaftlich Dinge passiert, die man jetzt nachjustieren muss.
"Es geht nicht nur um die Ausbildung, sondern auch um Weiterbildung"
Schulz: Kann Martin Schulz dann aber auch nicht, oder?
Schäfer-Gümbel: Wir können erhebliche Impulse geben. Beim Mindestlohngesetz haben wir es gemacht und Sie sehen die Wirkungen in Ostdeutschland, wo die Tarifbindungen angestiegen sind mit dem Mindestlohngesetz und wir wollen auf diesem Weg weitermachen. Das gilt beispielsweise auch für die Frage der Mitbestimmung. Wir haben – ich will es wiederholen – erhebliche Qualifizierungsbedarfe bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Es geht nicht mehr nur um die Ausbildung, sondern es geht auch um Weiterbildung und Fortbildung mit Blick auf die Veränderung in der Arbeitswelt. Und die Arbeitsmarktpolitik, die betriebliche wie die staatliche und die sozialpartnerschaftliche so auszurichten, dass man diesen Qualifizierungsbedarfen besser gerecht wird, das ist, glaube ich, eine der Hauptaufgaben, die wir in den nächsten Jahren haben werden.
Schulz: Aber wie passt das denn zusammen? Sie sagen jetzt, was die Sozialdemokraten alles schon gemacht haben. Trotzdem gibt Martin Schulz ja eine Zustandsbeschreibung unseres Landes, so wie er es jetzt im Moment sieht im Jahr 2017, wenn er sagt, die gefühlte und die tatsächliche Ungleichheit, die nehme zu. Setzt er damit den Ton im Wahlkampf? Geht es da um gefühlte Wahrheiten?
"Befristete Beschäftigung ist eine große Gerechtigkeitsfrage"
Schäfer-Gümbel: Nein, das würde ich ausdrücklich nicht akzeptieren, Frau Schulz. Der entscheidende Punkt ist, dass wir wissen, dass wir einige Sachen verändern konnten, dass wir deutlich mehr erreichen wollen und müssen, und ich habe unter anderem vorhin schon mal darauf hingewiesen, wie die Lohn- und Gehaltsentwicklungen in den letzten Jahren waren. Deswegen ist es für uns auch so wichtig, dass wir jetzt bei hohen Managergehältern auch zu Beschränkungen kommen, bei der steuerlichen Abzugsfähigkeit, dass das öffentlich verhandelt wird, damit wieder klar wird, dass das, was in Vorstandsetagen verdient wird, auch etwas damit zu tun hat, was bei der Mitarbeiterschaft verdient wird. Das ist eine Frage, die brandaktuell ist, die eine aktuelle Gerechtigkeitsfrage ist.
Die Frage der befristeten Beschäftigung ist eine zweite große Gerechtigkeitsfrage, und das sind Themen, die haben sich beschleunigt, die haben sich weiterentwickelt, und zwar in eine Richtung, wie wir sie nicht gut finden. Und deswegen muss man sich daran gewöhnen: Reformpolitik, sozialdemokratische Reformpolitik bedeutet, dass man immer auch den ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklungen eine neue Antwort gibt und dass das kein statischer Prozess ist. Es gibt keine Reform, die Sie irgendwann zu einem Zeitpunkt X beschließen und die dann für alle Zeiten gilt, sondern Reformpolitik bedeutet, dass man immer den Veränderungen in Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft auch Rechnung trägt.
Schulz: … sagt der stellvertretende SPD-Vorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank für das Interview.
Schäfer-Gümbel: Ihnen auch. Schönen Tag noch.
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