Mario Dobovisek: Da musste sich Martin Schulz gestern Abend erst einmal kräftig räuspern. Im zweiten Anlauf dann klappt es. Vor laufenden Kameras tritt er zurück von seinem Amt als Vorsitzender der SPD - mit sofortiger Wirkung. So weit, so erwartbar. Dann die Überraschung, die sich durch das Rumoren den Tag über schon andeutete: Andrea Nahles wird nicht die Neue an der Spitze der SPD, jedenfalls noch nicht. Erst mal übernimmt SPD-Vize Olaf Scholz die Geschäfte kommissarisch.
Wir sprechen gleich mit einer Minderheitenposition innerhalb der SPD. So sieht es jedenfalls SPD-Vize Thorsten Schäfer-Gümbel mit Blick unter anderem auf die Parteilinke, auf die GroKo-Gegner, jene, die auch gerne eine Urwahl für den Parteivorsitz gehabt hätten.
"Ich verstehe das Durcheinander, das in den letzten Tagen entstanden ist, dass gerne auch im journalistischen Umfeld die Äußerungen von Kleinstgruppen, die 0,2 Prozent der Mitglieder der SPD vertritt, zum Gegenstand der Mehrheitsmeinung in der SPD gemacht wird, und das ist einfach nicht so. Dafür haben wir demokratische Gremien wie den Parteivorstand, wie den Bundesparteitag, und dort werden die Entscheidungen auch fallen."
Dobovisek: Soweit Thorsten Schäfer-Gümbel aus dem SPD-Bundesvorstand gestern in unseren "Informationen am Morgen". Jetzt bei uns am Telefon ist die SPD-Linke Hilde Mattheis, Abgeordnete im Bundestag. Guten Morgen, Frau Mattheis.
Hilde Mattheis: Guten Morgen.
"Wir sind keine Splittergruppe"
Dobovisek: Erkennen Sie sich in dieser Beschreibung Ihres Parteifreundes wieder, Kleinstgruppe, 0,2 Prozent? - Da lachen Sie.
Mattheis: Nein, ich lache nicht über diese Aussage, sondern ich lache darüber, dass wir nur 0,2 Prozent sein sollen. Wenn ich das richtig einschätze, ist diese NoGroKo-Bewegung durchaus ganz weit in der Basis verankert. Und es ist ja schön, wenn das "Forum Demokratische Linke" als Minderheitentruppe bezeichnet wird, aber das sind wir nicht in unserer Haltung.
Dobovisek: Wer ist da blind, Sie oder die Parteiführung?
Mattheis: Ich will da nicht von Blindheit reden, sondern ich glaube, die Einschätzung ist eine unterschiedliche. Und wenn man sagt, dass die Parteibasis eine Große Koalition will, dann habe ich eine andere Wahrnehmung, und das, glaube ich, ist etwas, was man dann beim Mitgliederentscheid einfach sehen wird. Wir sind als NoGroKo-Bewegung, glaube ich, sehr weit in der Basis verankert und unsere Rückmeldungen sagen, dass wir keine Splittergruppe sind, sondern dass es jetzt darum geht, auch zu akzeptieren, dass es gute Argumente gegen einen weiteren Eintritt in eine Große Koalition gibt.
"Es geht um einen transparenten Prozess"
Dobovisek: Jetzt soll Andrea Nahles neue SPD-Chefin werden, nicht sofort, auch nicht kommissarisch. Wir haben es gehört: aus formalen Gründen. Olaf Scholz übernimmt erst einmal. Eine gute Lösung, Frau Mattheis?
Mattheis: Das will ich jetzt gar nicht an Personen festmachen, sondern für uns …
Dobovisek: Müssen wir aber. Es gab ja gestern eine Personalentscheidung.
Mattheis: Ja, ja. Aber für uns ist es wichtig, dass wir dieses Thema Urwahl weiterhin als einen wichtigen Punkt ansehen für einen Erneuerungsprozess in der Partei.
Dobovisek: Urwahl, weil Sie mit Andrea Nahles nicht einverstanden sind?
Mattheis: Es geht hier nicht um Personen, sondern es geht um einen transparenten Prozess, den wir einfordern, und diesen transparenten Prozess, den wir einfordern, haben wir ja durchaus auch schon im Dezember auf dem Bundesparteitag miteinander vereinbart. Dass das jetzt so schnell kommen würde, das hat, glaube ich, im Dezember noch niemand voraussehen können, aber wir haben gesagt, zu einem Erneuerungsprozess gehört auch, dass ein Vorsitzender, eine Vorsitzende, die es werden möchte, sich der Parteibasis stellt. Und da es ja jetzt schon zwei Kandidaturen gibt, ist das durchaus noch mal mehr ein Argument dafür, dass die Parteibasis - und die würde ja dann auch die Legitimation eines neuen Vorsitzenden, einer neuen Vorsitzenden durchaus stärken -, dass die Parteibasis auch hier ein Mitspracherecht hat.
"Man darf das Thema Urwahl nicht einfach wegwischen"
Dobovisek: Wenn ich das richtig überblicke - und ich habe mich gestern ein bisschen umgehört -, dann konnte mir niemand sagen, dass es das schon mal gegeben hätte in der SPD, einen zweiten Kandidaten auf einem Parteitag für den Parteivorsitz. Man sagt ja so gerne Kampfkandidatur, obwohl es im Prinzip ein zweiter Kandidat ist. Was sagt uns das über die SPD von heute aus?
Mattheis: Erst mal halte ich noch mal fest: Wir wollen die Urwahl und bei einer Urwahl bedeutet es, dass durchaus andere Kandidaturen mit zur Abstimmung stehen. Und das ist für mich noch nicht vom Tisch, dass das unbedingt der …
Dobovisek: Jetzt gibt es aber die Urwahl für den Sonderparteitag nicht. Das ist viel zu kurzfristig. Jetzt hat der SPD-Vorstand gestern etwas ausgeklüngelt, statt die Basis zu befragen. Ist das demokratisch?
Mattheis: Ich glaube, dass man in dieser Verantwortung auch im Blick auf die Gesamtpartei dieses Thema Urwahl nicht einfach wegwischen darf, und das ist unsere Forderung. Da werden wir auch weiter für eintreten. Ob jetzt dieser 22. April wirklich die Lösung ist, um die Partei zu befrieden, das glaube ich eben nicht. Sondern wir sagen, jetzt gehen wir erst mal in die Mitgliederabstimmung zum Thema: Gehen wir in eine Große Koalition oder gehen wir nicht in die Große Koalition. Wir werben mit unseren guten, glaube ich, Argumenten dagegen, in eine Große Koalition zu gehen.
Und dann wird das Thema Urwahl natürlich nicht vom Tisch sein, sondern da glaube ich, ist es der nächste wichtige Schritt, um die Partei zu befrieden, und da habe ich eine andere Einschätzung. Ich glaube, dass es mittlerweile in der Partei ein ganz großes Bedürfnis gibt, Entscheidungen mitzutragen, und übrigens täte das dann auch der kommenden Vorsitzenden, egal wer es wäre, gut, diese Legitimation der Parteibasis mit ins Amt zu nehmen.
"Eigendynamik muss immer mit einkalkuliert werden"
Dobovisek: Schauen wir noch mal ein bisschen zurück. Kein Außenamt, kein Parteivorsitz - Martin Schulz sprach gestern auch über Verletzungen. Hören wir uns das noch mal an:
"Ich habe in diesem Amt Höhen und Tiefen erlebt, wie man sie in der Politik in dieser Form selten erlebt. Das ist schon so und das bleibt einem auch nicht in den Klamotten hängen. Manches geht auch unter die Haut. Natürlich bekommt man Wunden mit. Aber die Zeit wird sie heilen."
Dobovisek: Lässt, Frau Mattheis, die SPD ihren alten Parteichef Martin Schulz am Ende als Buhmann, als Bauernopfer fallen?
Mattheis: Das glaube ich nicht. Nein.
Dobovisek: Klingt aber ein bisschen so.
Mattheis: Nein! Aber schauen Sie, diese Entscheidungen, die da getätigt wurden, sind ja Entscheidungen, die nicht unmittelbar von der Parteibasis gefällt worden sind, sondern das waren ja Entscheidungen, die in, sage ich mal, einer Führungsebene getroffen worden sind, die ich nicht beeinflussen konnte, die auch die Parteibasis insgesamt nicht beeinflussen konnte. Deshalb das zurückzugeben an die Partei, wäre, glaube ich, ein falsches Signal, und so habe ich auch Martin Schulz gar nicht verstanden, sondern das ist schon etwas, was im engen Führungszirkel bestimmt worden ist.
Dobovisek: Dann frage ich anders herum. Lässt dieser enge Führungszirkel Martin Schulz fallen als Buhmann, als Bauernopfer?
Mattheis: Das kann ich nicht beurteilen.
Dobovisek: Warum nicht?
Mattheis: Ja weil ich nicht dabei bin. Die Eigendynamik ist etwas, was, glaube ich, da auch immer mit einkalkuliert werden muss. Wie solche Entscheidungen zustande gekommen sind, mag ich wirklich nicht beurteilen, und deswegen, finde ich, müssen Entscheidungen von einer Tragweite wie Bestimmung des Bundesvorsitz auch auf eine breite Legitimation zurückzuführen sein. Deswegen sagen wir, wir wollen die Urwahl. Das darf nicht in irgendwelchen kleineren Führungszirkeln passieren.
Und wir finden, es ist auch nicht eine Geschichte, die mit Erneuerung der SPD zusammenhängt, wenn wir jetzt wieder einen Parteitag einberufen, der meines Erachtens auch übrigens genauso teuer ist wie ein Mitgliederentscheid, sondern wir wollen die Parteibasis einbeziehen, damit im Prinzip auch die Vorsitzende mit einer ganz anderen Rückendeckung in ihr Amt gehen kann.
"Auch 20,5 Prozent sind nach unten noch zu toppen"
Dobovisek: Die SPD ist gespalten. Das schreckt Wähler ab. Erste Umfragen sehen sie bei unter 18 Prozent. Haben Sie Angst um die Sozialdemokratie in Deutschland?
Mattheis: Ja, ja! Das muss ich wirklich ganz deutlich sagen. Das war unsere Argumentation von vornherein ab dem 24. 9., dass 20,5 Prozent auch nach unten noch zu toppen sind. Deswegen ist es sehr, sehr wichtig, dass wir in diesem Erneuerungsprozess tatsächlich auch uns ganz breit aufstellen. Deshalb jetzt auch keine Große Koalition. Deshalb jetzt auch Urwahl für den Bundesvorsitz.
Dobovisek: Hilde Mattheis. Sie ist Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des "Forums Demokratische Linke 21". So heißt der Verein der Parteilinken innerhalb der SPD. Ich danke Ihnen für das Interview.
Mattheis: Sehr gerne.
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