Moritz Küpper: Herr Groschek, wir sind am Ende einer Woche, einer turbulenten Woche für die SPD, für die Sozialdemokraten. Der Wechsel an der Spitze nicht ganz reibungslos. Dazu die vielen Diskussionen nach eben Sondierung, Parteitag, Koalitionsverhandlungen. Wie viel Schlaf bekommt man als SPD-Funktionär eigentlich gerade noch?
Michael Groschek: Ich persönlich habe einen gesunden, wenn auch zu kurzen Schlaf. Denn bei allem verständlichen Ärger, den ich auch selbst empfunden habe in den letzten Tagen, gibt es auch Grund zur Freude. Die SPD lebt gerade lebendige Demokratie so, dass viele Menschen sehen, ja, die elendige Talkshow-Demokratie ist ja nicht das Original. Das ist das Abklatschen von Demokratie. Die wahre Demokratie ist lebendig. Die Eintrittswelle zeigt, dass viele Menschen neugierig geworden sind und dabei sein wollen. Und deshalb glaube ich, müssen wir diese lebendige Diskussion in unseren Reihen auf jeden Fall weiter kultivieren.
Küpper: Es gibt auch Umfragewerte, sinkende Umfragewerte. Das, kann man jetzt sagen, zeigt sich immer ein wenig verspätet. Aus Ihren Worten entnehme ich, die Talsohle ist durchschritten?
Groschek: Nein. Da will ich keine Entwarnung geben. Wir haben gesehen, dass auch 20,5 Prozent nicht das Kellergeschoss sein müssen. Es gibt keine Haltelinie nach unten, es gibt aber auch keine Haltelinie nach oben. So schnell, wie wir ins Kellergeschoss durchgereicht wurden, so schnell können wir auch wieder aufs Dach gesetzt werden, um einen Überblick zu haben und die Regierung von vorne zu führen. Was ich sagen will, ist: Auf uns lastet eine große Verantwortung dafür, zweistellig zu bleiben und nicht marginalisiert zu werden. Und deshalb brauchen wir beides, eine starke, handlungsfähige Regierung und ein mächtiges Kraftzentrum neben dieser Regierung, personifiziert in der Person von Andrea Nahles, Fraktions- und Parteivorsitzende wird der SPD guttun.
Küpper: Weil Sie es gerade gesagt haben, das Ziel muss sein, zweistellig zu bleiben. Das klingt jetzt für eine Volkspartei SPD ja äußerst defensiv.
Groschek: Nein. Das ist nur ein realistischer Blick ins europäische Ausland. Es gibt viele sozialdemokratische, demokratisch-sozialistische Parteien in Europa, die haben das Schicksal der Einstelligkeit erlitten. Aber das waren auch mächtige, stolze Regierungsparteien, die durch viele hausgemachte Fehler da gelandet sind, wo Marginalisierung beginnt. Und deshalb sage ich, wir müssen verantwortungsbewusst bleiben. 16 Prozent sind schlimm, aber es ist nicht garantiert, dass es nicht noch tieferrutschen kann. Die Menschen wollen eine positive Perspektive haben, wollen, dass Parteien Probleme lösen. Und deshalb dürfen wir uns nicht länger nur mit uns selbst beschäftigen, sondern wir müssen uns damit befassen, wie wir den Alltag der Menschen erleichtern und verbessern können. Und dieser Koalitionsvertrag bietet dazu viele Gelegenheiten.
Küpper: An diesem Wochenende geht es los mit den Regionalkonferenzen. Sie werden sich also erst mal mit sich selber beschäftigen müssen aufgrund des Mitgliedervotums. Das ist die inhaltliche Auseinandersetzung, über die ich gleich auch noch ausführlich sprechen möchte. Kurz vorher aber, wenn Sie gestatten, noch mal der Blick zurück auf diese Woche, auch auf Martin Schulz. Als Journalist, aber auch als Bürgerin und Bürger ist man ja bei solchen Auseinandersetzungen, bei solchen Sitzungen nicht immer dabei. Ab wann war Ihnen klar, dass die kurze Ära Martin Schulz an der Spitze der SPD vorbei sein wird?
Groschek: Das Echo in den Tagen vor seinem Rücktritt war letztendlich so verheerend, dass klar war, es wird Konsequenzen geben. Martin Schulz hat diese Konsequenzen selbst gezogen. Deshalb gebührt ihm auch Respekt. Wir haben seine Entscheidung voll und ganz respektiert und müssen jetzt nach vorne blicken.
"Wir dürfen uns nicht in getrennte Lager spalten lassen"
Küpper: Es wird vielfach beschrieben, dass Sie vorher mit ihm gesprochen haben, ihm die Stimmung aus Nordrhein-Westfalen, seinem Landesverband ja auch, gespiegelt haben. Wie groß war Ihr Einfluss?
Groschek: Vier-Augen- und Zwei-Ohren-Gespräche sollten vertraulich bleiben. Ich finde, Martin Schulz hat eine sehr verantwortungsvolle Entscheidung getroffen. Sicherlich sehr schmerzhaft für ihn. Deshalb Respekt für diese Entscheidung.
Küpper: Was bleibt von der Zeit von Martin Schulz an der Parteispitze?
Groschek: Wir sehen beispielsweise, wie schnell oben und unten in Meinungsumfragen wechseln kann. Vor einem Jahr waren wir mit Martin Schulz kurzfristig bei 30 Prozent. Heute sind wir bei der Hälfte gelandet. Das Ende von Martin Schulz wird also charakterisiert durch eine Zahl, die halb so groß ist wie die zu seinem Beginn. Deshalb noch einmal, Meinungsumfragen sind das eine, Wahlergebnisse das andere. Und Wahlergebnisse muss man sich solide erarbeiten. Viele Menschen sagen: ‚Ja, ihr redet immer von Erneuerung der Partei. Sagt uns mal Bescheid, wenn ihr fertig seid.‘ Deshalb ist die Selbstbeschäftigung alleine noch kein Erfolgsrezept. Erneuern kann man sich in Regierung oder Opposition. Aber gut regieren ist der beste Hinweis für die Menschen, dass Vertrauen gewährleistet bleibt.
Küpper: Nun hat Martin Schulz nicht regiert. Hat er Fehler gemacht oder hat die Partei ihn auflaufen lassen?
Groschek: Alle Beteiligten haben Fehler gemacht. Kein Beteiligter war fehlerfrei und deshalb würde ich jetzt kein Schwarzes-Peter-Spiel treiben und schon gar nicht Schuld bei jemandem abladen, der sich selbst aus dem Spiel genommen hat.
Küpper: Sie haben in dieser Woche gesagt, Sie sind es leid oder anders formuliert, Sie wollen in Zukunft nicht dieses Pendeln zwischen – ja – Hosianna und Kreuzigung, das muss zu Ende sein. Was sagt das über die Kultur an der Spitze der SPD?
Groschek: Das sagt was zur Diskussion auch in der SPD und außerhalb der SPD. Wir haben zunehmend emotionalere Diskussionen. Wir haben zunehmend eine Polarisierung nach dem Motto 'ihr da oben, wir hier unten'. Das ist auch eine Diskussion, die inzwischen die SPD selbst erreicht. Und deshalb müssen wir aufpassen, dass wir miteinander in der Diskussion bleiben, keine Gegensätze zulassen, die ausgrenzend sind. Wir sind eine SPD und wir müssen gemeinsam stark werden. Das gilt übrigens auch für den Tag nach dem Mitgliedervotum, wie auch immer es ausgeht. Ich hoffe, es geht mit einem deutlichen Ergebnis gut aus für die Bildung einer neuen Regierung. Wir müssen dann zusammenbleiben und dürfen uns nicht in getrennte Lager spalten lassen.
"Die Vertrauensfrage ist die eigentliche Frage"
Küpper: Sie haben es gerade gesagt, dass zwischen oben und unten dieses, ja, vielleicht ein Stück weit Missverständnis, was da entstanden ist. Personifiziert das am Ende Martin Schulz auch mit diesen Entscheidungen am Ende, wo er vielleicht fehlendes Gespür hatte?
Groschek: Nein. Das ist nur ein Symptom dafür. An den Haustüren im Wahlkampf war unter anderem ein Thema immer präsent. ‚Ihr‘ – pauschal – ‚ihr Politiker wisst doch gar nicht mehr, wo uns – in Anführungszeichen –, dem Volk der Schuh drückt. Ihr seid so weit weg.‘
Küpper: Liegt das Volk falsch?
Groschek: Ich glaube, dass das eine Übertreibung ist, aber auch Ausdruck eines Gefühls ist, dass die Diskussionen, die aus Berlin zum Beispiel transportiert werden, nicht immer den Kern treffen, den die Menschen als Alltagsproblem empfinden. Wir müssen sehr aufpassen, dass Berlin nicht zu einer Art deutschem Washington wird, wo Lobbyisten, Journalisten und Politiker ein Bermudadreieck der Alltagssorgen bilden, wo sich die Bürgerinnen und Bürger eben nicht wiederfinden, wo der Zwang zur halbstündlichen Schlagzeile die Diskussion bestimmt, aber im Grunde gar nicht die Gemütslage der Menschen erreicht. Deshalb müssen wir innehalten, überlegen, wie stabilisieren wir die die politische Kultur und wie grenzen wir die aus, die ausgegrenzt werden müssen? Das sind die rechten Wutbürger im Alltag analog und im Netz. Denn was sich im Netz zum Teil an Gehässigkeit und Hass abspielt, hat nichts mehr mit politischer Kultur und demokratischer Tugend zu tun.
Küpper: Sie sprechen den Vertrauensverlust an. Und es gibt jetzt – vor allem in meinem Eindruck – jüngere Politiker, die sagen, das kann man nur durch Glaubwürdigkeit zurückgewinnen. Kevin Kühnert ist das, der sagt das in dieser Form mit seiner No-GroKo-Kampagne. Ein Stück weit auch Christian Lindner, der sagt: 'Das sind die Punkte, die ich habe, und wenn es die nicht gibt, dann mache ich nicht mit.' Wie aussagekräftig ist das für Sie, dass es vor allem die jungen Leute sind, die sagen, eher glaubwürdig zu sein, anstatt Verantwortung zu übernehmen?
Groschek: Man sollte Kevin Kühnert nun wirklich nicht auf die Stufe mit Christian Lindner stellen. Das hat Kevin Kühnert nicht verdient. Da muss ich ihn ausdrücklich in Schutz nehmen.
Küpper: Aber die Mechanismen sind nicht ähnlich?
Groschek: Nein, die sind nicht ähnlich. Ich glaube, Kevin Kühnert würde verantwortlicher handeln. Er würde nicht fliehen vor der Übernahme von Verantwortung, wie es Christian Lindner getan hat.
Küpper: Aber Johannes Rau hat es auch immer gesagt. ‚Tun, was man sagt und sagen, was man tut.‘ Oder auch anders herum, je nachdem, wie man es drehen möchte. Das heißt, die Glaubwürdigkeit, ist das die Kernfrage für die Politik heute wieder geworden?
Groschek: Ja, auf jeden Fall. Und die Vertrauensfrage ist die eigentliche Frage. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass das Ergebnis des Koalitionsvertrages Schwarz auf weiß für die SPD kein Grund sein kann, nein zu sagen. Das Ergebnis wird von allen, allen, allen Beobachtern bestätigt als deutlich sozialdemokratisches Ergebnis. Und wer sich selbst von konservativen Leitmedien bestätigen lassen kann, dass mit einem 20-Prozent-Wahlergebnis 70 Prozent programmatische Handschrift in einem solchen Koalitionsvertrag sind, der kann eigentlich sagen: gutgemacht. Und deshalb gibt es vor allen Dingen andere Gründe als diesen Vertrag, nein zu sagen. Auf der einen Seite sind es viele, die sagen: ‚Die Richtung passt mir nicht. Ich will endlich rot-rot-grün. Wir brauchen eine linksökologische Alternative.‘ Da kann ich nur sagen: Ein interessantes Gedankenmodell. Angesichts der real existierenden Linken mit der Hassliebe der Familie Lafontaine gegenüber der SPD, wird das nicht funktionieren. Und, ob die Grünen wirklich so einen Kurs mitfahren würden, weiß ich nicht. Also, da ist mehr Wunsch als Wirklichkeit. Und dann gibt es noch die Frage vieler: Ist denn das, was SPD da ausgehandelt hat, wirklich auch vertrauenswürdig im Umsetzen? Und wofür steht SPD eigentlich jenseits dieses Koalitionsvertrages? Und da sind wir bei Fragen der Glaubwürdigkeit und der programmatischen Klärung. Ich bleibe dabei. Die größte Große Koalition ist die SPD selbst. Wir müssen dringend inhaltliche Positionierungen klären, jenseits der nächsten dreieinhalb Jahre. Denn der Koalitionsvertrag ersetzt ja nicht unser Programm. Der Koalitionsvertrag ist im Grunde nur eine Arbeitsanleitung für dreieinhalb Jahre, die bis zur nächsten Bundestagswahl als Regierungsauftrag vor uns liegen. Die programmatische Ausrichtung der SPD muss über den Tag, muss ein Jahrzehnt und mehr umfassen. Und da müssen wir uns stark machen. Globalisierung, Digitalisierung sind längst noch nicht komplett begriffen und als politisches Konzept verarbeitet worden.
"Ganz im Sinne der NRW-SPD"
Küpper: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Zu Gast ist Michael Groschek, Landesvorsitzender der SPD in Nordrhein-Westfalen, dem größten Landesverband. Herr Groschek, Sie haben den Koalitionsvertrag, über den ja momentan alle sprechen, natürlich angesprochen. Schauen wir auf ihn. Oder schauen wir auch ein Stück weit zurück. Denn beim letzten Mal war es ja der Mindestlohn, der sozusagen auch gerade die Skepsis hier in Nordrhein-Westfalen beseitigt hat, der dafür gesorgt hat, dass zugestimmt wurde. Es gibt viele Argumente, aber was ist jetzt aus Ihrer Sicht, der das befürwortet, das Beste inhaltliche Argument für diesen Koalitionsvertrag?
Groschek: Dass gerade Nordrhein-Westfalen sehr stark profitieren würde. Die nordrhein-westfälischen Kommunen, viele Menschen, die ausgegrenzt sind durch Dauerarbeitslosigkeit, Auszubildende, die endlich einen Mindestlohn bekommen würden bei der Ausbildungsvergütung, das sind mindestens 160.000 junge Menschen, die endlich mehr im Portemonnaie hätten und sich nicht mehr ausgebeutet fühlen würden, sondern gerecht bezahlt fühlen würden. Wir haben viele, viele Punkte erreicht bei der Bildung, von denen wir nur immer geträumt haben, dass es wahrwerden könnte. Dass direkte Zuwendungen vom Bund in die Kommunen möglich sind, entspricht auch dem Wunsch der Bevölkerung, ist also ein Stück weit Alltag in diesem Politikbetrieb. Dass Schulen nicht mehr aussehen müssen wie bei Hempels unterm Sofa, sondern renoviert werden können. Dass Schulen Ganztagsangebote qualifiziert machen können, dass die Kreidezeit beendet wird und wir Schulen digitalisieren. Dass wir Rentnern den Schritt vor der Altersarmut nehmen können, indem wir eine Grundrente schaffen und indem wir uns selbst korrigieren. Denn auch wir haben die Absenkung des Rentenniveaus mitgemacht. Und das würde korrigiert, ganz im Sinne der NRW-SPD, also eine Vielzahl von Pluspunkten, die man auf der Habenseite verbuchen kann.
Küpper: In Bonn auf dem Parteitag, wo ja den Koalitionsverhandlungen zugestimmt werden musste sozusagen, hieß es, da gibt es vor allem Nachverhandlungen bei drei inhaltlichen Punkten – Familiennachzug, sachgrundlose Befristung und Einstieg in das Ende der Zweiklassenmedizin. Das galt ja als eine Art Brücke für ein Jahr, für die Sie auch geworben haben. Jetzt haben Sie das gerade alles gar nicht genannt. Das heißt, an den Punkten waren Sie dann nicht erfolgreich und es war letztendlich …
Groschek: Doch, bei sachgrundloser Befristung haben wir sogar einen großen Erfolg. Letztendlich würden 400.000 solcher Fälle gelöst werden. Und die Entfristung, also ein Regelarbeitsverhältnis wäre Wirklichkeit. Und bei der Befristung und sachgrundlosen Befristung müssen wir uns auch alle an die eigene Nase packen. Städte und Gemeinden, Bundesländer und der Bund selbst nutzen dieses Instrument zur Personalbewirtschaftung. Also, wenn wir wirklich Schluss machen wollen mit sachgrundloser Befristung, dann sollten wir im Öffentlichen Dienst damit beginnen. Wir könnten mit gutem Beispiel vorangehen. Da bräuchten wir noch nicht einmal einen Koalitionsvertrag. Und jetzt sollten wir uns auch nicht hinter diesem verstecken. Und bei der Frage von Familienzusammenführung ist vermeintlich wenig erreicht worden. Aber das Wenige wäre überhaupt gar nicht Wirklichkeit, wenn die Koalition nicht zustande kommt, denn CDU und CSU sind an dieser Stelle nicht von einem christlichen Familienbild geprägt. Die würden "No-Go" sagen. Wir sagen, wir wollen zur Familienzusammenführung, ohne andere zu überfordern.
"Ich begrüße, dass Andrea Nahles sich zur Kandidatur bereiterklärt hat"
Küpper: War es ein Thema, dieses Thema, über das wir jetzt gerade am Ende gesprochen haben, so nach oben zu ziehen? Wenn man sich in Nordrhein-Westfalen gerade in den Großstädten umhört, dann heißt es häufig: ‚Ja, wir wissen um diese Problematik, wir haben da auch eine menschlich klare Haltung. Dennoch, wir sind auch mitunter erschöpft, was die Integrationsfähigkeit angeht, zumal es da auch andere Probleme gibt, eher mit osteuropäischer Zuwanderung, also Teil der EU.‘ Das betrifft das ja dann gar nicht, was Sie jetzt gerade besprechen.
Groschek: Das ist richtig. Es gibt zwei Aspekte. Beide Aspekte sind relevant. Es gibt viele Stadtteile, die fühlen sich überfordert und die sind auch überfordert mit der notwendigen Integrationsleistung. Da darf man nicht weggucken und das darf man nicht schönreden. Da gibt es große, große Probleme und das ist von Integration meilenweit entfernt.
Küpper: Die Leute sind irritiert, wenn die SPD dann so offensiv den Familiennachzug …
Groschek: Nein, die SPD ist dann nur gefordert, im gleichen Atemzug zu sagen, wir brauchen mehr Geld und politische Flankierung, um Integration trotzdem möglich zu machen. Und deshalb ist gut, dass wir gesagt haben, wir wollen die vorhandenen Integrationsprogramme vollumfänglich fortführen und dynamisch anpassen. Das heißt natürlich, auch mit mehr Geld ausstatten, wenn mehr Geld erforderlich ist. Und dazu kommt die Perspektive, dass in diesem Koalitionsvertrag auch verankert ist die besondere Beobachtung, die besondere Aktivität hinsichtlich der Zuwanderung aus Südosteuropa. Das sind oft schwer zu integrierende Bevölkerungsgruppen, die einer besonderen Integrationsleistung bedürfen. Und deshalb haben wir auch an diesen Stellen im Koalitionsvertrag unterm Strich ein vernünftiges, ein gutes Ergebnis erzielt.
Küpper: Die Erneuerungen in Berlin haben Sie vorangetrieben, auch in dieser Woche. Andrea Nahles soll Parteichefin werden. Olaf Scholz ist es jetzt momentan. Stimmt es eigentlich, dass Andrea Nahles trotz der Widerstände ursprünglich auch sozusagen durchziehen wollte und jetzt schon übernehmen wollte?
Groschek: Nein, Andrea Nahles ist ja durch das Votum von Präsidium und Vorstand der Partei die designierte Parteivorsitzende, die sich der Abstimmung stellen muss, weil wir ja mehrere konkurrierende Kandidaturen jetzt haben.
Küpper: Begrüßen Sie das?
Groschek: Ich begrüße, dass Andrea Nahles sich zur Kandidatur bereiterklärt hat, weil ich es wichtig und richtig finde, beide Posten jetzt zu vereinen – die der Fraktionsvorsitzenden und die der Parteivorsitzenden, damit ein wirkliches Kraftzentrum entstehen kann.
Küpper: Ich meinte eher, dass es bei dem Parteivorsitz auch lebendige Demokratie scheinbar gibt bei dieser Wahl.
Groschek: Jedes SPD-Mitglied hat das Recht, für jedes Amt zu kandidieren, wenn die Grundvoraussetzungen erfüllt sind. Ich kann nur sagen, es gehört ein Heidenrespekt vor dem Amt und vor der Herausforderung, SPD-Parteivorsitzende zu sein dazu. Und ich freue mich, dass Andrea Nahles sich dieser Verantwortung stellen will.
"Niemand wird sich gedrängt, erpresst oder überredet fühlen"
Küpper: Die strategische Überlegung dahinter ist es eben, ein Kraftzentrum außerhalb auch dieser künftigen womöglichen Bundesregierung zu schaffen. Ist das schon ein Stück weit dann eine Vorentscheidung auf mittelfristiger Ebene, wenn wir an die nächste Bundestagswahl – wann auch immer die dann sein wird – denken?
Groschek: Nein, wir werden natürlich dann zwei herausgehobene Positionen haben. Einmal die Position der Partei- und Fraktionsvorsitzenden und einmal die Position des oder der Vizekanzlerin.
Küpper: Wer wird das?
Groschek: Beides sind wichtige Gesichter. Ein Gesicht wird die Regierungs-SPD repräsentieren und Andrea Nahles wird – so hoffe ich – dann eben vereint mit beiden Ämtern die starke programmatische Perspektive über den Tag hinaus präsentieren.
Küpper: Das heißt, Andrea Nahles und Olaf Scholz sind dann die künftigen …
Groschek: Das könnte so sein. Wobei wir über weitere Personalien, die über die Personalie Parteivorsitz hinausgehen, dann diskutieren und entscheiden, wenn das Mitgliedervotum ausgezählt ist, also ab dem 4.3. und nicht früher.
Küpper: Warum ist das klug? Stichwort Transparenz, Stichwort Glaubwürdigkeit?
Groschek: Ja, weil die Postensehnsucht und die Geschwätzigkeit Einzelner schon genug Schaden angerichtet haben. Deshalb kann ich nur an alle appellieren, sich endlich zu disziplinieren, ob vor oder am politischen Aschermittwoch. Es war zu viel Persönlichkeitsstreben und zu wenig Parteidisziplin da.
Küpper: Sagt Michael Groschek im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Herr Groschek, an diesem Wochenende beginnen die Regionalkonferenzen. Nichtsdestotrotz, Sie sind unentwegt im Land unterwegs. Wie schätzen Sie die Mehrheitsverhältnisse aktuell hinsichtlich dieses Mitgliederentscheids ein.
Groschek: Ich glaube, der Wind hat sich gedreht. Bis zu dem Sondierungsparteitag war es wirklich, wenn überhaupt, eine knappe Mehrheit, die für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen und für die Bildung einer Großen-Koalitionsregierung war. Nach diesem Verhandlungsergebnis, trotz der Führungseskapaden, die sich die SPD geleistet hat, gibt es nach meinem Eindruck jetzt eine breitere Mehrheit dafür. Das Verhandlungsergebnis wird all überall anerkannt. Und die Alternativen zur Bildung einer Großen Koalition werden von zunehmend mehr Mitgliedern als nicht tragfähig angesehen.
Küpper: Glauben Sie, dass es ein klares Ergebnis geben wird oder ein knappes?
Groschek: Es wird auf jeden Fall ein überzeugtes Ergebnis geben. Es wird sich niemand gedrängt, erpresst oder überredet fühlen. Wir haben in Nordrhein-Westfalen eine sehr offene Diskussion zu diesem Punkt seit Wochen jetzt schon, auch während des Sondierungsprozesses. Dabei bleibt es, denn mir ist wichtig, dass wir am Tag danach zusammen Politik machen können und uns wieder auf den politischen Gegner konzentrieren. Der ist nicht in der SPD zu suchen und zu finden, sondern der steht immer rechts von der SPD und den gilt es politisch zu bekämpfen.
"Das Ringen um die beste Lösung ist ja urdemokratisch"
Küpper: Auch in Ihrer eigenen Familie gab oder gibt es vielleicht eine Art inhaltliche Spaltung. Ihr Sohn Jesco bei den Jusos war zumindest eher dagegen, Sie ja dafür. Das illustriert es vielleicht, aber Sie haben es angesprochen. Wie schafft man es nach diesem Entscheid, wie auch immer er ausgeht, die Gräben zuzuschütten?
Groschek: Weil wir dann stolz sein können auf die Art und Weise, wie wir miteinander diskutiert haben, auf die Lebendigkeit der Diskussion und das Beispiel geben für eine moderne demokratische Auseinandersetzung. Das macht die SPD ja in Wirklichkeit stark. Wir haben Tausende und Abertausende von Eintritten, die begeistert sind von dem Miteinander, auch, wenn es wie ein Gegeneinander aussieht. Das Ringen um die beste Lösung ist ja urdemokratisch. Nicht die Inszenierung von ewig Gleichem und das Mundverbieten ist doch moderne Demokratie, sondern das miteinander Wetteifern, Mehrheitsentscheidungen herbeizuführen und dann zu sagen, jetzt gehen wir in die nächste Runde und machen weiter.
Küpper: Aber das Dilemma ist ja, dass dieser Streit oder diese Auseinandersetzung, dieses Werben um Positionen momentan zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung bei Umfragen, aber auch in der Berichterstattung nicht guttiert wird.
Groschek: Ich glaube, am Ende werden wir die Nase vorn haben, denn es zeigt sich ja, dass die Partei der schweigenden Mehrheit, die CDU, auf einmal wachgeküsst wird. Die Ersten sind ja da, die nach mehr innerparteilicher Demokratie rufen. Die Ersten sind ja da, die feststellen: Die CDU mit dieser Kanzlerin ist ja in Wirklichkeit "Kaisers neue Kleider". Wir stehen ja nackt und entleert da. Und das ist im Grunde ein Lob der SPD.
Küpper: Olaf Scholz hat in dieser Woche vom Kanzleramt gesprochen. Ist das ein Traum, ein Ziel, das die SPD nie aufgeben darf?
Groschek: Nein, das darf die SPD auf gar keinen Fall aufgeben. Wir müssen immer bestrebt sein, die Regierung von vorne zu führen. Und gerade diejenigen, die immer und immer wieder Willy Brandt bemühen, müssen wissen, das große, große Streben von Willy Brandt war ja die Kanzlerschaft für die SPD, für sich selbst, aber eben auch für seine Partei. Und dieses Selbstbewusstsein brauchen wir. Wir sind ja nicht gewählt, um auf Parteitagen über Spiegelstriche zu streiten, sondern wir sind gewählt, um das Leben der Menschen erträglicher, besser zu machen, und das geht am besten, wenn man den Regierungschef oder die Regierungschefin stellt. Das muss immer das oberste Gebot sein, zu regieren, um Deutschland angenehmer für ganz viele Menschen zu machen.
Küpper: Michael Groschek, vielen Dank für das Gespräch.