1988 berichtete das DDR-Fernsehen über die Rhythmische Sportgymnastik: "Ein Kessel Buntes hängt auf der Leine. Die 15-jährige Manuela Renk ist die Wäscherin. Sie hatte ihr Debüt in der Meisterklasse bereits zu Beginn der Saison gegeben. Die Juniorenmeisterin des Vorjahres turnt sich immer weiter nach vorn."
Anstrengungen nur mit Doping leisten
Manuela Renk wurde mit sechs früh für die Rhythmische Sportgymnastik entdeckt, die manch einer bewundernd als "Ballett mit Reifen, Keulen, Ball" bezeichnet. Erst acht Jahre alt, kam sie zum Sportclub Chemie Halle samt Internat. Auch ihre Hauptbezugspersonen fortan waren kaum noch die Eltern, sondern Trainer und Ärzte.
Manuela Renk schaffte es in die DDR-Nationalmannschaft und das hieß auch: Drei Mal im Jahr Trainingslager in Zinnowitz, jeweils bis zu sechs Wochen am Stück ohne Heimfahrt. Viermal täglich Training, dazu Ausdauerläufe am Strand. Ruhetage? Fehlanzeige. Ein Pensum, das die Körper der noch heranwachsenden Mädchen wohl kaum geschafft hätten ohne den Einsatz von Dopingmitteln.
"Da habe ich eigentlich hier mit Zinnowitz die ersten Erinnerungen, dass wir zum Frühstück einen Teller, einen kleinen Teller neben unserem Teller stehen hatten, wo lauter bunte Tabletten drauf waren. Vier oder fünf Stück", sagt Renk. "Die Trainer haben gesagt, das sind Vitamine und für uns waren das Vertrauenspersonen und wir haben das geglaubt und es genommen."
"Zinnowitz ist ein einziger Schmerz"
Mit dabei war auch die mehrfache DDR-Meisterin vom SC Leipzig, Susann Wegner, heute Scheller. "Zinnowitz? Oft, lange. Und ich weiß, ich habe es auch aufgeschrieben mal und aus der Erinnerung: Hartes Training, also kein Luftholen, also Schmerzen. Zinnowitz ist ein einziger Schmerz", erzählt Wegner.
Schon lange fühlt sich die heute 44-Jährige oft so kraftlos, als habe sie alle Lebensenergie in der Kindheit verbraucht. Zudem sei sie extrem schmerzempfindlich. Kein Wunder, meint Professor Harald Freyberger von der Universität Greifswald. Doping war das eine, so der Leiter der "Arbeitsgruppe DDR-Sportgeschädigte".
Weniger bekannt sei, "dass viele dieser früh in den Sport hineingehenden Menschen mit Schmerzmedikamenten behandelt wurden und zwar in abenteuerlichen Dosierungen", sagt der Wissenschaftler. "Die meisten Athletinnen und Athleten können gar nicht mehr die Schmerzsubstanz erinnern. Was aber auch daran liegt, dass diese Schmerzmedikamente vielfältig in anderen Getränken verabreicht wurden. Die Kaderathleten waren ja in den meisten Internaten während der Mahlzeiten isoliert in Separatsektionen und bekamen häufig Mixgetränke, in die allerlei Substanzen hineingemischt waren."
Schmerzen, pünktlich zum Wochenende
Susann Scheller erzählt: "Und komischerweise - ich hatte immer an den Wochenenden, da erinnere ich mich, Schmerzen. Ich weiß nicht, vielleicht habe ich jeden Tag Schmerzmittel bekommen und am Wochenende nicht und dann traten die Schmerzen auf."
Für Professor Freyberger ist das ein Beleg. "Was sozusagen ein empirischer Nachweis ist, weil dann die Wirksamkeit der Schmerzmedikamente nachlässt", sagt er. "Und das hat diese im späten Lebensalter oft Rebound-Phänomene vom Schmerz, eine verstärkte Schmerzwahrnehmung zur Folge."
Ständiger Hunger
Mit der Sportschule Zinnowitz verbinden Susann Scheller und Manuela Renk auch den ständigen, quälenden Hunger. Sie erinnern sich, als sie kürzlich für die NDR-Fernsehreportage "Kindheit unter Qualen - Spitzensport in der DDR" nach Zinnowitz zurückkehren und auf das Bettenhaus der Sportschule blicken, das in diesem Jahr saniert werden soll:
Scheller: "Ein bisschen Knäckebrot, ein bisschen Zucker gab's, alte Butter, irgendwie so. Das kommt bei mir ..."
Renk: "Tee. Kakerlaken. Also alle war das Essen nie, es gab eigentlich immer genug, aber wir durften es nicht essen."
Scheller: "Ich weiß nicht, wie haben die es uns gesagt? 'Nee, für euch nicht.'"
Renk: "Selbst die Essensfrauen wussten Bescheid. 'Nee, wir dürfen euch das nicht geben.'"
Scheller: "Genau."
Zur Magersucht getrieben
Damals zur Magersucht getrieben, hätten viele von ihnen noch heute eine gestörte Selbstwahrnehmung. Sie fühlen sie - genau wie damals - "zu fett". Denn das hätten ihnen die Trainer immer wieder vor allen anderen zu verstehen gegeben.
"Ja, verbal so geäußert. 'Du bist zu fett!' Dann die Gewichtstabellen in der Turnhalle und jeden Tag auf der Waage stehen und alle konnten zusehen, ob du am Wochenende zugenommen hattest. Also ich hab Bilder von mir auf dem Fotoalbum. Da stehe ich auf dem ersten Platz und habe den Kopf gesenkt, als würde ich mich da oben schämen müssen."
Sexuelle Übergriffe
Noch mehr von Scham besetzt: Die sexualisierte Gewalt, gar sexuelle Übergriffe auf schutzbefohlene Sportlerinnen und Sportler. Der Greifswalder Psychologe und Psychotherapeut Harald Freyberger führt derzeit die bislang größte Studie über Langzeitfolgen des DDR-Staatsdopings durch. Dabei werden auch Gewalterfahrungen in Internaten, Sportclubs und Elite-Trainingslagern wie in Zinnowitz erfragt. Die bisherige Auswertung lege nahe, dass 20 bis 25 Prozent der damaligen DDR-Kaderathleten von sexualisierter Gewalt betroffen waren.
"Ich war sehr überrascht, dass wir so was in der Intensität überhaupt gefunden haben", sagt Freyberger. "Weil ich zuvor von der etwas naiven Vorstellung ausgegangen war, dass in den Sportinternaten in der DDR Optimierung der Leistung eine große Rolle gespielt hat und unter den Trainern und Medizinern eine gewisse Kultur geherrscht hat. Und tatsächlich finden wir hier etwas, was wir in allen totalitären Institutionen finden, dass bei Dingen gerade in einer Diktatur, die von außen abgeschottet sind, interne Prozesse passieren. Und das beginnt mit sexualisierenden Bemerkungen in einem Sportleralltag bei acht-, neun-, zehn-, elfjährigen Mädchen: 'Du bist viel zu fett, du siehst ja eklig aus.' Und schließlich auch in tatsächlichen manifesten Missbrauchshandlungen."
Zaghaft trauen sich erste Betroffene, auch diesen Schleier zu heben. Doch das ist noch schwerer, als über Doping zu reden. Susann Scheller am Ostseestrand von Zinnowitz: "Es ist ja nicht abgeschlossen. Also, es kommt ja alles noch. Die Tragweite ist ja überhaupt noch nicht für mich ersichtlich, was da auf uns zukommt."