Archiv


Spuren der Erinnerung

Der Palästinenser Elias Khoury könnte die arabische Literatur ebenso popularisieren wie Gabriel Garciá Márquez vor Jahren die lateinamerikanische, glaubt der libanesische Lyriker und Feuilletonchef Abbas Beydoun. Khoury habe, so zitiert Michael Kleeberg in seinem vor kurzem erschienenen Reisebericht "Das Tier, das weint" Beydoun, alle Voraussetzungen: Er verfüge über einen "Stoff, der zieht", über einen amerikanischen Agenten, und ein Roman werde schon verfilmt. Das Tor zur Sonne lautet sein Titel. Der neunte Roman von Elias Khoury ist gerade auf Deutsch erschienen und erzählt auf 740 Seiten allein von jenem "Stoff, der zieht": von der Vertreibung der Palästinenser aus ihren Dörfern in Galiläa und dem Leben im Exil. "Das Tor zur Sonne" ist ein Epos des palästinensischen Dramas.

Von Jörg Plath |
    Erzählt wird es von dem Arzt Dr. Khalil Ayub, der sich sieben Monate lang aufopfernd um den greisen Komapatientien Yunus kümmert und unentwegt zu ihm spricht. Dr. Khalil schildert eine beinahe unübersehbar große Zahl von tragischen Schicksalen – und zwei Liebesgeschichten: die des Patienten und seine eigene.

    Um diese Liebesgeschichten, die die Jahre 1948 bis 1994 umfassen, zu erzählen, musste ich die Umständen heraufrufen, in denen Palästinenser leben. Dafür musste ich Material sammeln von den Flüchtlingen. Ich verbrachte Jahre in den Flüchtlingslagern, um das Material zu sammeln und bat die Leute, mir ihre Geschichten zu erzählen, was mit ihnen 1948 passiert ist. Einschub: 12:24 Ein italienischer Philosoph sagte uns, dass die Sieger Geschichte schreiben. Was bleibt den Unterlegenen übrig? Sie können zumindest Geschichten zu schreiben. In diesem Sinn sind Geschichte und Geschichten zwei Dimensionen, von der konkreten Erfahrung zu erzählen, von Individuen, von Flüchtlingen, von der palästinensischen Katastrophe. Fortsetzung von oben: Die Daten sind wahr, die Namen der Dörfer sind verbürgt, auch, was damals in den Dörfern geschah – ich habe es mir von den Betroffenen erzählen lassen, aber alles in allem ist es Fiktion, Literatur.

    Freilich hat die Recherche Spuren hinterlassen. Der Roman – die Gattung ist im arabischen Raum eine historisch neue Erscheinung – nimmt die orale Tradition auf. Beinahe alle Geschichten beginnen mit der Vertreibung im Mai 1948 oder kehren zu ihr zurück. Es sind dramatische Ereignisse voller Leid und Tod, doch die Überlieferung hat sie so sehr abgeschliffen, dass sie zum Verwechseln ähnlich klingen. Das formale Arrangement beschränkt sich darauf, Dr. Khalil nach einleitenden Worten in die Rolle des allwissenden Erzählers wechseln zu lassen.

    Weil auch die Personen bloße Staffage in der kollektiven Tragödie sind, verbreitet der Monolog – ungeachtet des immer neuen Einsatzes – Schrecken am ehesten durch seine Eintönigkeit.

    Dem Flickenteppich von Schicksalen entgegengesetzt ist das Kammerspiel im Krankenhauszimmer, in dem Dr. Khalil seine Liebesgeschichte und die des Patienten in unregelmäßigen Abständen wieder aufnimmt und fortsetzt. Die beiden Hauptfiguren könnten unterschiedlicher nicht sein: Der greise Yunus war ein vom Libanon aus operierender Kämpfer der ersten Stunde. Er überwand immer wieder die Grenze, um seine in Israel gebliebene Frau Nahila in einer Höhle, dem "Tor zur Sonne", zu treffen. Dagegen hat der 40-jährige Dr. Khalil die Vertreibung nicht mehr erlebt, doch hat sie seine Kindheit zerstört.

    Elias Khoury, Herausgeber der wöchentlichen Literaturbeilage einer Beiruter Tageszeitung und Professor für arabische Literatur an der Columbia University in New York, nutzt die Konfrontation der zwei Generationen zu kritischen Bemerkungen: Dr. Khalil mokiert sich über die Larmoyanz, mit der sich die Palästinenser unermüdlich als Opfer begreifen, und er geißelt den bequemen Reflex, eigene Fehler stets mit Handlungen Israels zu entschuldigen. Allerdings bleibt Khoury vage: Die Frage, ob ein Massaker in einem palästinensischen Dorf eine Racheaktion für ein Massaker in einem jüdischen Dorf war, bleibt ohne Antwort. Die rhetorische Frage muss genügen.

    Etwas Ungefähres, Unscharfes eignet diesem Roman, selbst seinen Hauptfiguren. Yunus und Dr. Khalil gewinnen keine Kontur. Statt sie als Personen zu umreißen, bettet Khoury sie in ein üppiges Netz von Verweisen ein:

    Sie finden im Roman die drei kulturellen Dimensionen von Palästina: Sie finden Hinweise auf die Bibel, auf den Propheten Elias, auf Jonas - das ist jüdisch. Und dann enthält der Roman viele Hinweise auf den Koran. Der Vater von Yunus ist ein Moslem, ein Sufi, gibt es viele Zitate aus Suren des Koran, und natürlich gibt es Bezüge zu Jesus Christus. Und schließlich: Ich komme aus einer christlichen Familie. Wenn Sie diese Elemente zusammen betrachten, dann bekommen sie eine Idee von der Diversität, von der Unterschiedlichkeit der arabischen Kultur. Sie ist eine Kultur der Diversität. Es ist nicht so, wie es jetzt in diesem grausamen "Krieg der Zivilisationen" gesehen wird. Die arabische Kultur hatte immer verschiedene Stimmen, und die christliche und die jüdische Stimme waren in ihrer ganzen Geschichte ein Teil von ihr.

    Es gibt im Roman erschreckende Szenen und solche von großer poetischer Kraft: Die dchilderung der Folter in israelischen Gefängnissen etwa, das Massaker im Flüchtlingslager Schatila 1982 und Khalils Großmutter, die das Andenken ihres verstorbenen Mannes wach hielt, indem sie seine Fotografie wässerte.

    Ähnliches würde vielen Seiten dieses voluminösen Romans gut tun. Literarisch ist er misslungen, als Bestandsaufnahme und Diskussionsbeitrag aber dürfte er wichtig sein für die palästinensische Gesellschaft. Denn Khoury inszeniert in ihm den Abschied von der ersten, der Opfer- und Kämpfergeneration. Dr. Khalils anfängliche Verehrung für den älteren Kämpfer weicht dem Zweifel, je länger er wenig rühmliche Episoden aus dem Jahr 1948 erzählt. Besonders misstrauisch macht ihn, dass Yunus nicht wie andere Männer Verhaftung und Gefängnis auf sich nahm, um mit Frau und Kindern zusammen zu leben. Der Nachgeborene macht dem bereits komatösen Heldenmythos Vorhaltungen – das ist ein recht deutliches Bild.

    Tatsächlich: Ich mag keine Helden. Nicht nur palästinensische, auch andere nicht. Helden sind Erfindungen und Mythen. Während mein Roman ein Versuch einer realistischen Annäherung ist, einer poetischen Annäherung an die palästinensische Tragödie. Es kümmert mich nicht, ob manche Leute ihn mögen oder nicht. Das Wichtige ist, wahrhaftig zu sein in der Kunst, einem Stoff gerecht zu werden, so sehr wie möglich, und zu erzählen, was bisher niemals erzählt worden ist. Im palästinensischen Kontext, was geschah in 1948, was wir in Arabisch ‚nakbar’ nennen, die Katastrophe – das ist niemals erzählt worden, wir haben es bisher nicht in arabischer oder palästinensischer Literatur lesen können. Es ist Zeit, darüber zu schreiben, und es ist Zeit, es zu erinnern, um fähig zu sein zum Weiterleben. Die Hauptsache in meinem Roman ist nicht, die Geschichte des ganzen Volkes zu schreiben. Sie werden in anderen Sprachen sicher Romane finden, die die ganze Geschichte einer Nation erzählen. Aber abgesehen von dieser Metapher einer Nation – sie sind Individuen, sie lieben, sie versuchen ihr Leben zu leben mit ihren individuellen Widersprüchen. Ich bin nicht interessiert daran, eine Allegorie von Palästina zu schreiben. Mein Interesse ist es, Palästina zu entdecken durch die Palästinenser selbst, durch ihr Leben, ihre Wirklichkeit und ihre Wünsche.

    Man kann in Khourys Sätzen den Abschied von der Hoffnung auf baldige Rückkehr nach Palästina sehen. Ganz ähnlich hat sein bekanntester Dichter Mahmud Darwisch desillusioniert die reale Heimat durch ein – so der Titel eines Gedichts – "Land aus Worten" ersetzt. Elias Khoury wendet sich eher einem inneren, subjektiven Palästina zu. Anstelle von Ewigkeit, Geschichte und Entsagung lobt sein Erzähler die Endlichkeit, das Leben und den Genuss, auch den erotischen. Eine postheroische palästinensische Generation erhebt in Das Tor zur Sonne ihre Stimme. Das macht Hoffnung für den Nahen Osten.

    Elias Khoury
    Das Tor zur Sonne
    Klett-Cotta, 742 S., EUR 25,-