Ann-Kathrin Büüsker: Über die beginnende Fußball-WM in Russland möchte ich jetzt auch mit Wolfram Eilenberger sprechen, Philosoph, Publizist und Fußballfreund mit Trainerlizenz. Er ist aus Berlin zugeschaltet. Guten Morgen!
Wolfram Eilenberger: Guten Morgen, Frau Büüsker.
Büüsker: Herr Eilenberger, wir haben heute Morgen gehört: Hajo Seppelt, der fährt nicht nach Russland. Er sieht seine Sicherheit bedroht. Mit was für einem Gefühl gehen Sie angesichts solcher Nachrichten an diese WM heran?
Eilenberger: Mit einem Gefühl leider der kindlichen Vorfreude und der Aufgeregtheit vor diesem Turnier. Und ein Kind muss man auch tatsächlich sein oder sich als solches imaginieren, um sich auf diese WM uneingeschränkt freuen zu können. Aber ich bin dazu bereit. Der Fußball ist eine Art Rationalitätsloch im Herzen unserer Gesellschaft und vielleicht muss man das auch manchmal zulassen.
Büüsker: Rationalitätsloch – wie erklären Sie sich das?
Eilenberger: Er ist ein Leidenschaftsanreger. Er liegt im Herzen unserer Identität. Viele Männer meiner Generation wüssten gar nicht, wer sie sind, ohne dass es den Fußball gäbe. Insofern ist es sicher richtig, dass je mehr man darüber nachdenkt, umso trauriger und betrübter würde man. Es gibt sehr viele Gründe, das kritisch zu sehen. Aber vielleicht müssen wir alle auch ein bisschen gnädig mit uns sein und sagen, es gibt Ereignisse, die wir uneingeschränkt bejahen, und manchmal finde ich den Willen dazu in mir.
"Der Fall Gündogan und Özil ist ein Eisberg-Ereignis"
Büüsker: Nun haben wir aber auch in den vergangenen Tagen viel Aufregung gesehen, gerade um Özil und Gündogan. Wie kann man sich einerseits über deren Foto mit Erdogan echauffieren, aber dann andererseits eine ganze Mannschaft nach Russland schicken zu Putins WM?
Eilenberger: Der Fall Gündogan und Özil ist ein Eisberg-Ereignis, wie ich es nennen würde. Da sind sehr, sehr viele Problematiken, die in Deutschland und um Deutschland herum virulent sind. Die zeigen sich darin: Die Frage von Identität, von nationaler Zugehörigkeit, auch die Spannung mit der Türkei. Und man kann hier sicher sagen, dass das ein sehr unkluges Verhalten ist, das die beiden jetzt auch nicht noch mal wiederholen würden. Da gibt es viele Anschlusspotenziale und aktuelle Diskurse. Und natürlich ist es die Frage, inwieweit Bekenntnisse zu einer Mannschaft oder zu einem Land von Menschen mit binationalem Hintergrund gefordert werden können, und die beiden waren da sicher sowohl familiär als auch für sich selbst in einer sehr, sehr unbequemen Situation.
Büüsker: Diese Diskussion sagt sehr viel über unseren Zeitgeist?
Eilenberger: Unbedingt! Natürlich, wie man insgesamt sagen kann, dass wenn Sie die unbeschwerte Vorfreude vor vier Jahren mit der jetzigen vergleichen, dann hat das nicht nur was mit Brasilien und Russland zu tun, sondern auch mit einer Verdunkelung der Weltlage an sich. Ich glaube, dass man derzeit ganz anders auf die Welt schaut und sich ganz anders in ihr sieht, in Deutschland wie anderswo, und dass es ein höheres Bewusstsein dafür gibt, wie schwierig die Welt geworden ist. Eine Weltmeisterschaft ist auch ein Forum, über die Welt als Ganzes nachzudenken. Insofern ist der Austragungsort Russland fast von einer dunklen Stimmigkeit, will ich sagen.
Büüsker: Trotz dieser dunkeln Gedanken werden wir sicherlich auch in Deutschland erleben, dass viel gefeiert wird. Da kommt wieder der Party-Patriotismus zum Tragen. Und das in einer Zeit, in der wir ja auch zunehmend, ich sage mal, Gewalt von rechts erleben. Müssen wir uns da auch ein bisschen Sorgen machen?
Eilenberger: Das wird sehr interessant sein zu beobachten, wie das, was als ein positiver Patriotismus vor zehn, acht Jahren aufkam, wieweit der jetzt von einem dunklen und herrischen Nationalismus getrennt werden kann. Ich bin auch sehr gespannt, das zu beobachten. Ich glaube aber, dass der Fußball, auch die Art und Weise, wie die Mannschaft sich präsentiert und wie sie gemanagt wird, auch noch die Fähigkeit hat, dieses plurale, inklusive, patriotische Gefühl zu erwecken, und ich will hoffen, dass das auch bei den Feiern im Vordergrund steht.
Büüsker: Sie haben jetzt argumentiert, dass Sie als Fan mit viel Freude da herangehen und sich nicht so viele Gedanken machen um das problematische politische Verhältnis. Müsste sich aber nicht der Deutsche Fußballbund diese Gedanken machen und da auch stärker betonen, was falsch läuft in Russland?
Eilenberger: Ja, das ist natürlich ein dünner Grat. Das Hauptaugenmerk und die Konzentration liegt sicher auf der Exzellenz der Mannschaft. Ich glaube, dass der DFB und auch Bierhoff sich in einer recht intelligenten Weise verhalten. Es wird sicher auch das eine oder andere Signal in Richtung auf die Probleme in Russland geben. Schön wäre gewesen, was zum Beispiel die irische Nationalmannschaft gemacht hat. Die haben ja ihre Trikots mit regenbogenfarbenen Nummern beflockt, um da auch ein kleines Zeichen zu setzen. Das heißt, es gibt andere Verbände, die vielleicht ein bisschen einfallsreicher und offensiver vorgehen. Aber die deutsche Mannschaft ist da vielleicht auch aus historischen Gründen auf Mäßigung aus, und das kann ich auch verstehen.
"Die Spieler sind teilweise politisch entleert"
Büüsker: Und vielleicht gibt es auch Verbände mit mehr Fingerspitzengefühl. Weil Mats Hummels, der hat im Vorfeld gesagt: "Mein Blick von Russland, der ist noch extrem unausgereift." Warum gibt es da im Vorfeld nicht ein bisschen mehr politische Bildung für die Spieler?
Eilenberger: Die Spieler an sich – und das zeigt ja auch das Ereignis Gündogan/Özil -, die sind teilweise auch politisch entleert, und das muss man wirklich auch so sagen. Wir leben derzeit mit einer Spielergeneration, die einerseits sehr früh gereift ist, sehr früh professionalisiert, die andererseits aber, was politische und gesellschaftliche Fragen angeht, sich sehr zurückhält und sehr schüchtern ist. Insofern bin ich nicht sicher, ob diese politische Bildung wahnsinnig viel gebracht hätte, weil diese Spieler in Äußerungsgestelle gestellt werden von ihrem Management und von anderen Umständen, die sie gar nicht frei sein lassen. Und wenn man sie dann freilässt – das zeigt ja Gündogan und Özil -, dann passiert auch viel Schlimmes.
Büüsker: Dann gucken wir gemeinsam vielleicht auf die Mannschaft. 2014, da hatten wir Schweini und Poldi als Identifikationsfiguren. Wen haben wir jetzt?
Eilenberger: Wir haben jetzt eine paradoxe Identifikationsfigur. Das ist Toni Kroos. Das ist ein Mann, der eigentlich eher im Heimlichen und Stillen arbeiten will und sich nie in den Vordergrund gedrängt hat. Und es ist schon bezeichnend, dass er jetzt der Hoffnungsträger ist aufgrund seiner Leistungen bei Real Madrid. Und es kann sein, dass ihm diese Rolle einerseits nicht steht und dass er auch nicht gut damit zurecht kommt. Es fehlt diese strahlende Gestalt, die die Mannschaft auf sich zieht, die die Energie sammelt, und falls es Kroos sein sollte – und das müsste er wohl sein -, könnte es schon schwierig werden für die Mannschaft.
Büüsker: Ist das ein Nachteil?
Eilenberger: Ja. Wir haben derzeit ein Problem mit der gesamten Mannschaft. Die letzten Spiele waren nicht gut. Man hat das Gefühl, dass Leistungsträger, die vor vier Jahren die Mannschaft tragen konnten, über den Zenit hinaus sind.
Büüsker: Zum Beispiel?
Eilenberger: Zum Beispiel Herr Khedira, würde ich sagen, ist nicht in der Lage, diese Leistung zu wiederholen. Ich weiß auch nicht, ob Herr Müller noch mal so eine WM spielen kann. Herr Neuer bleibt ein Problem und ein Fragezeichen. Und wenn wir insbesondere die beiden Außenverteidiger-Positionen nehmen, dann sind wir alles andere als Weltklasse. Insofern gibt es schon auch sportliche Gründe zu fragen, ob diese Mannschaft für mehr als das Viertelfinale gut ist.
Büüsker: Manuel Neuer steht im Tor. Es gäbe eine Alternative mit ter Stegen. War das die richtige Entscheidung von Löw?
Eilenberger: Das ist eine Entscheidung, die ich nachvollziehen kann und auch begrüße, weil Manuel Neuer durch das letzte Turnier eine Aura hat, die in entscheidenden Situationen wichtig sein kann. Die Frage ist, ob einige Stürmer sich den Ball noch ein bisschen anders zurechtlegen, wenn Herr Neuer im Tor steht, und ein bisschen härter schießen und vielleicht auch drüberschießen. Neuer hat eine Ausstrahlung, hat ein Gewicht, und ihm das zuzumuten, das halte ich für richtig. Das ist ein symbolpolitischer Akt, wenn Sie so wollen, im Tor, und der kann sich noch sehr positiv auswirken. Das ist zumindest meine Hoffnung.
Büüsker: Mario Götze, der Siegtorschütze von Brasilien, bleibt zuhause. Ist das eine richtige Entscheidung?
Eilenberger: Unbedingt, weil man gesehen hat, gerade bei der letzten EM, dass die Kaderplanung von Herrn Löw durch falsche Loyalitätsbekundungen belastet war. Schon Herr Podolski, schon Herr Schweinsteiger hätten damals vor zwei Jahren nicht mitkommen dürfen vom Leistungslevel her. Auch Herr Götze übrigens nicht. Und ich glaube, dass Löw aus dieser Erfahrung des letzten Turniers Konsequenzen gezogen hat, dass Loyalität für ihn nicht mehr das entscheidende Kriterium ist, und die Personalie Götze verkörpert diesen Willen, härtere Leistungskriterien anzulegen und Treueschwüre und auch soziale Schwüre von Frieden und Konformität ein bisschen hintanzustellen.
"Diese Mannschaft ist kein absoluter Titelfavorit"
Büüsker: Als Titelverteidiger steht die Mannschaft ja auch unter einem enormen Druck. Gilt eigentlich irgendwas anderes als ein Sieg?
Eilenberger: Das muss so sein, weil diese Mannschaft so, wie sie sich jetzt präsentiert, kein absoluter Titelfavorit ist, weil man wahrnehmen muss, dass eine Titelverteidigung ein extrem unwahrscheinliches Ereignis ist. Und ich glaube wirklich, dass, wenn das Halbfinale erreicht würde, alle zufrieden sein müssten. Die Zwangsvorstellung, dass Deutschland immer gewinnen muss, die führt zur Enttäuschung, und von der kann man sich, glaube ich, ganz leicht lösen.
Büüsker: Herr Eilenberger, wer wird denn dann Weltmeister und warum?
Eilenberger: Bis gestern Nachmittag hätte ich gesagt, dass Spanien der absolute Favorit ist. Durch den Trainerwechsel jetzt, 24 Stunden vor Beginn, ist das ein bisschen anders. Ich würde sagen, Brasilien ist wahrscheinlich die Mannschaft, die derzeit am stärksten und am meisten Potenzial hat. Und ein vielleicht abwegiger und eigensinniger Tipp von mir ist, dass ich glaube, dass Kolumbien eine der großen Überraschungen dieses Turniers werden kann.
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