Es ist gerade einmal zwei Jahre her, dass Stefan Ferdinand Etgeton seinen Debütroman veröffentlichte und die Rezensenten mit einem lässigen, ungestümen, zärtlichen Ton entzückte. Der Text sauste in durchgehender Kleinschreibung vorwärts und erzählte von zwei jungen Männern, die quer durch Osteuropa trampen, im Gepäck philosophische Lektüre und jede Menge Sehnsucht nach dem wahren, ungezähmten Leben. "rucksackkometen" las sich wie eine präzise hingerotzte road novel, und wenn die beiden Helden am "diktat der rationalität" rüttelten und "eine totale zerkaputtsprengung alt-normativer zwangsmatrizen" herbeiträumten, erinnerte das nicht zufällig an den Furor eines Rolf Dieter Brinkmann.
Etgeton, geboren 1988 im westfälischen Städtchen Mettingen, war 27 Jahre jung und beantwortete freimütig Fragen nach seinem literarischen Vorbild: die Autoren der Beat Generation, insbesondere Jack Kerouacs legendäres "On the Road". Erstaunlicher war: Dieses Bekenntnis hatte nichts Peinliches und nichts Naives.
Vorwärtstreibender Rhythmus der Sätze
Etgetons Debüt machte Lust auf mehr, und jetzt hat er nachgelegt. "Das Glück meines Bruders" heißt sein zweiter Roman, der etwas ruhiger daherkommt, aber aus ähnlichem Geiste schöpft. Schon in den ersten Sätzen des Romans erkennt man jenen vorwärtstreibenden Rhythmus der Sätze wieder, der das laute Lesen geradezu herausfordert.
"Alles beginnt im Grunde mit einem Haus, also der wichtige Teil der Story beginnt mit dem Haus, und es stand schon länger leer, und wir hatten auch gar nicht vorgehabt, da noch mal hinzufahren, weil es auch genauso gut hätte sofort abgerissen werden können, weil neun von zehn Häusern leer standen damals in der Straße und in ganz Doel. Eigentlich war das Leben fast gänzlich gewichen aus diesem Ort, und ob es ihn heute überhaupt noch gibt, das sage ich noch, doch es war ein feines Häuschen mit einem kleinen Garten dahinter und sogar noch einem Schuppen für Geräte und Hühner und einem Plumpsklo, das aber niemand mehr zu benutzen brauchte, und Hühner gab es auch keine mehr. (...) Aber mein Bruder und ich, wir wollten noch mal hin nach Doel und ein letztes Mal schauen, (...), auch weil es Sommer war und wir keine Pläne hatten."
Sinn für abgründige Settings
Von diesem Trip in die Vergangenheit im Sommer 2010 erzählt der Roman. Der Ich-Erzähler Botho, sein Bruder Arno und dessen Freundin Anja machen sich zu dritt auf den Weg ins belgische Örtchen Doel, wo die Brüder früher regelmäßig ihre Kindheitssommer bei den Großeltern verbrachten. Der Schauplatz beweist Etgetons Sinn für abgründige Settings: Doel, direkt hinterm Deich in Sichtweite des belgischen Pannen-AKW gelegen, gleicht einem Geisterdorf, in dem ein letztes Dutzend Menschen ausharrt. Der Ort muss der Hafenerweiterung weichen. Die Anfänge, Zwangsenteignungen, das allmähliche Verschwinden hatten die Großeltern noch erlebt.
"Opa hatte mal gesagt, dass es ein Gefühl des Nichtgewolltseins, der drohenden Beraubung und der Ungewissheit sei, aber er starb dann ja einfach, und wer von den anderen Bewohnern was Schönes woanders fand, zog schweren Herzens weg und vermied die stete Demütigung (...) und ergab sich."
Furiose Abrechnung eines "Normalos"
Die Geschichte des wegrationalisierten Ortes Doel liefert den Hintergrund für die berührende Erzählung einer komplizierten Bruderbeziehung. Gemeinsam aufgewachsen in einer hessischen Kleinstadt, verloren die Brüder sich später aus den Augen. Botho flüchtete aus der Piefigkeit einfacher Verhältnisse, studierte in Bochum und wurde Lehrer. Arno, scheinbar labiler und ohne akademischen Ehrgeiz, blieb in der Provinz hängen, machte Hausmeisterjobs oder gar nichts und trank sich ins Elend, bis sein Bruder ihm am Tiefpunkt wieder zurück auf die Beine half. Die gemeinsamen Tage in Doel bringen sie einander sehr nah, reißen aber auch alte Wunden auf und gipfeln in einer furiosen Abrechnung Arnos mit dem Akademiker-Bruder.
"'Die Arroganten und die Abgehobenen, die studiert haben und überhaupt nicht mehr wissen, wie die Leute in diesem Land ticken, die hassen uns, die hassen die Normalos. Mein ganzes Leben lang habe ich nur einstecken müssen.' – 'Ich hasse dich nicht, Arno!' – 'Botho, ich weiß, dass du mich nicht hasst, aber das tust du ja nur nicht, weil ich dein Bruder bin. All die anderen, die wollen mich fertigmachen, verstehst du? Die würden dich auch fertigmachen, wenn sie herausbekämen, (...) dass du tief im Herzen immer noch ein Lumpenkind vom Land bist (...). Die wissen nämlich nicht mehr, was Heimat und Anständigkeit bedeuten. (...) Die lachen doch nur, wenn sie was hören von Freiwilliger Feuerwehr und Hacksteak und Schützenverein und Fußball und vom Autoschrauben und Hausbauen und von der Gewerkschaft und von einem Arbeitsplatz fürs Leben. Aber das sind nach wie vor die Dinge, die mich bewegen!'"
Ein Plädoyer für Solidarität
Das klingt, als melde sich hier der berüchtigte "Wutbürger" zu Wort, und so verkehrt ist diese Vermutung nicht. "Das Glück meines Bruders" erzählt von Arnos Frust über die Ignoranz "der da oben", zu denen nun auch der eigene Bruder gehört, und vom Preis der Entwurzelung, den Botho für seinen gesellschaftlichen Aufstieg zahlt. Das ist einfühlsam geschildert, aber keine Frage: Geschwisterkonkurrenz gehört zu den archaischen Themen der Literatur, von Kain und Abel bis hin zu Dieter Wellershoffs Rivalitätsroman "Blick auf einen fernen Berg". Insofern behandelt Stefan Ferdinand Etgeton kein neues Sujet, aber er gibt ihm einen interessanten Dreh.
Die Differenz der Brüder, so eine mögliche Lesart, steht für die Entfremdung zwischen akademischen Eliten und den sogenannten "Normalos". Gesellschaftliche Spaltung, Identität und Zugehörigkeit, Heimatgefühl und Verlust - diese Themen verleihen dem Roman seine politische Dimension. Im Zentrum stehen, durchaus politisch zu verstehen, zwei Brüder. Doch wo die aktuellen gesellschaftlichen Fronten unüberbrückbar scheinen, verbindet Botho und Arno trotz aller Differenzen ein unverbrüchliches Gefühl: Bruderliebe. Oder sollte man gleich sagen: Brüderlichkeit? Empathie? Man kann "das Glück meines Bruders" auch als Plädoyer für Solidarität lesen.
Stefan Ferdinand Etgetons zweiter Roman mag schwächer sein als sein Erstling und das Ende ein wenig konstruiert. Aber er beeindruckt mit Mut und Aufrichtigkeit.
Stefan Ferdinand Etgeton: Das Glück meines Bruders.
Verlag C.H. Beck, 2017, 240 Seiten, 19,95 Euro
Verlag C.H. Beck, 2017, 240 Seiten, 19,95 Euro