Archiv

Stefan Weidner: "Fluchthelferin Poesie"
Übersetzung als Auseinandersetzung mit dem Anderen

Mit Kindertotenliedern wurde Friedrich Rückert bekannt. Er gilt als einer der größten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts und als bedeutender Übersetzer orientalischer Sprachen. Der Islamwissenschaftler und Schriftsteller Stefan Weidner hat Rückert einen Essay gewidmet mit dem Titel "Fluchthelferin Poesie".

Von Kersten Knipp |
    Blick auf das Denkmal des deutschen Dichters Friedrich Rückert in dessen Geburtsort Schweinfurt (Unterfranken).
    Blick auf das Denkmal des deutschen Dichters Friedrich Rückert in dessen Geburtsort Schweinfurt (Unterfranken). (picture alliance / dpa / Daniel Karmann)
    Seinen Landsleuten, jedenfalls den Besten unter ihnen, traute Friedrich Rückert einiges zu. In seinem Einführungsgedicht zu seiner Übersetzung altarabischer Heldenlieder schrieb der 1788 geborene Dichter und Übersetzer, sie ließen "täglich" die Grenzen des Landes hinter sich, und das mit vor allem einem Ziel:
    Zu führen in sein Haus
    Die Völker aller Zungen,
    Und wunderbar erklungen
    Ist da ein Weltgespräch beim Schmaus.
    Das Gedicht ist so etwas wie das ästhetische und zugleich ethische Glaubensbekenntnis Rückerts, der sich, übersetzend, lehrend oder sprachwissenschaftlich mit über 40 Sprachen auseinandersetzte, überwiegend aus jener Region, die früher einmal "Orient" und heute, weniger romantisch, "Naher Osten" heißt. Was man aus der Beschäftigung mit der heute so zerrissenen, kriegsgeplagten Region lernen kann, dieser Frage geht der Islamwissenschaftler und Übersetzer Stefan Weidner in seinem Buch "Fluchthelferin Poesie", einem Essay über Rückert und die Philosophie der Übersetzung nach.
    Rückert selbst verbrachte den Großteil seines Lebens in der fränkischen Provinz. Trotzdem dürfte er mit dem Gedicht auch sich selbst gemeint haben. Denn auch er zog ja philologisch aus, reiste sprachlich in weit entlegene Weltregionen, erkundete deren Literaturen und übersetzte sie ins Deutsche - darunter auch den Koran.
    Die Übersetzung, das war Rückerts Beitrag zum "Weltgespräch beim Schmaus", wie er es formulierte. Dieses "Weltgespräch" setzt viel voraus - vor allem den Verzicht darauf, die Verschiedenartigkeit des Anderen vorschnell auszublenden. Dafür, so kann man - dank Stefan Weidners Essay - nun auch Rückert verstehen, gibt es gute Gründe. Denn die Angleichung des Anderen ist intellektuell ebenso unredlich wie unbefriedigend. Sie stutzt die Vielfalt der Welt auf die eigene Weltsicht zurück, passt ihre Komplexität den eigenen Voraussetzungen an - und riskiert damit, sie zu banalisieren und bis zur Banalität zurechtzuschneiden.
    Gewiss, auch das deutet Rückert freundliches Wort vom "Weltgespräch beim Schmaus" an: Freundschaften und innige Beziehungen lassen sich quer über die Kulturen knüpfen. Fremdartigkeit muss und darf nicht in Exotisierung münden. Doch die allzu eilfertige Identifikation, zitiert Weidner Rückerts warnenden Hinweis in dessen Gedicht "Der Abendländer im Morgenland", wird sehr schnell lächerlich:
    Geh weg, man rechnet dir zu Schande
    die farbigen Gewänder. Was spielst du Narr im Morgenlande
    den einzigen Morgenländer?
    Es leuchtet ein: Das Verständnis des Anderen erfordert mehr, als sich ein Stück Stoff überzuziehen. Es setzt die intellektuelle Auseinandersetzung voraus - eine Auseinandersetzung, die vielleicht nirgends in so verdichteter Form abläuft wie in der Übersetzung.
    Im banalen Sinne, schreibt Weidner, ist die Übersetzung vor allem eine Serviceleistung. Sie bietet den raschen Transfer zum Original. Doch zumindest in der Übersetzung künstlerischer Texte, etwa der Poesie, ist dieser Service nicht einfach zu haben. Denn der Transfer setzt äußerste Arbeit an der Zielsprache voraus. Er entfremdet sie ihrer natürlichen Umgebung, schafft sie auf gewisse Weise sogar ganz neu. "Übersetzen ist so gut wie dichten, als eigene Werke zustande zu bringen - und schwerer, seltener", zitiert Weidner Novalis. Schärfer noch formulierte es Walter Benjamin, auch er ein Übersetzer. Für ihn ist eine Übersetzung die Emanzipation der Sprache von sich selbst. Zitat: "Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern lässt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur umso voller auf das Original fallen."
    Benjamin deutet es an: Zumindest in der Poesie lässt das Medium Sprache den Inhalt nicht ungefiltert aufscheinen. Die Sprache des Übersetzers verweist den Leser auf die Sprache selbst, zeigt ihm - das ist integraler Teil der künstlerischen Arbeit - die Abstraktion, die die Annäherung an das Original erfordert. Zitat Weidner:
    "Für Herder, Rückert und viele andere ihrer Zeit ist das Deutsche natürlich nicht das enge, kleingeistige Deutsch, das Goethe ironisch erwähnt, sondern ähnlich wie bei Benjamin, wo die 'morschen Schranken' der Sprache ausgerechnet in der Übersetzung durchbrochen werden, ein allererst zu bildendes, neues, und eben dadurch zur Universalität hin entwicklungsfähiges Gefäß."
    Sprache als Entwicklung - darin, so Weidner, ist sie Gesellschaften verwandt: Auch sie sind ja nicht stillgestellt, sondern in ständiger Bewegung. In der Übersetzung scheint das Fremde auf - durchaus auch das Fremde der eigenen, teilweise eben nur scheinbar vertrauten Sprache. Wie Sprache ist auch Gesellschaft ein, Zitat Weidner, "sich fortlaufend entwickelndes Projekt". Belege dafür findet er bei Rückert - aber auch vielen anderen Übersetzern, die er in seinem Essay zitiert.
    Eben das zeigt uns die Übersetzung: Sie, als künstlerisch bearbeitete und darum abstrahierte Sprache, bewahrt uns vor der Illusion hinzugeben, die Welt in ihrer Komplexität und überwiegenden Fremdartigkeit immer schon verstanden zu haben.
    Stefan Weidner: "Fluchthelferin Poesie"
    Wallstein Verlag. 62 Seiten, 12 Euro