Unter mangelndem Selbstbewußtsein leidet Stewart O'Nan gewiß nicht. Er ist sich wie ein guter Handwerker seiner Fähigkeiten bewußt und spielt sie gekonnt aus. Das Experiment, einen ganzen Roman wie eine überdimensionale Reihung von Antworten anzulegen, ist ihm erstaunlich gut gelungen. Doch nicht nur die Fragen, die man nie zu Gesicht bekommt, sind fiktiv. Auch der Fragesteller. Zwar ist Stephen King durchaus lebendig. Der erfolgverwöhnte Autor von Gruselthrillern existiert tatsächlich, hat mit dem Buch aber auch nicht das Mindeste zu tun. Stewart O'Nan benutzt ihn quasi als Symbol für eine Art von Bestsellerliteratur in den USA, die sensationsgierig die tatsächlich vorhandenen Gewalttaten und Serienmorde als medienwirksame Themen ausschlachtet. Auf die Idee zu seiner Mörderin brachten den Autor allerdings Recherchen für seinen zweiten, bislang nicht übersetzten Roman, der sich mit dem Trauma der amerikanischen Vietnam-Veteranen auseinandersetzt. "Ich habe nach Erinnerungen von Vietnam-Veteranen gesucht und bin dabei auf eine Sammlung von Berichten von Veteranen gestoßen, die wegen krimineller Delikte im Gefängnis saßen. Einer der Männer erzählte dabei, ohne auch nur die mindeste Reue zu empfinden, hämisch vergnügt von den Verbrechen, die er begangen hatte. Das erweckte in mir so einen Eindruck wie: ‘Junge, das hat richtig Spaß gemacht, all diese Leute umzubringen, sie erst mit einer Waffe zu bedrohen und sich über sie lustig zu machen, bevor sie dann starben.' Dann erinnerte er sich aber daran, daß es ihm eigentlich leid tun sollte und sein ganzer Tonfall änderte sich und er wurde plötzlich sehr religiös, gab sich ganz zerknirscht und sagte: 'Das war jemand ganz anderes, nicht ich, und ich dachte: 'Da gibt es niemanden anderen. Das warst du und nur du allein.' So fing ich an, über eine Figur nachzudenken, die genauso lügt, und landete bei Margie, und sie benutzt ein bißchen diese Stimme, diesen Effekt."
Die Gefahr, der Stewart O'Nans Roman "Die Speed Queen" bisweilen erliegt, ist die Faszination, die von diesem bewußtlosen, verantwortungslosen, rauschhaften Lebensstil der jungen Frau, ihres Mannes und der gemeinsamen Freundin ausgeht. Da Margie und nur sie allein das Wort hat, wird die Vergangenheit natürlich glorifiziert, schöngeredet, so zurechtgerückt, daß Margie möglichst gut dabei wegkommt. Schuld haben die anderen, ihr durchgedrehter Mann Lamont und ihre ebenso verrückte Freundin Natalie, mit der sie eine sexuelle Affäre hat. Später versucht Margie allerdings Natalie zu erschießen. Sie glaubt, Natalie habe sie mit ihrem Mann betrogen. Eifersucht, Neid, Gier, schließlich hemmungsloser Drogenkonsum und Dealerei führen unweigerlich in die Katastrophe. Erst wird brutal und mitleidslos ein älteres Ehepaar gequält und umgebracht, dann die halbe Mannschaft eines Schnellrestaurants massakriert, schließlich noch ein Polizist erschossen. Natürlich schreibt Margie, die bei all diesen Morden ihren kleinen Säugling mit herumschleppte, daß sie ihre Taten bereut, schließlich sollen die Antworten später auch einmal ihrem Sohn übergeben werden und vor dem möchte sie nicht allzu schlecht aussehen. Doch man spürt zu deutlich die Absicht, als daß man ihr die Unschuldsbeteuerungen abnimmt. Auch ihre plötzliche Bekehrung zu Gott wirkt aufgesetzt. Daß eben dieser Eindruck entsteht, ist durchaus von Stewart O'Nan gewollt.
Pate für diese Geschichte stand aber nicht nur der Vietnamveteran, sondern auch der 1995 entstandene, heftig umstrittene Film von Oliver Stone, "Natural Born Killers", die Geschichte eines sinn- und gedankenlos mordernden Pärchens. "Es ist eine Kritik an vielen Road Movies und den Thrillern, eine Art Parodie, Satire, wie dumm sie sein können", so O’Nan. "‘Natural Born Killers’ ist der dümmste Film, der jemals gedreht worden ist. Er ist geradezu komisch schlecht. Der Roman spielt zu einem großen Teil mit diesen Konventionen, die Margie aus der amerikanischen Popkultur übernommen hat. Dieser Bonnie-and-Clyde-Stil, das ist ihr Lebensmodell, ein sehr übles Vorbild, so wie diese sensationsgierige Popkultur uns nach wilderen Drogen verlangen läßt, nach verrückterem Sex und schnelleren Autos und Sensationen, Sensationen, Sensationen. Das bringt einen aber tatsächlich nirgendwo hin. Das amerikanische Road Movie hat kein Ziel, führt letztlich nirgendwo hin. Die Art und Weise, wie uns die Popkultur dieses falsche Leben aufdrängt, läßt aber in uns den Wunsch danach entstehen. Wir wollen es, es macht uns Appetit auf etwas, was für uns nicht gut ist. Uns tut nicht immer gut, was wir wollen, und die Medien, glaube ich, drängen uns bis zum Extrem. Es ist eine bissige Kritik, ein sehr extremes Buch."
Link: Kritik zu "Speed Queen"