"Zwei Mönche bestiegen die Kanzel und sangen den vierundneunzigsten Psalm. Ihr Gesang schwebte ins hohe Gewölbe der Kirche empor wie das Bittgebet eines Kindes. Während ich andächtig diesem bewegenden Wohlklang lauschte, diesem klingenden Vorhof der Freuden des Paradieses, gewahrte ich hinter den Fenstern des Chores, genau über dem Altar, einen schwachen Schimmer, der die herrlichen Farben der Gläser aufleuchten ließ. Es war der erste zaghafte Vorschein der Morgendämmerung."
Romantisch klingt die Beschreibung des morgendlichen Choralgesangs in Umberto Ecos Mittelalter-Krimi "Der Name der Rose". Für die Mönche der münsterländischen Benediktinerabtei Gerleve gehört der Gregorianische Choral zur täglichen Routine: Drei bis vier Stunden widmen sie dem Gesang. Von den Laudes bei Sonnenaufgang bis zur Komplet, dem Nachtgesang, gliedert der Choral den klösterlichen Alltag. Alle zwei oder drei Stunden trifft man sich in der Klosterkirche zum gesungenen Gebet.
"Um 5 Uhr in der Früh werden wir geweckt mit Glockengeläut. Um 5:20 Uhr feiern wir die Vigilien, also die Nachtwache und das Morgenlob, bestehend aus Psalmgesang, aber auch über längere Strecken Psalmrezitation, dass man auf einem Ton langsam den Psalm vorträgt. Also Psalmodie, Lesung, Stille, Lobgesang. Das Ganze dauert etwa eine Stunde."
"Herr öffne meine Lippen, so wird mein Mund dein Lob verkünden." Jeder Morgen beginnt mit demselben Psalmvers, Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr.
"Der eine räuspert noch, der Zweite krächzt und der Dritte ist schon bei Stimme – und dann haben wir dreimal 'Herr öffne meine Lippen' – und dann geht es mit Psalm 95: 'Kommt lass uns jubeln vor dem Herrn', und das wird gesungen. Man kann nicht immer jeden Vers, jedes Wort bei sich behalten. Ich lasse es auch schon mal an mir vorbeigleiten oder über mich hinweg wehen. Das ist mein tägliches Brot."
Gesang als Grundstein des Zusammenlebens
"Das Herz freut sich ohne Worte, also singt..!" forderte der mittelalterliche Kirchenvater Augustinus seine Klosterbrüder auf. Für Laurentius, Abt des Klosters Gerleve, dient der Gesang aber nicht nur dem Gotteslob und der spirituellen Versenkung – er bildet auch eine wichtige Basis des täglichen Zusammenlebens, stiftet Gemeinschaft unter den Brüdern.
"Man stellt sich aufeinander ein, singt miteinander, achtet aufeinander. Es ist auch ein Singen im Hören. Also beim Singen selber höre ich. Ich höre auf die anderen, höre auch meine Stimme."
"Wenn da jemand aus dem Takt kommt oder vorschlägt oder hinterherklappert, dann hängt das damit zusammen, dass er nicht konzentriert, dabei ist oder auch wirklich nicht ganz in der Gemeinschaft drinsteckt in diesem Moment; sondern vielleicht auch von seinem Denken her daneben steht. So nach und nach erleb ich zumindest, dass die meisten dann auch einschwingen und mitmachen, sich mitnehmen lassen in diese Pausen, in diese Einsätze hinein."
Anspruch trotz einfacher Melodien
Der gregorianische Gesang kommt mit wenigen Tönen aus, verzichtet auf Begleitung durch Instrumente, die Melodien sind schlicht und werden einstimmig gesungen, musikalische Kontraste fehlen, das Tempo ist langsam. Trotzdem spricht der Choralgesang auch heute viele Menschen an, selbst wenn sie der Religion kritisch gegenüber stehen.
"Was fasziniert die Menschen? Ich glaube es ist gerade diese absolute Reduktion der Mittel. Das heißt, der Mensch ist auf der einen Seite reduziert auf seine Stimme allein, hat kein Instrument dabei. Auf der anderen Seite ist er aber als Person voll und ganz gefordert, als Sänger. Dann die archaische Dimension. Das sind Gesänge, die sind sehr archaisch."
Stefan Klöckner leitet das Institut für Gregorianik an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Seine Begeisterung für den Choral reicht weit zurück. Schon als Kind nahm ihn der Zauber der gesungenen Liturgie gefangen.
"Das war so eine Einheit von Raum, Weihrauch, Licht, Klang, Mythos, Mystik. Das hat uns Kindern unglaublich gut gefallen. Das war eine Welt vor der wir staunen konnten. Wir haben kein Wort verstanden, aber ich fand das einfach toll. Das ließ einen immer so ein bisschen erschauern, das gehörte dazu."
Volle Konzentration beim Choralgesang
Geheimnisvoll, leise, entrückt – was der Laie als Atmosphäre der Magie, vielleicht sogar der Entspannung empfindet, fordert vom Sänger hohe Konzentration. Die asketische Melodie lenkt seine ganze Aufmerksamkeit auf den Text. Denn der steht beim Choral im Mittelpunkt.
"Es geht also beim Meditieren des Wortes Gottes sehr stark um einen Prozess der mit einer gewissen Erkenntnis des konkret gedachten Wortes zu tun hat. Das ist Meditare im christlichen Sinne, dass ich auch in die Mitte dieser Schriftstelle komme."
"Dicere" und "cantare" – die lateinischen Ausdrücke für "sprechen" und "singen", waren im antiken Gebrauch austauschbar. Einen Psalm sprechen bedeutete ihn zu singen. Als Gebet zählte nur das klingende Wort – die christlichen Kirchenväter der Antike knüpften damit bewusst an die jüdische Tradition des Synagogengesangs an.
"Die Antike kennt kein leises Lesen. Deshalb sagt so ein Mann wie Augustinus: 'Das Wort selber kann nur erklingendes Wort sein.' Er sagt also: 'Die Bücher haben Seiten und die Seiten haben Stimmen.' Er spricht von den Voces Paginarum. Von den Stimmen der Seiten, die Bücher klingen. Wenn sie das nicht tun: Das geschriebene Wort ist nur Zeichen für das Wort, das ist nicht das Wort selber."
Durch das ständig wiederholte Singen des Psalmverses eröffnet sich dem Betenden nach und nach der theologische Inhalt des Textes.
"Dann haben die Wüstenväter das Bild der wiederkäuenden Kuh gebraucht, ruminare, das Wiederkäuen. Immer wieder aufstoßen und durchmahlen, um sich klar zu machen: Was ist das eigentlich? Bis ich das letzte Korn bildlich zermahlen habe zwischen den Zähnen und der geistliche Nährwert voll und ganz mir aufgegangen ist."
Im engen Verhältnis zum Text stehen die dazu gehörigen Melodien, die das Wort musikalisch untermalen und ausdeuten.
"In der Gregorianik, vor allem in den Messgesängen, gibt es den Jubilus; das heißt auf der Silbe aaaa, Hallelujaaa, da können Kaskaden von auf- und absteigenden Melodien sich ereignen."
"Ich weiß nicht wie viele Töne das sind, wo diese Freude, vor Gott zu stehen und sich sozusagen von dieser Lebendigkeit anstecken zu lassen, das auszusingen und ausklingen zu lassen. Das ist schön!"
Zusammenspiel von Wort und Schrift
Die anonymen Urheber der mittelalterlichen Gesänge verwandten große Sorgfalt darauf, Wort und Musik aufeinander abzustimmen. Manche Choralverse wurden aus verschiedenen Bibelstellen zusammengestellt oder um kurze Kommentare ergänzt. So etwa im Choral "Christus factus est", der in der Karwoche gesungen wird.
"Christus factus est pro nobis oboediens usque ad mortem – Christus ist für uns gehorsam geworden bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Zwei Dinge bemerkenswert. Das erste ist: Im griechischen Original gibt es kein Äquivalent für Pro Nobis. Da heißt es einfach nur: 'Der Herr ist gehorsam geworden bis zum Tod.' Und dann wird da eingefügt: 'Für uns!' Das ist das erste bemerkenswerte. Dann kommt die Vertonung. Und diese Vertonung staut genau vor diesem Moment einen Augenblick auf, um das was folgt umso mehr herausheben zu lassen. Ich singe das einmal vor: 'Christus factus est pro nobis.' Aber: Christus factus est pro nobis, er wurde für uns gehorsam. Für uns heute auch, gehorsam bis zum Tod. Das schafft wirklich nur diese Vertonung der Gesänge, die nichts anderes ist als Niederschlag einer Betonung von Heiliger Schrift."
Auch für Berthold Daun steht der theologische Gehalt der gesungenen Psalmverse im Mittelpunkt:
"Was mich mittlerweile am Choral besonders reizt ist, dass man 'ne besonders gute Ausdrucksmöglichkeit hat, sich mit den Texten, die wir singen, auseinander zu setzen."
Seit über 30 Jahren leitet der inzwischen pensionierte Gymnasiallehrer die kleine Choralschola der katholischen St.Suitbertus-Pfarre in Solingen-Weeg, eine von vielen Laiengruppen, die sich der Gregorianik widmen. Einmal wöchentlich treffen sich die sieben Männer zur Probe in einem kleinen Raum im Gemeindehaus.
"Mir gefällt der Choral, obwohl ich nie Latein in der Schule gehabt habe, aber das lernt man ja mit der Zeit. Und ich hab Spaß daran, dass wir auch in verschiedenen Kirchen singen."
"Ich singe deshalb Gregorianik, weil die festliche Gestaltung des Gottesdienstes sehr wichtig ist."
"… weil der Choral für mich so ein meditativer Gesang ist."
"Ich singe seit meiner Kindheit gern und ich bete seit meiner Kindheit gern und die Kombination von beidem ist für mich die ideale Hinwendung im Gebet zu Gott."
Gregorianik bei Kirchenbesuchern beliebt
Spaß am Singen, Vorliebe für meditative Klänge, Beschäftigung mit Glaubensinhalten: Die Motivation der Laiensänger ist unterschiedlich. Doch der Choralgesang schweißt sie eng zusammen – die meisten von ihnen sind von Anfang an dabei. Etwa zehnmal im Jahr bereichert die Schola den Gottesdienst. Bei den Gläubigen ist die Gregorianik beliebt.
"Der Hang zur Spiritualität hat ja nicht abgenommen sondern ist in diesen Tagen ja eher besonders stark – ohne dass es den Leuten bewusst ist. Deshalb wird alles in dieser Richtung gesucht, gewünscht, um ein Gegengewicht zu haben gegen das materielle Erleben, das man heute ja ganz im Vordergrund hat."
Nicht nur im kirchlichen Alltag ist das "Comeback" der Gregorianik spürbar.
"Meine Einschätzung ist, dass das Interesse deutlich zunimmt. Es gab mal eine Zeit, da war man sehr nachlässig – auf allen Seiten. Da war man in der Seelsorge nachlässig mit der Theologie; man sagte, wir brauchen keine Theologie, wir brauchen nur Psychologie. Und da war man in der Kirchenmusik nachlässig und sagte: Wir brauchen keinen gregorianischen Choral, wir brauchen nur ein paar Lieder, am besten Wohlfühl-Lieder, neue Lieder, was auch immer – wobei das nicht immer Wohlfühl-Lieder sind. Jetzt kommt man doch zunehmend darauf, dass man da einen Schatz hat, der brachliegt."
Gregorianischer Gesang stürmt die Charts
Stefan Klöckners Einschätzung wird auch durch Zahlen belegt: Die Zisterziensermönchen des Klosters Heiligenkreuz in Österreich veröffentlichten 2008 eine Aufnahme mit Gregorianischen Gesängen. Ihre CD "Music for Paradise" stürmte binnen weniger Wochen europaweit die Klassik- und Pop Charts. Der Boom hält an: Fast jährlich bringen die geschäftstüchtigen Mönche aus Heiligenkreuz im Wienerwald eine neue CD auf den Markt. Der Absatz ist reißend. Gregorianik verkauft sich gut und spricht ein breites Publikum an – das haben auch andere Sparten des Musikbusiness längst erkannt.
"Ich hatte irgendwo in der Zeitung mal gelesen, da gab's in so ner Riesen-Diskothek, die hatten Chill-Out Zonen, und in diesen Chill-Out Zonen spielten die Choral. Und da gingen die Leute auch hin, um dann wieder so ein bisschen zu sich selbst zu finden."
Schon in den 90er Jahren landete die Popband Enigma mit einem raffinierten Sound-Mix aus orgiastischem Gestöhne und Mönchsgesängen einen Riesenhit: Über 20 Millionen CDs gingen damals über die Ladentheke. Und auch heute versuchen zahllose seriöse und weniger seriöse Ensembles vom Gregorianik-Boom zu profitieren: Selbst die Heavy Metal- und Hard Rock-Szene bedient sich hin und wieder beim Repertoire der mittelalterlichen Melodien.
"Das gab es immer wieder mal, dass man dann so große Räume benutzt hat, lange Kutten angezogen, Gesichter bleich geschminkt und dann möglichst langsam und möglichst lautstark ein Paternoster oder was auch immer gesungen hat und dann mit dem Klang ein bisschen zu spielen. Das hat mit der Substanz dessen, was da passiert eigentlich nichts zu tun."
Hype sorgt auch für Kritik
Der gegenwärtige Hype um die Gregorianik hat für den Theologen und Sänger Stefan Klöckner nichts mit der Wiederbesinnung auf christliche Werte zu tun.
"Wir haben von der Romantik vielleicht geerbt eine perfekte Teilung in zwei Welten: Eine Traumwelt und eine reale Welt. All das, was irgendwie einen Übertritt in die Traumwelt ermöglicht – auch wenn das jetzt bei den großen Geistesfiguren der Romantik viel tiefer geht und viel systematischer ist – aber das grobe System haben wir heute immer noch. Alles was die Flucht in die Traumwelt ermöglicht, was so ein bisschen heile Welt darstellt und Gegenwelt zum rasenden Stillstand, der uns täglich umgibt, all das ist schön."
"Ich glaube, dass die damit richtig viel Geld gemacht haben. Das sehen Sie bei Wellness, das sehen Sie bei der Reduktion von Hildegard von Bingen auf Dinkelschleim und Saphirstaub und Salat ohne Dressing und ähnliche Tendenzen. Das alles sind nette Aperçus, aber es trifft nicht die Substanz. Es gibt einfach 'ne große Bereitschaft, die Aperçus für die Substanz zu halten und zu sagen: Wenn ich so diese Nebensache pflege, habe ich so ein bisschen, so einen Schatten der Substanz auch noch in der Hand. Ist ein Trugschluss aus meiner Sicht. Aber wer dafür Geld ausgeben mag, bitteschön, so lange es nicht meines ist."
Die gegenwärtige Rückbesinnung auf den Gregorianischen Choral offenbart, wie tief die Sehnsucht nach Spiritualität und Transzendenz sitzt. Mit mystischem Klangbrei lässt sich dieser "geistliche Hunger" kaum stillen. Ungeeignet ist der Choral auch als Sedativum, das dabei helfen soll, die Komplexität der realen Welt für einige Stunden vergessen zu können. Wer aber in die Stille hört, die alten Melodien und Worte wirken lässt, ihre Botschaft zu ergründen sucht, dem kann der Gregorianische Choral vielleicht Antworten geben.
"Wer das einmal wirklich kennengelernt und gepflegt hat, der möchte sich davon nicht verabschieden, weil es eine große Vielfalt in sich birgt, die ungleich größer ist, als wenn man jetzt meinetwegen so ein Gotteslob in die Hand nimmt, ein normales Gesangbuch. Da bieten eigentlich auch die gregorianischen Melodien und die Vielfalt der Texte eine viel größere Bandbreite."
"Wenn ich in den Ferien bin und ich geh irgendwo spazieren und ich bin allein für mich, dann singe ich auch schon mal ganz leise für mich die Vesper. Das hängt sicher damit zusammen, dass ich mit dieser Form auch hier im Kloster groß geworden bin."