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Streifzüge durch die Welt der Collage

Zwei große Ausstellungen - im MARTa Herford und im Kunstmuseum Ahlen - widmen sich der Collage. Vom dadaistischen Scherenschnitt bis zu neuesten Tendenzen sind 400 Werke zu sehen. Der Titel "Ruhe-Störung" ist dabei Programm.

Von Peter Backof | 30.09.2013
    "Was kann frecher sein, als in einem Kunstbetrieb mit hoher Kunst, in einer Zeit, wo es tolle Museen gibt, Arbeiten zu machen, im Kollektiv, wo es nicht nur einen Künstler gibt, sondern Gemeinschaftswerke. Kein Genius, der dahinter steht, sondern: Alltag. Das war: Shocking! Das ist für jemanden, der den Wert der Kunst über Materialität definiert, eine Frechheit."

    Zertrümmern und Verstören, die hohe Kunst vom Sockel zu holen, die revolutionäre Haltung: eine, wenn nicht die wichtigste Facette der Collage, erklärt Thomas Schriefers, einer der sechs Kuratoren der beiden Ausstellungen in Herford und Ahlen, die folgerichtig zusammen "Ruhe-Störung" heißen und uns auf "Streifzüge durch Welten der Collage" mitnehmen wollen.

    Erstaunlich, wie besagte Frechheit oder Störung der Ruhe sich in verschiedenen Jahrzehnten immer wieder ähnlich manifestiert. Wir erleben sie in kleinen Klebebildern des Dadaisten Kurt Schwitters, der Fahrkarten und Zeitungsannoncen in seine abstrakten Kompositionen integriert, das pralle Leben auf der Straße – um 1920 – zu Kunst erklärt. Wir sehen - und hören sie hier im Hintergrund - in den Müll- und Lärmskulpturen von Hubert Berke, Mitte der 1960er.

    Bis hin zum Schabernack von heute. Eine Mona Lisa von Laas Abendrot 2010. Eine Replik von Da Vincis Original, überklebt mit dreidimensionalen Kulleraugen und dem Slogan "Dem Künstler eine knallen!" Das ist von der Haltung her gar nicht weit entfernt vom dadaistischen Impetus, den Bürger zu verschrecken, rund hundert Jahre vorher. Die weitläufigen Parcours´ in Herford und Ahlen sind nicht chronologisch aufbereitet, sondern – im Prinzip wie eine Collage – nach Themenbereichen. Roland Nachtigäller, Direktor des Marta Herford:

    "Ich hab mich mal damit beschäftigt: Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Collage und der Fotomontage? Es gibt einen ganz klaren. Die Collage ist das Zusammenfinden von Versatzstücken, wo tatsächlich das Aufeinanderprallen und der Schnitt eine wichtige Rolle spielen. Also nicht: das am Ende sich gut zusammenfügende Gesamtbild, sondern sich daran stoßen, dass da Dinge nicht besonders gut zusammenpassen."
    Beide Ausstellungen fassen den Begriff der Collage sehr weit. Jegliche Form von Materialansammlung kann Collage sein, wenn der Schnitt, der Bruch in die lineare Wirklichkeit deutlich hervortritt. Diana Sirianni zum Beispiel mit der Arbeit Wildwuchs von 2012, eines der spektakulärsten Werke. Bis unter die 22 Meter hohe Decke eines Saals in Herford ordnet sie bunte Scherben und Schnipsel, an Fäden aufgehangen, völlig frei an. Unser ganzes Blickfeld ist dadurch gestört, wie der Blick in einen stellenweise verpixelten Raum. Wir verlieren den Boden unter den Füßen.

    "Wenn es eine These der Ausstellung gibt, dann vielleicht diejenige, dass wir deswegen heute wieder auf ein größeres Interesse an der Collage treffen, weil unsere Wirklichkeit so angelegt ist. Unsere Technik des Wirklichkeitszugangs ist, dass wir aus ganz vielen verschiedenen Quellen Dinge zusammensuchen müssen, wir haben eine unglaubliche Informations- und Bilderflut und wir können nur noch überleben, indem wir sehr selektiv auf Dinge zugreifen, sie zu unserem eigenen Bild zusammensetzen."

    Schon der Bildaufbau einer Internetseite ist ja formal eine Collage, meint Roland Nachtigäller, ein Zusammenschnitt von Wirklichkeiten, mit einer Verlinkung, also Fährten in noch weitere Wirklichkeiten. Der Grund, warum sich Künstler in den letzten Jahren wieder verstärkt der Collagetechnik bedienen: Wie gehen wir als Künstler um mit all diesen Wirklichkeiten? Als Besucher der beiden Ausstellungen werden wir uns so auch ganz zwangsläufig auf subjektive Streifzüge durch Collagewelten begeben, die Fülle der Werke ist nahezu unüberschaubar. Wir können in die Verästelungen der politischen Collage der 1930er, 40er eintauchen, kunsthandwerklich raffinierte und sehr sinnliche Materialansammlungen erleben, oder in einem verblüffenden Video von Ulu Braun aus Berlin, in dem ein Fahrstuhl endlos fährt, über neue Schnitttechniken staunen.