Deutlicher geht es kaum: "Wenn das Überleben der Demokratie und des Rechtsstaats auf dem Spiel stehen, müssen die EU-Institutionen die Stimme erheben und handeln." So lautet der Schluss-Satz in einem Brandbrief, den alle wichtigen Fraktionen des EU-Parlaments unterzeichnet haben. Und den auch der Grünen-Abgeordnete Reinhard Bütikofer für dringend angebracht hält, wie er im Interview mit dem ARD-Europastudio Brüssel deutlich macht:
"So drastisch hat sich noch nie ein Mitgliedsland der EU von den gemeinsamen Werten der Demokratie und des Rechtsstaats abgewandt. Das ist außerordentlich dramatisch."
EU-Kommission in verzwickter Lage
Die EU-Kommission bringt der Streit mit Polen indes in eine äußerst verzwickte Lage: Erstmalig in der Geschichte der Europäischen Union überhaupt hatte sie im Januar 2016 ein 'Verfahren wegen der Gefährdung des Rechtsstaats' eingeleitet. Das hatte zwar zwischen Brüssel und Warschau zu einem regen Briefverkehr geführt. Allerdings mit dem einzigen Ergebnis, dass der Ton immer rauer geworden ist. Selbst dem nicht als Hardliner geltenden Kommissions-Vizechef Timmermans platzte in einer Diskussion mit dem polnischen Außenminister unlängst der Kragen:
"Gesetze bilden die Grundlage unserer Union. Nicht Macht, nicht Politik, nein: Verträge und das Gesetz."
Es ist nicht erkennbar, dass sich die polnische Regierung im Streit um die Justizreformen auch nur einen Millimeter auf Brüssel zubewegt hätte. Im Gegenteil: Sie untergräbt auch aus Sicht des CDU-EU-Parlamentariers Daniel Caspary die Unabhängigkeit der Richter immer mehr:
"Deswegen wünsche ich mir ein Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission. Wir müssen vor allem sicherstellen, dass die kommenden Wahlen in Polen entsprechend unserer demokratischer Grundsätze stattfinden können."
Entschiede sich Brüssel wirklich für diesen Weg, hätte es Warschau also mit gleich zwei Verfahren zu tun. In dem bereits laufenden Rechtsstaats-Verfahren wäre theoretisch denkbar, dass die EU ein Werkzeug zur Hand nimmt, das in Brüsseler Kreisen ‚Nuklear-Waffe‘ genannt wird: Das wären Strafmaßnahmen, die am Ende sogar den Entzug des Stimmrechts Polens bei wichtigen Entscheidungen zur Folge hätte. Nun sei es an der Zeit, dieses Werkzeug auszupacken, meint Reinhard Bütikofer:
"Die polnische Regierung hat ein bisschen den Eindruck: Die europäischen Hunde bellen, aber sie werden nicht beißen."
Nichts tun ist keine Option
Bislang hielt sich das Verlangen, den harten Sanktions-Weg einzuschlagen, jedoch bei Kommissionchef Juncker in engen Grenzen. Und bei den EU-Einzelstaaten sowieso. Zumal die ebenfalls rechtsnationale Regierung in Ungarn bereits verkündet hatte, dieses Vorgehen, für das Einstimmigkeit nötig wäre, blockieren zu wollen. Weshalb der CDU-Politiker Caspary im ARD-Interview vor einer Fehlzündung warnt:
"Deshalb setze ich darauf, dass wir im Dialog – im Zweifel mit dem klaren Zeigen der Waffen – der polnischen Regierung klarmachen, dass es hier um das Zusammenleben in Europa geht."
Dialog, Dialog, Dialog hieß bislang auch stets das Motto von EU-Kommissionsvize Frans Timmermans. Die Frage ist, ob Brüssel aber angesichts der jüngsten Entwicklungen das Gespräch mit Warschau für gescheitert erklärt. Nichts tun jedenfalls, heißt es aus der Kommission, sei keine Option. Doch die Zwickmühle bleibt: Im Brexit- und Trump-Zeitalter, in dem man befürchtet, dass sowohl London als auch Washington bewusst einen Keil in die Union treiben könnten, will man jeden Eindruck einer Spaltung unbedingt vermeiden. Eigentlich. Will aber gleichzeitig auch nicht zahnlos erscheinen.