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Streitgespräch zur Bildungspolitik
Notwendige Kritik oder ideologischer Grabenkampf?

In einem Buch rechnet Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, mit dem deutschen Bildungssystem ab. Zu hohe Abiturientenquoten hätten die Standards abgesenkt. Zudem lehnt er Gesamtschulen ab. Ihm widerspricht der SPD-Politiker Hubertus Heil: Die Schulform-Debatte führe zurück zu den ideologischen Grabenkämpfen der 70er-Jahre.

Josef Kraus und Hubertus Heil im Gespräch mit Kate Maleike |
    Siebtklässler strecken am 23.11.2016 während des Deutschunterrichts in einem Gymnasium in Friedrichshafen (Baden-Württemberg) ihre Hände nach oben.
    Gesamtschulen schneiden miserabel ab, meint Kraus. Gymnasien, Realschulen und Hauptschulen hätten Gutes geleistet. (dpa/ picture alliance / Felix Kästle)
    Kate Maleike: "Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt" - so hat Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes sein neues Buch genannt, das heute erscheint. Und so provokativ wie im Titel, so geht es dann auch im ganzen Buch zu. Warum Josef Kraus so starke Geschütze auffährt und vor allem die Bildungspolitik kritisiert, das wollen wir jetzt mit ihm besprechen. Guten Tag, Herr Kraus!
    Josef Kraus: Ja, guten Tag, hallo!
    Maleike: Warum fährt denn Ihrer Meinung nach unsere Bildungsnation vor die Wand?
    Kraus: Kurz gesagt, weil Ansprüche immer mehr runtergezogen werden, andererseits aber die Noten und Bilanzen immer besser ausfallen. Wir schrauben an der Quotenschraube, haben immer eine höhere Abiturientenquote, aber das geht nur um den Preis einer Absenkung der Ansprüche.
    "Warum läuft man der Gesamtschule noch hinterher?"
    Maleike: In Ihrem Buch kritisieren Sie ja drei große Bereiche, so kann man es, glaube ich, sagen: die uneinheitliche und teils unsinnige Struktur unseres Bildungssystems, dann nehmen Sie die Inhalte der Lehrpläne in den Fokus, wo Sie eher von "Leerplänen" sprechen, und das Problemfeld Sprache. Können Sie uns mal an einem Beispiel - nehmen wir doch vielleicht mal das gegliederte Schulsystem - erläutern, warum Sie finden, dass die Bildungspolitik da eher Probleme schafft?
    Kraus: Ja gut, wir debattieren in Deutschland seit Jahrzehnten um die Frage der Schulstruktur. Und eigentlich ist diese Frage beantwortet, denn in allen Schulleistungsstudien im innerdeutschen Vergleich hat sich herausgestellt, dass eine Gesamtschule, dass eine Einheitsschule, dass eine Gemeinschaftsschule, egal wie man sie nennt, miserabel abgeschnitten hat und weil es hinter dem liegt, was beispielsweise Gymnasien, Realschulen, zum Teil auch Hauptschulen geleistet haben und Gemeinschaftsschule und Gesamtschule das nicht erreicht hat, obwohl sie um 30 Prozent besser ausgestattet ist und warm, personell und sächlich. Das haben alle PISA-Studien gezeigt, solange man sie auch noch innerdeutsch gemacht hat und ausgewertet hat etwa bis zum Jahr 2009, und das haben andere Studien auch gezeigt. Also ich vermag nicht einzusehen, warum diese Debatte jetzt wieder aufgebrochen ist und warum man immer noch der Gesamtschule, jetzt gewendet in den Namen Gemeinschaftsschule, hinterherläuft.
    Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands Josef Kraus
    Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus (Horst Galuschka, dpa picture-alliance)
    Maleike: Hören wir doch, was die Bildungspolitik dazu sagt - diese Position wird Hubertus Heil jetzt einnehmen, der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, und dort ist er auch zuständig für die Bereiche Bildung und Forschung. Guten Tag, Herr Heil!
    Hubertus Heil: Guten Tag, ich grüße Sie!
    "Das versetzt uns zurück in die ideologischen Grabenkämpfe der 70er-, 80er-Jahre"
    Maleike: Was Herr Kraus da schreibt, ist ja eine ziemliche Breitseite für die Bildungspolitik. Wie sehen Sie das?
    Heil: Zum einen ist es zu viel der Ehre, wenn ich jetzt die gesamte Bildungspolitik vertreten würde. Es gibt sehr unterschiedliche Bildungspolitiken, aber jetzt mal im Ernst: Ich finde diese Debatte, ehrlich gesagt, am Kern vorbei, und das versetzt uns ein bisschen zurück in die ideologischen Grabenkämpfe der 70er-, 80er-Jahre, zugespitzt gesagt, Konservative, die sagen, Leistung ist wichtig, Elite ist wichtig, demokratische Linke, die Sozialdemokraten sagen Chancengleichheit ist wichtig. Und dann hatten wir einen PISA-Schock, und der hat deutlich gemacht, wir haben im deutschen Bildungssystem tatsächliche Probleme in beiden Bereichen, was Leistungsfähigkeit betrifft, aber vor allen Dingen was Chancengleichheit betrifft. Bei allem Respekt vor Herrn Kraus, die Welt hat sich weitergedreht. Die soziale Selektivität unseres Bildungswesens spielt in Ihren Analysen leider überhaupt gar keine Rolle. Wir haben vielfältigste Problemlagen in diesem Land, aber vor allen Dingen kriegen wir immer eins ins Stammbuch geschrieben: Dass in Deutschland tatsächlich soziale Herkunft, Hintergrund stärker über Bildungs- und Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen entscheidet, als Talent und Leistung. Was ich teile, ist, dass wir zu mehr Vergleichbarkeit kommen müssen, ich bin auch für Leistungsanforderungen. Letzter Punkt, den ich ansprechen will: Es geht ja bei Bildung tatsächlich nicht nur um Wissensvermittlung, gerade in einer stärker wissensbasierten Gesellschaft geht es auch um die Möglichkeiten, Fähigkeiten zu erwerben im Bildungssystem, und auch das kommt mir in dieser Analyse ein bisschen zu kurz.
    Hubertus Heil, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD
    Hubertus Heil, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD (dpa-Zentralbild)
    Niedrige Abi-Quoten - aber auch niedrige Jugend-Arbeitslosigkeit
    Kraus: Also da muss ich schon ein bisschen was dazu sagen: Natürlich spielt bei mir das Thema soziale Disparität auch eine Rolle, aber da ist PISA der völlig falsche Maßstab. PISA testet 15-Jährige, befragt 15-Jährige nach ihren Familienverhältnissen. Bei 15-Jährigen ist in Deutschland die Bildungslaufbahn nicht abgeschlossen, und wir haben in Deutschland eine ausgesprochen hochdifferenzierte, vertikale Durchlässigkeit. Die Tatsache - und das wird in der Debatte häufig übersehen - die Tatsache, dass wir in Deutschland zwar einerseits relativ niedrige Abiturientenquoten im internationalen Vergleich haben, gleichzeitig aber auch die niedrigsten Quoten an arbeitslosen Jugendlichen haben, das ist doch auch ein sozialpolitisches Faktum. Also, wenn wir Bildungspolitik sozialpolitisch diskutieren wollen, dann bitte nicht orientiert an PISA-Daten und 15-Jährigen, sondern dann muss man schauen, was ist bei den 20-, 22-Jährigen als Bildungsabschluss rausgekommen. Und Sie wissen selber, bin ich überzeugt davon, dass etwa 45 Prozent unserer jungen Leute, die eine Studienberechtigung erwerben, kein Gymnasium besucht haben. Also die soziale Selektivität wird durch diese zweiten Wege sehr, sehr ausgeglichen. Bitte sehen Sie nicht nur die horizontale Durchlässigkeit, sondern die vertikale Durchlässigkeit.
    Heil: Das ignoriere ich überhaupt nicht, aber noch mal: Diese Frage in Schulformdebatten aufzulösen, wie Sie das tun, das finde ich wirklich von gestern. Es gibt gute Gymnasien, es gibt schlechte Gymnasien.
    Kraus: Herr Heil, schauen Sie sich doch die Studien an…
    Heil: Gut integrierte Gesamtschulen ist es doch… sondern die Frage ist… Doch!
    Kraus: Ich nehme zur Kenntnis die Studien, etwa die Biostudie, die sagt, dass Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen zwei Jahre hinterherhinkt in der zehnten Klasse hinter den anderen Schulformen. Das ist doch ein Hammer, und das ist aber letztendlich auch unsozial, weil auf die Art und Weise Kinder mit einem niedrigen Anspruchsniveau seitens der Schule in ihren Herkunftsmilieus festgehalten werden.
    Heil: Also wir haben tatsächlich Probleme in unserem Bildungswesen und zwar ganz erhebliche. Wenn Sie sich den Zustand der Schulen angucken in bestimmten Quartieren, der erbärmlich ist, der Städte- und Gemeindebund sagt…
    Kraus: Das ist das Traurige …
    Heil: Nein, lassen Sie mich jetzt, Herr Kraus, mit Verlaub…
    "Meine Sorge ist, dass wir meinen, Bildung ist das, was PISA misst"
    Maleike: Lassen Sie sich doch bitte gegenseitig ausreden. Das wäre gut.
    Heil: Zur pädagogischen Fähigkeit gehört auch zuhören und antworten dürfen. Ich versuche mal eine Antwort, nachdem ich zugehört habe, und ich will Ihnen Folgendes sagen: Ich glaube, dass Sie viele Probleme in Ihrer Analyse ausblenden, und ich habe eins eben angesprochen: Die Tatsache, in welcher Kommune man lebt in Deutschland, ob das eine wohlhabende Kommune ist oder eine ärmere, zeigt sich auch in der Art und Weise, wie Lernorte ausgestattet sind. Um Beispiel zu nennen: Der Städte- und Gemeindebund sagt uns, dass die Hälfte aller Schulen in Deutschland sanierungsbedürftig sind. Die Ausstattung, was die digitale Bildung betrifft, hinkt und dispariert ziemlich in Deutschland, das muss man in Betracht ziehen, aber das auf Schulformdebatten zu überführen, das ist wirklich 70er-, 80er-Jahre-Grabenkampf.
    Kraus: Natürlich haben wir ein Gefälle innerhalb Deutschlands, was die Finanzkraft der Kommunen betrifft, und natürlich ist mir bekannt, dass wir wahrscheinlich ein Milliardenprogramm in zweistelliger Größenordnung brauchen, um die Schulen fit zu machen, nicht nur für die Digitalisierung. Was mir auch noch mal wichtig ist: Gehen Sie doch weg von dieser PISA-Debatte, von dieser hysterischen PISA-Debatte. PISA misst nur einen minimalen Ausschnitt aus dem schulischen Lernen und Bildungsgeschehen. Da wird Vieles nicht erfasst, und das ist meine Sorge, dass wir meinen, Bildung ist das, was PISA misst. Aber PISA misst nicht etwas im Bereich Fremdsprachen, nichts im Bereich geschichtliches, geografisches Wissen, ästhetische Bildung, politisches Wissen und so weiter mehr. Wir müssen davon wegkommen von dieser PISA-Fixierung.
    Heil: Noch mal: Ich habe mich nicht allein auf PISA bezogen, aber ich will Ihnen einen Vorschlag machen, was wir in Deutschland gemeinsam tun können, damit wir tatsächlich bei unterschiedlichen Analysen die Probleme anpacken, die wir haben: Das Erste und wichtigste ist, Bund, Länder und Kommunen müssen gemeinsam an einem Strang ziehen können, deshalb müssen wir das Kooperationsverbot - wir brechen das jetzt auf - fallen lassen. Zweitens, wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Ganztagsschule, zumindest im Primarbereich, im Grundschulbereich, weil das der wesentliche Ort ist, wo viele Entscheidungen über Lebenswege gestellt werden. Drittens, wir brauchen tatsächlich, wenn wir über Ganztagsschule reden, nicht nur Schule plus Mittagessen, sondern in Schulen multiprofessionelle Teams. Neben Lehrerinnen und Lehrern eine gute Unterrichtsversorgung, die Sie angesprochen haben, tatsächlich auch Schulsozialarbeit beispielsweise, weil wir nicht alle Dinge im Unterricht ansprechen können. Also mein Vorschlag an Sie ist, lassen wir die Grabenkämpfe mal beiseite, gucken wir uns die Analysen an und gehen dann wirklich weiter miteinander, anstatt ständig Bücher zu schreiben, die den Untergang des Abendlandes beschreiben. Das bringt uns nicht weiter. Da hilft weder ein Buch noch irgendwas.
    Kraus: Sie müssen sich das Buch mal anschauen. Ich schicke Ihnen auch gerne…
    Heil: Die Fahnen durfte ich Gott sei Dank vorab lesen.
    "Wir brauchen auch eine Offensive für den Lehrerberuf"
    Maleike: Vielleicht noch, Herr Kraus, für alle, die sich für das Buch dann auch interessieren, Sie nehmen ja nicht nur allein die Bildungspolitik da aufs Korn, Fett ab bekommt auch die OECD und unter anderem auch die Bertelsmann Stiftung, der Sie auch - in Anführungszeichen - "einen großen Einfluss bei der Bildungspolitik" nachsagen. Warum kommen denn keine Lehrerinnen und Lehrer eigentlich in einem Extrakapitel vor?
    Kraus: Weil Lehrerinnen und Lehrer letztendlich das umsetzen müssen, was ihre Dienstherren und was die hohe Politik macht.
    Maleike: Aber sie haben doch Gestaltungsmöglichkeiten.
    Kraus: Ja, nur relativ begrenzte Gestaltungsmöglichkeiten. Wenn die Vorgaben, die schulpolitischen Vorgaben, die Stundentafeln und wenn die Lehrpläne einfach schwach sind und anspruchslos sind, dann können Lehrer da nicht raus. Wir brauchen auch eine Offensive für den Lehrerberuf, das ist ganz klar. Wir haben Probleme bei der Rekrutierung des Lehrernachwuchses, insbesondere in manchen Fächern, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Lehrerberuf und das Arbeiten in der Schule zum Teil kaputtgeredet wurde, ein schlechtes Image hat. Darum fehlen uns auch die Leute.
    Maleike: "Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt", das neue Buch von Josef Kraus lässt wirklich kein gutes Haar an der Bildungspolitik. Dankeschön für das Gespräch an Josef Kraus selbst und an Hubertus Heil, den stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Bundestagsfraktion.
    Heil: Schönen Tag!
    Kraus: Danke auch beiden! Tschüss!
    Maleike: Das Buch ist bei Herbig erschienen und kostet 22,90 Euro.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.