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Studierfähigkeit von Abiturienten
Dialog als Lösung

Es bräuchte viel mehr Menschen, die Mathematik können, sagte Kristina Reiss, Professorin für Mathematikdidaktik an der TU München, im Dlf. Viele Berufe erforderten diese Kompetenz. Die Lehrpläne müssten deshalb überdacht werden und Schule sowie Universität besser miteinander ins Gespräch kommen.

Kristina Reiss im Gespräch mit Jörg Biesler |
    Kristina Reiss
    Kristina Reiss (picture alliance / Maurizio Gambarini/dpa)
    Jörg Biesler: Über die Jugend wird bekanntermaßen immer geschimpft. Schon die Antike kennt das Klagelied über den Kultur- und Bildungsverlust der nachwachsenden Generation. Heute aber wird darüber noch etwas kontroverser diskutiert – was vielleicht mit der Verkürzung der Gymnasialzeit zu tun hat oder auch damit, dass heute einfach mehr Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs zum Abitur kommen als früher, was politisch auch gewollt ist. Die Hochschulen klagen jedenfalls über fehlende Kenntnisse bei Studienanfängern, und das Thema ist mittlerweile so groß, dass das Leibniz-Institut für Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik und die Zeitschrift "Schulmanagement" heute zu einer Tagung eingeladen haben. Thema: Kompetenzorientierung und Studierfähigkeit – Ergebnisse, Kontroversen, Schlussfolgerungen. Und eine der Teilnehmerinnen ist Professorin Kristina Reiss, Dekanin der TUM School of Education an der TU München und dort auch Professorin für Mathematikdidaktik. Guten Tag, Frau Reiss!
    Kristina Reiss: Ja, guten Tag!
    Biesler: Sie sprechen heute über die "Kontroverse über die Studierfähigkeit", so heißt Ihr Vortrag. Wo verlaufen denn da aktuell die Frontlinien?
    Reiss: Wir haben seit einigen Jahren in der Mathematik und auch in anderen Fächern die sogenannte Kompetenzorientierung in den Lehrplänen, in den Bildungsstandards. Eigentlich ist das ganz einfach. Das heißt, dass man das Wissen, das man in der Schule erwirbt, auch anwenden sollte. Und es gibt das in den Sprachen, da hat aber niemand wirklich etwas dagegen. Weil, dass man Sprachen sprechen kann, das ist ja erwünscht. Aber in Mathematik ist da immer so ein bisschen der Streitpunkt, wird doch genügend Grundlagenwissen vermittelt, wenn ich in die Anwendung gehe! Nun hat aber Mathematik einen Anwendungskontext in den unterschiedlichsten Wissenschaften und auch im Fach selbst. Und ich denke, da rührt so eine ganz große Schwierigkeit her, dass die Art und Weise, wie man dann lernt oder was man lernt, hinterher für die verschiedenen Studienfächer unterschiedlich ist. Denn bei der Kontroverse geht es ganz klar auch um Studierfähigkeit, nicht nur um fachliches Wissen.
    "Die Anforderung von Hochschule an Schule ist sehr hoch"
    Biesler: Ja, und da streiten sich sozusagen die Schulen mit den Hochschulen. Die Hochschulen sagen, die Anforderungen brauchen wir, die Schulen sagen, das steht bei uns vielleicht gar nicht im Curriculum drin. Wie kann man denn da vielleicht zu einer Nachjustierung kommen, sodass alle miteinander glücklich werden? Oder ist das in diesen Zeiten nicht mehr zu erwarten?
    Reiss: Ach, ich denke, das würde gehen, wenn man sie auch vielleicht besser ins Gespräch bringen würde. Also meines Erachtens ist die Anforderung von Hochschule an Schule sehr hoch. Das, was Schule leisten kann mit sehr starken Abiturjahrgängen, ist vielleicht nicht immer ganz so hoch. Ich glaube, man müsste auch nachjustieren, in welchem Teil des Systems, welches Wissen vermittelt wird. Also wir definieren Studierfähigkeit immer noch sehr fachegoistisch. Und wenn ich Mathematik studieren möchte, dann bedeutet das aber etwas völlig anderes, als wenn ich in die Wirtschaftswissenschaften oder in die Sprachen gehe. Und ich glaube, der Dialog wäre jetzt angebracht, um wirklich einmal festzustellen, welche Möglichkeiten haben abgebende und aufnehmende Institutionen? Und ich denke, sie müssen sich auch beide verantwortlich fühlen.
    Biesler: Was ja im Grunde sich hier ausspricht auch, ist der Konflikt zwischen Berufsbefähigung und Befähigung zum Beispiel, ich sage jetzt mal: zum Forschen, zum wissenschaftlichen Arbeiten. Das sind zwei völlig unterschiedliche Dinge, zuweilen jedenfalls, nicht in jedem Fall, aber doch oft sehr weit auseinander. Was das erklärte politische Ziel ist, ist ja eigentlich, dass die Universitäten und die Fachhochschulen stärker für den Arbeitsmarkt qualifizieren, deswegen haben wir eine ganze Reihe von Masterstudiengängen, die sehr exakt auf einzelne Berufsfelder zugeschnitten sind, deshalb haben wir Bachelor und Master, damit die jungen Leute schneller in den Beruf reinkommen und schneller dafür qualifiziert werden. Müsste man nicht vielleicht den Schnitt noch mal viel früher machen und sagen, das, was früher das Abitur war, ist es heute nicht mehr, und es qualifiziert eben nicht für alle Hochschulstudiengänge, man müsste vielleicht stärker Hochschulzugänge schaffen, die weniger mit dem Abitur zu tun haben, und dann im Abitur wirklich diejenigen haben, die auch Forschung und Lehre irgendwann zum Beispiel gewährleisten können? Also ist der Systemfehler vielleicht gar nicht an der Hochschule, sondern schon vorher?
    Reiss: Das ist eine ganz schwierige Frage, das wissen Sie auch. Das ist ja alles hoch politisch. Wir sind der Meinung in diesem Land, dass das Abitur einfach für die Hochschule befähigt und dass es genau auch seine Funktion hat, Studierfähigkeit zu definieren. Umgekehrt wissen wir an der Hochschule – TU München ganz besonders –, dass, wenn wir zum Beispiel Studierende einmal auf ihre Eignung hin betrachten, wir zum Beispiel dazu kommen, dass Studienabbrecherzahlen geringer werden. Und das heißt, wir müssten uns dann ein bisschen von dieser Idee verabschieden, genauso wie Sie es sagen, ein bisschen allgemeiner werden oder sagen: Das Abitur hat einen Wert als eben der Abschluss, der einem Allgemeinbildung sozusagen attestiert. Und wir müssen aber in die Hochschulen stärker reingehen, dann die Verantwortung, Anschlüsse zu schaffen und eventuell auch tatsächlich zu sagen, dass gewisse Voraussetzungen dazu mitgebracht werden müssen, unabhängig vom Abitur.
    Besser definieren: Wie kann die Schnittstelle aussehen
    Biesler: Das Thema Eignungstests gerade auch an der TU München haben wir gleich auch noch mal im Programm. Da wird im Augenblick ja darüber nachgedacht, inwieweit das verfassungsrechtlich überhaupt erlaubt ist. Aber so, wie Sie es jetzt auch schildern, ist es im Augenblick die einzige Möglichkeit offenbar der Hochschulen zu sagen, damit wir nicht Bewerberinnen und Bewerber aufnehmen, die nach zwei Semestern abbrechen müssen, weil sie das einfach nicht schaffen, müssen wir dem Abitur noch eine zusätzliche Eignungsprüfung hinzufügen, an unserer Hochschule?
    Reiss: Also in manchen Fächern ist es sicherlich sinnvoll, in der Art und Weise vorzugehen. Andererseits würde ich auch immer dafür plädieren, dass die Universitäten auch ein kleines bisschen wach werden müssen und sagen müssen: Gut, wir haben die und die Voraussetzung, in der Schule haben sich Voraussetzungen geändert, auch wir müssen ein bisschen flexibler darauf reagieren. Wir haben das zum Beispiel in München für das Lehramtsstudium gemacht, dass wir diese Grundveranstaltung umgestellt haben und besser auf das abgestimmt haben, was sozusagen mit dem Abitur auch an mathematischem Wissen erworben ist.
    Biesler: Aber das ist vielleicht auch der Grund, warum das in der Mathematik besonders schwierig ist, weil da Üben zuweilen nicht hilft. Man muss halt ein gewisses Vorstellungsvermögen entwickeln auch für abstrakte Dinge, die man im Kopf sich vorstellt und die man nur mit mathematischen Mitteln ausdrücken kann, die man also auch gar nicht versprachlichen kann. Das kann nicht jeder, oder?
    Reiss: Das kann nicht jeder, aber wir brauchen viel mehr Menschen, die das können, weil das ja in vielen Berufen gefordert wird, die Wirtschaftswissenschaften, die Psychologie, Ingenieurwissenschaften ganz zu schweigen. Das sind alles Bereiche, die einen hohen Anteil an mathematischem Wissen erfordern. Und vielleicht müssen wir da auch noch mal die Lehrpläne überdenken, wie wir dann stärker dahin kommen, dass diese Anwendungsbereiche auch mitgedacht werden. Also ich kann das nur wiederholen: Ich bin der Meinung, dass Schule und Universität besser miteinander ins Gespräch kommen müssen, um besser zu definieren: Wie kann denn die Schnittstelle aussehen?
    Biesler: Möglicherweise ist der Dialog die Lösung bei der Frage nach der Studierfähigkeit von Abiturientinnen und Abiturienten. Kristina Reiss war das, heute nimmt sie teil an der Tagung "Kompetenzorientierung und Studierfähigkeit" in Berlin. Und sie hat uns im Deutschlandfunk davon erzählt, vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.