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In der Mitte

Die Mitte - das ist der Teil der Gesellschaft, um den sich Politiker am meisten bemühen. Dabei macht sich die Mitte heute nicht mehr am Einkommen fest, sondern an einer gemeinsamen Idee.

Von Stefan Maas | 18.08.2016
    Man sieht Menschen in einer Einkaufsstraße in Brüssel.
    In der Mitte der Gesellschaft sind die meisten Wählerstimmen zu holen. (picture-alliance / dpa / Thierry Roge)
    Es ist Viertel nach acht morgens. Astrid Hollmann baut ihren kleinen Wahlkampfstand auf. Ein speziell umgerüstetes Fahrrad. Während ihr Helfer den roten Sonnenschirm aufspannt und Hollmann selbst Programme und Stifte auf dem Holzkasten am vorderen Ende des Fahrrads bereitlegt und noch schnell ein Windrädchen für Kinder zusammensteckt, wogt der Berufsverkehr am Rosenthaler Platz mitten in Berlin.
    Die 46-Jährige will für die SPD ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen. Ihr Slogan: "Genau die Richtige für Mitte". Mitte, sagt sie, das ist ihr Wahlkreis. Die geografische Mitte von Berlin. Aber auch ein Ort, an dem sich alle Schichten der Gesellschaft begegnen. "Ich glaube, dass sich die Mitte, wie wir sie bis vor zehn, fünfzehn Jahren verstanden haben, man hat sie festgemacht an Einkommensgrenzen, dass das heute nicht mehr funktioniert. Ich glaube, dass sich die Mitte eher daran festmacht, dass Menschen für sich eine Idee haben vom Leben und das umsetzen können, dass sie stark sind, dass sie sich fortentwickeln können."
    In ihrer weinroten Lederjacke steht sie mitten auf dem Gehweg und drückt den Vorbeieilenden kleine Broschüren und Kulis in die Hand. Für Gespräche ist hier keine rechte Zeit. Rush Hour eben. Dafür gibt es andere Gelegenheiten. Da erzählen ihr die Menschen, was sie bewegt und was sie sich wünschen.
    "Ich glaube, was die Menschen hier besonders wollen, ist eine Zukunft für Ihre Kinder, ein sicheres, gutes Leben hier vor Ort, einen funktionierenden Staat, dass wir genügend Polizei haben, dass wir genügend Personal in den Schulen haben, dass wir genügend Schulen haben. Das ist das, was die Mitte interessiert, dass ihr Leben funktioniert. Ich meine, das Leben der Menschen funktioniert nicht nur, weil sie selber genug haben, sondern auch, weil die Rahmenbedingungen stimmen."
    Diese Rahmenbedingungen schafft die Politik. Auf lokaler Ebene, in den Ländern, vor allem auf Bundesebene. Und alle Parteien haben sie im Blick: die Mitte. Doch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung kam in diesem Jahr mit Blick auf die Einkommensverteilung zu dem Schluss: Die Mitte schrumpft. Keine neue Behauptung, für Politiker aber ein Warnsignal, denn in der Mitte sind, das liegt in der Natur der Sache, die meisten Wählerstimmen zu holen.
    "Uns geht es gut und das verdanken wir der Mitte"
    "Manchmal habe ich das Gefühl, dass sich die Politik eher mit den Randgruppen beschäftigt und weniger mit der Mitte, das ist sicherlich ungerecht", sagt Michael Fuchs. Der Blick von seinem Büro fällt direkt auf das Reichstagsgebäude. Fuchs sitzt für die CDU im Bundestag und ist stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion.
    "Die Mitte ist für mich die Gruppe in Deutschland, die dazu beiträgt, dass das Land so gut funktioniert, wie es funktioniert. Uns geht es gut, und das verdanken wir zu großen Teilen der sogenannten Mitte." Deshalb muss die entlastet werden, erklärt Fuchs. Wenige Tage zuvor hat sein Kollege Carsten Linnemann, der Chef der Mittelstandsvereinigung mitten in der Sommerpause und gut ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl ein Konzept für eine Steuerreform vorgelegt, die die Mittelschicht entlasten soll.
    "Nur die Mitte damit politisch ansprechen zu wollen, dass man ihnen jetzt mehr Netto vom Brutto verspricht, löst die Unsicherheitsprobleme in der Mittelschicht im Prinzip gar nicht", erklärt der Soziologe Holger Lengfeld, der sich an der Universität Leipzig mit der Mittelschicht beschäftigt. "Die eigentlichen Probleme sind aber andere, da geht es nicht um die Frage: Wie viel Netto bleibt vom Brutto übrig? Da geht es um die Frage: Wie sicher sind Erwerbskarrieren? Und das ist der entscheidende Punkt."
    Zwischen Auftrieb und Unsicherheit
    Denn die Mitglieder einer Schicht, das sind für den Soziologen Menschen mit ähnlichen Lebenschancen. Und die Mittelschicht zeichnet sich durch Aufstiegsorientierung aus.
    "Menschen wollen mehr aus sich machen. Wenn ich an die Generation meiner Eltern denke, dann gab es für diese Generation vonseiten der Wirtschaft oder des Arbeitsmarkts ein unausgesprochenes Versprechen: 'Wenn du dich anstrengst, eine gute berufliche Ausbildung machst, dann geben wir dir die Aussicht lebenslanger Beschäftigung.' Diese Art von Stabilitätsversprechen, von Sicherheitsversprechen gibt es seit Beginn der 90er-Jahre in geringerem Maße als zuvor. Das heißt, die Welt ist wirtschaftlich objektiv unsicherer geworden."
    Das habe lange zu einer ausgeprägten Abstiegsangst bei Teilen der Mittelschicht beigetragen, sagt der Soziologe Lengfeld. Seit der Wirtschaftskrise ab dem Jahr 2008, durch die Deutschland wesentlich besser gekommen sei als andere Länder, habe die aber messbar abgenommen. Das Vertrauen sei gewachsen, die Menschen hätten sich auf die neue Situation eingestellt. "Das Thema Abstiegsangst ist jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, zur Mitte dieses Jahrzehnts durch."
    Eines aber ist geblieben: "Dieses Versprechen von Linearität, es geht immer aufwärts, gilt ab den 1990er-Jahren für die da neu auf den Arbeitsmarkt Tretenden nicht mehr. Und das ist die Quelle der Verunsicherung."
    Die Politik kann nicht alles regeln
    Mit Blick auf den anstehenden Bundestagswahlkampf und die Möglichkeiten der Politik wirbt Lengfeld für etwas mehr Verständnis: "Die Vorstellung, dass die Politik alles regeln kann, ist doch eine, die die Politik letztendlich überfordert."
    Dass sie nicht alles regeln kann, das weiß auch Astrid Hollmann. Aber vielleicht einiges besser machen – nicht nur für die Mittelschicht. Erst einmal muss sie aber überhaupt gewählt werden. Dafür braucht sie die Mitte. Und genau die will sie finden auf ihrer nächsten Wahlkampfstation an diesem Tag: auf einem Biomarkt.