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Summarisch, allzu summarisch

Bereits die Startauflage der neuen Biographie von Carola Stern über Johanna Schopenhauer beträgt 100.000 Exemplare – kein Wunder, nachdem ihre bei Rowohlt erschienenen Bücher über Dorothea Schlegel (1990) und Rahel Varnhagen (1994) bereits Bestseller waren. Dass Carola Stern recherchieren und schreiben kann, hat sie auch zu anderen Gelegenheiten bewiesen, verfasste sie doch die Rororo-Monographie über Willi Brandt und das erste Buch über Walter Ulbricht. Ihre starke Beziehung zur Biographik vermittelte sie allen Lesern in ihrer 2001 erschienenen Autobiographie Doppelleben: "Es gab kein wichtiges biographisches Werk, das ich nicht gelesen hatte." Und, begeistert von Harold Nicolson, preist sie dessen Einsichten: "Eine Biographie muss einen Menschen schildern, die Zeit, die auf ihn einwirkt, lebendig machen und zugleich literarischen Ansprüchen gerecht zu werden versuchen." Weitere für die biographische Arbeit nützliche Fähigkeiten hat sie in ihrer langen Rundfunkarbeit erworben, wo sie lernte, "Material zu verarbeiten, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, das Handwerk und die Kunst des Aufbaus, des Zusammenfügens, des Bauens."

Annette Seemann |
    So viel Nachdenken über die Voraussetzungen biographischen Schreibens sind im Grunde die idealen Grundlagen für ein wunderbares Buch.

    Das neue Buch ist wohlgestaltet. Jeder Kapitelanfang wird mit den schwerelosen Scherenschnitten der Adele Schopenhauer und einem thematisch ausgewählten Motto gefeiert. Inhaltlich jedoch löst Carola Stern diesmal ihre eigenen Ansprüche nicht ein. Dies liegt vor allem an ihren summarischen Urteilen, die oft nur unabgesicherte Konjekturen sind. Mit diesen Urteilen wischt sie das umfangreiche vorhandene Material mit Schwung vom Tisch, reduziert es oder fasst es so zusammen, dass verzerrte Eindrücke entstehen. Ein Beispiel etwa: Das Goethe-Zitat. Goethe rezensierte Johanna Schopenhauers ersten Roman "Gabriele" in seiner Zeitschrift "Kunst und Altertum" positiv. In Carola Sterns Version "wird es die Übereinstimmung im Blick auf die weibliche Rollenzuteilung gewesen sein, die Goethe für Johannas Roman eingenommen hat" – die Übereinstimmung, wohlgemerkt, zwischen Ottilie in Goethes "Wahlverwandtschaften" und "Gabriele". Hat der Leser hier nicht etwas mehr Aufklärung verdient, und mehr noch: Stimmt das denn überhaupt? Die Autorin stutzte die lange Goethe-Rezension kurzerhand auf zwei amorphe Zeilen zusammen: "anmutiges Gefühl eines allgemeinen Wohlwollens, kein böses Prinzip...edle Gesinnung, Bildung und Natürlichkeit." Goethe als Autor eines Schlagwortkatalogs? Zum Vergleich ein Teil aus Goethes Rezension, jetzt aber in ganzen Sätzen: "Gabriele setzt ein reiches Leben voraus und zeigt große Reife einer daher gewonnenen Bildung. Alles ist nach dem Wirklichen gezeichnet, doch kein Zug ist dem Ganzen fremd; die gewöhnlichen Lebensvorkommnisse sehr anmutig verarbeitet. Und so ist es eben recht: der Roman soll eigentlich das ganze Leben sein, nur folgerecht, was dem Leben abgeht."
    Darüber hinaus konnte keinem Leser, am wenigsten Goethe selbst entgehen, wie eklatant sich Ottilie und Gabriele in Bezug auf die psychologische Motivierung ihrer Liebesentsagung unterscheiden: Während es bei Ottilie der von ihr verschuldete Tod des Kindes ist, der ihr die Liebe künftig untersagt, gibt es ein derartiges Begründungsmovens bei Gabriele nicht. Eine Übereinstimmung der weiblichen Rollenzuteilung kann hier beim besten Willen, angesichts auch Goethes bewusster Stilisierung der Ottilie im Sinne einer Heiligen, nicht angenommen werden.

    Johanna Schopenhauers Widersprüchlichkeit, sich einerseits anpassen zu wollen an Konventionen und Erwartungen ihrer Freunde und ihr gleichzeitiger Versuch, sich zu emanzipieren: Dies ist das Band, das die Autorin um eine Person legt, bei der sie selbst manchmal zweifelt, ob sie den heutigen Lesern noch etwas zu sagen hat. Aber womöglich rühren diese Zweifel nur von den vielen Fragen her, die Carola Stern nicht gestellt hat: Etwa – wie lässt sich das offenbar schon früh auffällige Unverständnis Johanna Schopenhauers gegenüber ihrem einzigen Sohn Arthur erklären – nur dadurch, wie Stern es ausdrückt, dass dieser sich als Junior-Patriarch gebärdet?

    Oder: Wie lässt sich Arthur Schopenhauers auch theoretisch vertretene Frauenfeindlichkeit erklären, welche Erziehungsprinzipien waren hier möglicherweise wirksam? Von welchem Zeitpunkt an genau lässt sich der Widerstand gegen die Mutter konstatieren? Nicht einmal die Tatsache, dass gerade die Briefe der Mutter an den 15 Jahre alten Arthur von besonderer Lieblosigkeit sind, wird zum Anlass genommen, die Frage eines Konflikts zwischen pubertierendem Sohn und frustrierter Mutter zu beleuchten.

    Im Umgang mit Johanna Schopenhauers Werk geht die Autorin geradezu bracchial und im Grunde den Leser wie ihre Figur entmündigend um: Sie nennt den Roman Gabriele, den sie auf knapp einer Seite zusammenfasst, sie nennt ihre Reisebeschreibungen, ohne jedoch im Text einen Titel zu erwähnen. Immerhin konzidiert sie hier, dass diese Werke, - es waren mindestens elf - heute noch lesenswert seien und ihr den Beinamen einer deutschen Madame De Staël einbrachten.

    Sie nennt schließlich die Beschäftigung mit kunsthistorischen Themen, ohne auch hier den Titel, Johann van Eyck und seine Nachfolger , zu nennen, und weist schließlich auf den späten Roman Richard Wood hin. Dies Herauspicken tut sie einer Autorin an, die gegen Ende ihres Lebens eine 24bändige Gesamtausgabe vorlegen konnte, die aber, das versäumt Carola Stern nicht zu sagen, keinen Erfolg mehr hatte. Aber warum war dies so? Dass Johanna Schopenhauers Themen aus der Mode gekommen waren, liegt auf der Hand, doch diese Begründung ist etwas dürftig: "Ja, ja, ich weiß, die Zeit des Biedermeier, in der du deine "Entsagungsromane" schreibst, war auf Ausgleich, Duldung, Selbstbescheidung eingestimmt, und du hast sie zu den Maximen deiner weiblichen Romanfiguren gemacht. Aber deshalb haben deine Romane und Novellen uns, den Heutigen, im Unterschied zu deinen Reisebüchern, auch nichts mehr zu sagen." Mangelnde Distanz zwischen Biographin, beschriebener Figur und Publikum scheint auf, wenn die Worte "Du" und "wir" fallen, darüber hinaus ist Carola Sterns Einschätzung offenbar falsch.

    Ulrike Bergmann gibt mit ihrem ein Jahr zuvor erschienenen Buch über Johanna Schopenhauer weitaus gründlichere und sensiblere Analysen, indem sie vorführt, wie in den Novellen der Schopenhauer Biographisches, etwa die Liebe zu ihrem langjährigen Freund Müller von Gerstenbergk gespiegelt wird und wie J. Schopenhauer ihr ureigenes Problem, die Frage, wie Anpassung und Selbstbehauptung in Übereinklang gebracht werden können, immer wieder neu und prozesshaft sich wandelnd darstellt – eine frühe Form der Therapie also durch Literatur.

    Letztlich misst Carola Stern das Werk Johanna Schopenhauers an ihrem eigenen heutigen Maßstab, wonach nämlich nur das erwähnenswert ist, was erfolgreich ist. Doch nicht jedes erfolgreiche Buch ist auch gut und vice versa. Entsprechend lobt Carola Stern mehr als alles Johanna Schopenhauers Geschäftstüchtigkeit, insbesondere aber auch ihre harte Verhandlungstaktik mit Verlegern. Doch weiter mit den ungeklärten Fragen: Als es darum geht, warum die alte Johanna Schopenhauer nach ihrer Interimszeit am Rhein nicht nach Weimar, sondern nach Jena zurückkehrt, schreibt Stern begründend: "Sei es dass der Herzog es so wünschte, sei es, weil die Rückkehr nach Weimar der nun höchstens durchschnittlich bemittelten Dame mit ihrem einst so glänzenden Salon unangenehm gewesen wäre und sie den Klatsch in der Gesellschaft fürchtete." Verbürgt ist hingegen die Anordnung des Großherzogs an Johanna Schopenhauer, sich in Jena anzusiedeln und nicht in Weimar, und wesentlich plausibler erscheint die Deutung Ulrike Bergmanns, der Großherzog, der Johanna eine Pension verliehen hatte, wollte keinen Neid aufkommen lassen und diese Entscheidung nicht öffentlich werden lassen, zumal Johannas früherer Freund Gerstenbergk inzwischen in schmutzige Geschäfte verwickelt war. Weiter: Letztlich erfährt der Leser nicht einmal etwas über die Todesursachen Johanna Schopenhauers. Und auch warum Tochter Adele nur elf Jahre später als ihre Mutter verschied, ist der Autorin ebenfalls keine Erläuterung wert – bekannt ist aber, dass sie schon lange Krebs hatte und äußerst tapfer damit umging.

    In der Auswahl ihrer Fakten präsentiert Carola Stern insgesamt ein zu ausschnitthaftes, zu generalisierendes und daher zum Teil unkorrektes Bild ihrer Figur, sodass ihr Buch nicht empfohlen werden kann, wenn man sich umfassend über die Lebenszeit und die Person der Johanna Schopenhauer informieren will.