"Bei der Zeit! Der Mensch ist in Verlorenheit, ausgenommen diejenigen, die glauben, gute Werke verrichten, einander empfehlen, sich an die Wahrheit, an das Recht zu halten, und Geduld üben."
Im Zentrum dieser Sure steht der Wille der Zeit und seine Auswirkung auf das Schicksal des Menschen sowie der Einfluss, den der Mensch darauf nehmen kann.
Viele Araber in vor-islamischer Zeit waren ausgesprochene Fatalisten. Wie der moderne Mensch, der mit den deterministischen Gesetzen der Natur ringt, die sein Leben lenken und einschränken, so rangen auch die alten Araber mit der schicksalhaften Zeit.
Zeit wurde verstanden als eine stille und passive Kraft, die dennoch entsetzlich rastlos am Werk ist. Sie wirkt unerbittlich. Durch ihren bloßen Verlauf übt sie Kontrolle über das Leben des Menschen aus und lässt ihm keine Freiheit, unabhängig über sein Schicksal zu bestimmen.
Und welcher Verlust wäre größer für ein Individuum als der Verlust seiner Tage? Und welcher Verlust für Völker wäre größer als der Wechsel der Epochen und ihr Verschwinden in der Geschichte? Mit den Worten des großen Gelehrten al-Hasan al-Basrî: "Oh Sohn Adams, du bist nichts als deine Tage, mit jedem Tag, den du verlierst, geht ein Teil von dir verloren."
Entgegen dieser Schicksalsergebenheit wirkt die göttliche Inspiration, das eigene Los zu kontrollieren. Denn in der Sure wird eine Ausnahme zum deterministischen Zeitkonzept zur Sprache gebracht: "Ausgenommen diejenigen, die glauben, gute Werke verrichten."
Zum einen besteht diese Ausnahme im Glauben an Gott als denjenigen, der Kausalität und Geschichte kontrolliert, der Anfang und Ende ist, Alpha und Omega, der die Zeiten aufeinander folgen lässt, dessen natürliche Logik die Eichel zur Eiche werden lässt, den Samen zum gealterten Menschen.
Zum anderen geht dieser Glaube an die Herrschaft Gottes über den Lauf der Zeit mit guten Werken einher. Was aber sind gute Werke? Der Koran beschreibt sie an anderer Stelle als Taten, die das Herz als gut erkennt (arabisch: baṣīra) und die von der Gemeinschaft als korrekt anerkannt werden (arabisch: maʿrūf).
Genügt das aber bereits um den Einfluss des Schicksals zu brechen? Noch nicht! Glaube und Werke müssen begleitet sein von einer dauerhaften Selbstverpflichtung zu Rechtmäßigkeit und Wahrheit - und von der rechten Einstellung zur Zeit.
Die Sure fährt fort: "Einander empfehlen, sich an die Wahrheit, an das Recht zu halten, und Geduld üben."
Warum wird an dieser Stelle Wahrheit genannt, und wie bezieht sie sich auf das Recht? Das arabische Wort "haqq" kann als Wahrheit, aber auch als Recht verstanden werden. Es ist das, was im natürlichen und wahren Lauf der Zeit notwendiger Weise geschehen wird. Wahrheit ist - letzten Endes - unausweichlich, auch wenn man sie ‚für eine Weile’ zu meiden sucht.
Und warum Geduld, wofür steht sie an dieser Stelle? Geduld ist eine inhärent zeitbezogene Haltung. Wir haben sie im Hier und Jetzt entweder zu einem in der Zukunft erwarteten erfreulichen Ereignis oder zu einem Leid, das uns in der Vergangenheit widerfahren ist.
Geduldige Selbstverpflichtung zu Recht und Wahrheit garantieren, dass das zurückliegende gute Handeln in der Zukunft gute Ergebnisse hervorbringt: Gibt ein Mensch seinen Glauben auf, so macht dies seine vergangenen Werke für die Zukunft ungeschehen.
Der amerikanische Philosoph Waldo Emerson empfahl einst: "Folge dem Rhythmus der Natur: ihr Geheimnis ist Geduld".
Es wird hier im Koran das gleiche empfohlen. Jedoch wird dieser Empfehlung eine zusätzliche Behauptung beiseite gestellt: die Substanz der Geduld ist die Wahrheit.
Durch die unnachgiebige Hingabe an Wahrheit und Geduld, die Beständigkeit im Glauben und gute Werke entgeht der Mensch seiner Verlorenheit – so wird es im Koran von einem barmherzigen Gott gesagt.
Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Gründen der Sendezeit leicht gekürzte Fassung dieses Textes.