"Sag: 'Wäre das Meer die Tinte für die Worte meines Herrn, ja, das Meer würde sein Ende finden, ehe die Worte meines Herrn zu Ende gingen, auch wenn wir noch einmal so viel hinzubrächten.'"
Gott prägt Gleichnisse. Und selbst dies ist ein Gleichnis, ein Gleichnis über das, was weder Raum noch Zeit eingrenzen können, ohne sich selbst fremd zu werden.
Dieses Gleichnis ist in Worte gekleidet und handelt von den Worten. Worte über Worte und immerfort. Diese Worte sind die Worte Gottes; sie sind nicht die Worte eines fremden und fremdartigen Gottes, sondern "die Worte meines Herrn". So beginnt die sprachliche Komposition der Botschaft mit dem Imperativ: "sag", der an den ersten Adressaten der Offenbarung, den Gesandten Muhammad, gerichtet ist und mithin stellvertretend an die Menschen allesamt.
Die Worte Gottes, um die sich hier alles dreht, enden nicht, weder nach der Form noch nach dem Inhalt. Wir verfügen nicht über die Worte Gottes, weil sie ihrer Natur nach über sich und über uns hinausgehen. Es ist der Koran selbst, der als das Wort Gottes gilt. Gerade weil der Koran als das Wort Gottes sprachlich verfasst ist, fordert er Demut im Akt des Verständnisses. Jede Klarheit der Interpretation als Entschleierung der Worte Gottes birgt in sich Unklarheit, ja die Worte Gottes lassen sich eben nur bedingt entschleiern. Und doch bilden diese Worte die Kaaba im Herzen der Muslime. Der Schleier der Kaaba, geschmückt mit goldenen Fäden, bedeckt aber nicht ganz den kubischen Stein; er lässt Raum für Licht.
Die imposanten Gänge, die wohl verzierten Kuppeln und die hoch ragenden Minarette, die Licht spenden, bleiben vergessen durch die Anziehung dieser schwarzen Mitte; es ist gleichsam die absolute Nacht, die alles andere um sich kreisen lässt. So wie sich der Protagonist der wohl berühmtesten Liebesgeschichte der islamischen Welt, Madschnun um seine geliebte Leila dreht, so umkreisen die Muslime, in lichten Gewändern umhüllt, den Stein. Vom Feuer entfacht, gleich dem Öl, "ohne dass es berührt hätte das Feuer", wie es in der 24. Sure heißt (Koran 24,35), drehen sich die Muslime um diese Worte. In der Trunkenheit von Gott umrunden sie die immer enger werdenden Kreise bis sie in der Flamme vergehen, jedoch bleibt dieses Entflammen aus, ist doch der Islam eine Religion der Lebendigen, denn die Worte Gottes sind nicht versteinert.
Die Worte Gottes sind endlos, ihre endlose schöpferische Kraft zeigt ihre Dynamik, ihre Lebendigkeit - eine Lebendigkeit, die gewürdigt werden will – im Akt des Verstehens. Wer die Worte Gottes versteht, der räumt ein, dass dieselben Worte prinzipiell auch anders verstanden werden können. Eins ist, die Worte zu vernehmen. Ein anderes, sie zu verstehen. Damit ist aber mitnichten das Tor für Beliebigkeit und Willkür der Interpretation geöffnet. Die Deutung muss an der Gesamtkomposition der Botschaft gemessen werden, an den Kriterien der Gesamtbotschaft des Koran, am Kontext der Offenbarung, an den Bedingungen der Zeit und der ersten Adressaten. Die Deutung muss auch entscheidend an der in sich vielfältigen islamischen Geistesgesichte gemessen werden. Nicht alles, was vergangen ist, gilt es zu überwinden.
Mehr noch: Die Worte Gottes sind nicht nur auf den Koran beschränkt; die gesamte Schöpfung ist in seinem Wort beheimatet. Denn die Offenheit der Worte Gottes, dass sie nicht enden, selbst "wenn das Meer, nachdem es erschöpft, noch sieben weitere Meere dazu bekäme" (Koran 31,27), schenkt Offenheit. Die Worte Gottes können also nicht verstanden werden ohne die Menschen, die diese Worte verstehen. So mündet das unendliche Meer der Worte "meines" Herrn ins Meer "meiner" Seele, die "mich" nach dem Wort Goethes erkennen lässt: "Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis."
Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus sendetechnischen Gründen leicht gekürzte Fassung dieses Textes.