"Nicht ist Frömmigkeit, wenn ihr euer Angesicht wendet nach Osten oder Westen. Vielmehr ist Frömmigkeit, dass man an Gott glaubt, den Jüngsten Tag, die Engel, die Schrift und die Propheten, dass man das Geld – obwohl man es liebt – für den Verwandten, den Waisen, den Armen, den Reisenden, den Bettlern und für die Sklaven hergibt, dass man das Gebet verrichtet und entrichtet die Armenspende."
Diese Verse bestehen aus zwei Gedankeneinheiten. Der erste Gedanke beginnt mit einer Verneinung. Verneint wird zunächst ein Habitus. Sein Angesicht nach Osten oder Westen zu wenden kann Ausdruck der Frömmigkeit sein, aber wovor hier gewarnt wird, ist der bloße Vollzug einer religiös beabsichtigten Handlung, die aber als Selbstzweck dient. Gerade darin besteht eben nicht Frömmigkeit, dass eine für fromm gehaltene Handlung bloß ausgeführt wird.
Die Erwartung, die nach der Verneinung der scheinbaren Frömmigkeit erzeugt wird, ist bedeutsam. Die eigentliche Frömmigkeit geht der bloßen Handlung voraus; sie steht gleichsam hinter der Handlung. Sachgemäß beginnt also die zweite Gedankeneinheit mit einer positiven Bestimmung der Frömmigkeit.
Frömmigkeit besteht demnach im Glauben an Gott, den Jüngsten Tag, die Engel, die Schrift und den Propheten. Sodann liegt die Frömmigkeit in der selbstlosen Zuwendung des Gläubigen zu anderen Menschen, den Verwandten, den Waisen, den Armen, den Reisenden, den Bettlern und den Gefangenen. Und schließlich ist die Frömmigkeit im Verrichten des Gebets verankert.
Diese Worte, die für das Entstehen einer islamischen Glaubenslehre von immenser Bedeutung gewesen sind, sehen Frömmigkeit als etwas Innerliches. Denn der Glaube, worin die Frömmigkeit zunächst und wesentlich bestehen soll, als Zustimmung des Herzens, entzieht sich jeder Äußerlichkeit, entzieht sich dem fremden Urteil.
Wer glaubt, der geht eine Bindung mit Gott ein, indem er das mit dem Herzen für wahr hält, was ihm durch die Offenbarung vermittelt ist. Der Gläubige wird damit in seinem Glauben geschützt, so dass allein sein Bekennen Gegenstand des Urteilens und Verurteilens sein kann. Ob er tatsächlich glaubt, darüber kann kein anderer Mensch verfügen. Frömmigkeit ist also die innere Entschiedenheit im Glauben.
Und doch bleibt die Frömmigkeit nicht im Innern des Gläubigen. Sie geht über zum Nächsten, zum Bedürftigen und Schwachen, zum Waisen und Unfreien, um Gerechtigkeit hervorzubringen, ohne dabei auf die eigene Belohnung zu achten. Damit scheint sich die Frömmigkeit im und für den Anderen zu bewahrheiten. Hier zeigt sich eine Grundhaltung der islamischen Religiosität, die nicht theoretisch oder praktisch orientiert ist, sondern stets eine ganzheitliche Haltung einnehmen will. Mithin zeigt sich die Frömmigkeit als eine Schlüsselfigur. Frömmigkeit fordert sowohl eine wahrhaftige innere Haltung als auch ethische Verantwortung und das Bemühen um Gerechtigkeit.