"Siehe, diejenigen, die glauben, die sich zum Judentum bekennen, die Christen und die Sabier – wer an Gott glaubt und an den Jüngsten Tag und rechtschaffen handelt, die haben ihren Lohn bei ihrem Herrn, sie brauchen keine Furcht zu haben und sollen auch nicht traurig sein!"
Eine versöhnliche Botschaft scheint in diesem Vers durch: Nicht nur Muslime können sich Hoffnung auf das Paradies machen; auch Juden, Christen und Sabiern steht es in Aussicht, wenn sie nur gläubig sind und gut handeln.
Wer diese Sabier eigentlich sind, darüber haben sich muslimische Exegeten schon früh den Kopf zerbrochen; vermutlich handelte es sich um eine Gemeinschaft von christlichen Täufern in Mesopotamien.
Noch wichtiger war den Exegeten jedoch in der Regel die Frage, wie dieser Vers mit ihrer festen Überzeugung zu vereinbaren ist, dass alle Nichtmuslime in die Hölle kommen. Dafür entwickelten sie zwei Erklärungsmodelle.
Das erste ging davon aus, dass der Vers lediglich über Konvertiten spricht, also über ehemalige Juden, Christen und Sabier, die den Islam angenommen haben. Schließlich betont der Vers ja, dass die Verheißung göttlichen Lohns nur für Menschen gelte, die an Gott glauben; und nach Ansicht der vormodernen Theologen glauben nur Muslime auf die richtige Weise an Gott.
Die zweite Erklärung bezieht den Vers auf diejenigen Juden, Christen und Sabier, die vor der Verkündung des Korans lebten oder noch keine Gelegenheit hatten, seine Botschaft kennenzulernen. Allenfalls, so schrieb der berühmte Theologie al-Ghazāli, der im Jahr 1111 starb, seien diejenigen Nichtmuslime entschuldigt, die über den Islam lediglich verzerrte und verleumderische Informationen erhalten hätten; nicht aber die, die unter Muslimen lebten und reichlich Gelegenheit hätten, deren Religion anzunehmen.
Anders sahen es Vertreter der islamischen Mystik. So schrieb al-Quschairī, ein Sufi des 11. Jahrhunderts, Unterschiede im Religionsgesetz und in der offiziellen Religionszugehörigkeit seien belanglos, solange man nur an das Wesentliche glaube, nämlich an Gott und seine Eigenschaften.
Solche Auslegungen fanden jedoch kaum Verbreitung. Das änderte sich erst um die Wende zum 20. Jahrhundert herum, als Reformdenker sich um eine Neubestimmung des Verhältnisses zu Nichtmuslimen bemühten.
Sie beschränkten das Entgegenkommen jedoch auf Juden und Christen, und auch nur auf solche, deren Glauben ihrer Ansicht nach nicht gegen die Einheit und Einzigkeit Gottes verstieß. So meinten sie, dass Christen, die an die Dreieinigkeit glaubten, nicht ins Paradies gelangen könnten.
Ab den 1970er Jahren kam es erneut zu einer Debatte um die Heilserwartung von Nichtmuslimen, die bis heute geführt wird. Gerade in Südostasien weiteten muslimische Intellektuelle das Paradiesversprechen auf Anhänger aller Religionen aus.
So weit mochte der türkische Universitätstheologe Süleyman Ateş nicht gehen; dennoch löste er Ende der 1980er Jahre mit seinen Thesen zur Offenheit des Paradieses für Nichtmuslime eine große Kontroverse in der Türkei aus. Seine Gegner beriefen sich auf Überlieferungen über den Propheten Mohammed; Ateş hingegen berief sich auf die göttliche Barmherzigkeit, die im Koran wieder und wieder betont wird. In Deutschland erntete der Münsteraner Universitätstheologe Mouhanad Khorchide jüngst mit ähnlichen Ideen heftigen Widerspruch, aber auch begeisterte Zustimmung.
In Zeiten, in denen der dschihadistische Salafismus mit seiner Ideologie der Abgrenzung täglich Schlagzeilen macht, erscheint es einer wachsenden Zahl von Muslimen wichtig, nicht nur über das Verhältnis zu Nichtmuslimen im Diesseits zu reden, sondern auch den Exklusivanspruch aufs Paradies in Frage zu stellen. Und dabei leistet der hier besprochene Vers, der im Koran gleich zweimal vorkommt, hervorragende Dienste.
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