"Euch ist Verendetes verboten!"
Der Vers scheint nicht schwer verständlich zu sein. Offensichtlich ist von einem Speisegebot die Rede. Es wird verboten, Tiere zu essen, die nicht regulär geschlachtet oder auf der Jagd erbeutet wurden.
Doch so einfach ist die Sache nicht. In fast identischer Formulierung heißt es in Sure 4 Vers 23: "Euch sind Eure Mütter verboten!"
Welche Handlungen man an Müttern und an verendeten Tieren nicht ausführen darf, steht nicht da. Die weithin akzeptierte Meinung unter Gelehrten besagt zunächst, die Koranstellen seien entsprechend der Alltagskonvention zu ergänzen. Demnach ist es verboten, die eigene Mutter zu heiraten, und Verendetes zu essen. Nicht verboten wäre dann aber beispielsweise, verendete Tiere aus dem Weg zu räumen.
Doch was ist mit dem Fell der Tiere? Darf man etwa den Balg einer Ziege, die man morgens tot aufgefunden hat, zur Herstellung eines Wasserschlauchs verwenden? Darf man ein Schaffell als Teppich verwenden, wenn das Schaf nicht rituell geschlachtet worden war?
Zur Klärung lässt sich neben der Koranstelle eine Reihe von Hadithen heranziehen - das sind überlieferte Aussprüche oder Handlungen des Propheten Mohammed. Der sogenannte "Hadith Maimûna" etwa scheint die perfekte Lösung parat zu halten.
In ihm wird berichtet, dass der Prophet beim Anblick eines toten Schafes seine Gattin Maimûna gefragt habe: "Warum nutzt ihr nicht seine Haut?" Auf die Entgegnung, es sei ja verendet, entgegnete der Prophet: "Es ist nur verboten, es zu essen."
Der Maimûna-Hadith ist aber leider nicht der einzige Hadith zum Thema. Ein gewisser Ibn ‘Ukaim überliefert, der Prophet habe kurz vor seinem Tod einen Brief geschrieben und darin erklärt: "Nutzt nicht die Haut und die Sehnen von verendeten Tieren!"
Auch das wieder eine klare Aussage, die aber dem Maimûna-Hadith, widerspricht. Zur Auflösung dieses Widerspruchs bieten sich drei Methoden an:
Eine später offenbarte Koranstelle kann eine früher offenbarte Koranstelle abrogieren, also inhaltlich außer Kraft setzen. Dasselbe gilt in Bezug auf zwei Hadithe. Da der Prophet den Brief kurz vor seinem Tod geschrieben haben soll, kam der Hadith wahrscheinlich später als der Maimûna-Hadith. Folglich würde er deshalb diesen abrogieren.
Eine zweite Methode hält die sogenannte Hadith-Kritik bereit: Beide Hadithe sind in ihrer Qualität nicht gleichwertig. Während der Maimûna-Hadith makellos überliefert wird, weist die Überlieferung des angeblichen Briefs eine Reihe von Unstimmigkeiten auf, die seine Glaubwürdigkeit einschränken.
Den Königsweg weist nun aber die dritte Methode, nämlich die Anwendung beider widersprüchlicher Hadithe. Anstatt leichtfertig eine Koranstelle oder einen Hadith zu ignorieren, und sei er auch nicht ganz sauber überliefert, soll man nach Wegen suchen, beide gelten zu lassen. Dies geschieht häufig dadurch, dass man Spezifizierungen sucht. In unserem Fall gelingt eine solche Spezifizierung mithilfe eines weiteren Hadiths und unter Zuhilfenahme der Lexikographie.
Jener Hadith lautet: "Jede Haut, die gegerbt wird, wird rein". Das Wort, das in diesem Hadith für "Haut" verwendet wird, ist dasselbe, das im Hadith über den Brief verwendet wird. Dieses Wort bezeichnet, so die Lexikographen, nur die "ungegerbte" Haut. Das Wort, das im Maimûna-Hadith für "Haut" gebraucht wird, kann indes rohe Haut ebenso wie gegerbtes Leder bezeichnen.
Auch wenn Meinungsverschiedenheiten bestehen bleiben und verschiedene Interpretationen gleichberechtigt nebeneinander stehen, tut sich hier für die meisten Gelehrten nun die Lösung auf: Der Brief-Hadith - "Nutzt nicht die Haut von verendeten Tieren!" - lässt sich als Erklärung der deutungsoffenen Koranstelle heranziehen. Er verbietet die Nutzung der "ungegerbten" Haut verendeter Tiere. Diese Haut wird laut drittem Hadith durch Gerben rein. Und somit behält auch der Maimûna-Hadith seine Bedeutung, da er eben zum Nutzen "gegerbter" Haut anhält.
Bei der Audioversion handelt es sich um eine aus Sendezeitgründen leicht gekürzte Version.