Sandra Schulz: Seit bald drei Wochen läuft jetzt der Kampf um die kurdische Stadt Kobane im syrisch-türkischen Grenzgebiet. Gestern hatten die Extremisten vom sogenannten Islamischen Staat die erste Flagge gehisst. Jetzt haben sie offenbar schon mehrere Stadtviertel unter ihre Kontrolle gebracht.
Kurz vor der Sendung hatte ich Gelegenheit, mit dem Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik zu sprechen, mit Volker Perthes. Als Erstes habe ich ihn gefragt, warum der IS nicht zu stoppen ist.
Volker Perthes: Er ist tatsächlich auf einer Erfolgswelle, und Erfolg gebiert hier weiteren Erfolg. Solange es Meldungen gibt über den Vormarsch des IS, kann er neue Rekruten gewinnen und gibt es offensichtlich auch kaum Widerstand oder wenig Widerstand in den Gebieten, die er bereits beherrscht.
Und was die konkrete Situation um Kobane angeht, so sehen wir hier eine kleine Stadt, die eingezwängt ist zwischen der türkischen Grenze auf der einen Seite, wo keine Hilfe herkommt, und den Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates.
Und was die konkrete Situation um Kobane angeht, so sehen wir hier eine kleine Stadt, die eingezwängt ist zwischen der türkischen Grenze auf der einen Seite, wo keine Hilfe herkommt, und den Kämpfern des sogenannten Islamischen Staates.
Schulz: Und Assad und seine Truppen haben schon lange kapituliert?
Perthes: Nein, Assad und seine Truppen haben nicht kapituliert. Aber sie haben es, wenn man so will, akzeptiert, dass in den Gebieten, die sie im Osten Syriens und im Norden Syriens verloren haben, der Islamische Staat übernimmt. Das ist dem Regime in Damaskus im Zweifelsfall lieber, als wenn die moderate Opposition übernimmt, denn die moderate Opposition könnte eine echte Alternative zur Regierung in Damaskus sein, auch in der Sicht westlicher Staaten oder der arabischen Welt. Der Islamische Staat ist das nicht.
"Es wäre richtig, wenn die Türkei eingreifen würde"
Schulz: Sie haben es gerade schon gesagt: Die Dschihadisten sind jetzt quasi an der Grenze zur Türkei. Was bedeutet das?
Perthes: Nun, ich denke, die Türkei wird sich, falls Kobane fällt, noch überlegen, ob es gut ist, hier nicht den Kurden, trotz aller politischen Differenzen, die es gibt, geholfen zu haben. Denn ein solch terroristisches Staatsbildungsprojekt direkt an der Grenze zur Türkei, das wird nicht ohne Auswirkungen auf die Türkei bleiben. Es wird erhebliche weitere Sicherheitsprobleme für die Türkei schaffen, über die Zahl der Flüchtlinge, die in die Türkei hineinströmen, hinaus.
Schulz: Staatspräsident Erdogan hat sich in der letzten Woche ja schon die Billigung des Parlaments geholt für einen Einsatz in Syrien, aber auch im Irak. Worauf wartet der jetzt noch?
Perthes: Das ist schwer zu beantworten und da müssten Sie Herrn Erdogan oder seine Mitarbeiter fragen. Ich glaube, es wäre richtig, wenn die Türkei hier eingreifen würde, mindestens um die Stadt Kobane zu retten. Die türkischen Panzer stehen ja offensichtlich auf der anderen Seite der Stadt und warten auf einen Einsatzbefehl. Wir haben gesehen, dass die Regierung in Damaskus, mit der Ankara sowieso keine Beziehungen hat zurzeit, sich nicht einmal gegen die amerikanischen Bombardements der IS-Stellungen gewehrt hat, sondern diese akzeptiert, zum Teil begrüßt hat. Also ein völkerrechtliches Problem gibt es hier faktisch nicht. Und die Türkei könnte ihren eigenen Friedensprozess mit den Kurden, den sie ja unter Erdogan als Ministerpräsident begonnen hat, glaube ich, am besten befördern, wenn sie jetzt konkret helfen würde, eine kleine kurdische Stadt zu retten.
Schulz: Jetzt haben wir gerade schon darüber gesprochen: Der IS scheint im Moment nicht zu stoppen zu sein, trotz der Luftangriffe, die die USA und ihre Verbündeten fliegen. Sind Luftangriffe überhaupt eine Möglichkeit, den IS zu stoppen?
Perthes: Luftangriffe sind sicherlich ein Mittel, um eine Ausbreitung des IS da zu verhindern, wo lokale Partner da sind, die in der Lage sind, auf dem Boden ein Einsickern oder Straßenkämpfe, wie wir sie jetzt an den Stadträndern von Kobane erleben, zu verhindern. Insgesamt reden wir hier aber über einen militärischen und politischen Kampf, der am Boden gewonnen werden muss, und ich betone "politischen Kampf". Es geht hier nicht darum, dass Amerikaner oder Australier oder auch Emiratis Luftangriffe fliegen. Wie gesagt, das kann als Notoperation helfen. Aber letztlich haben wir hier eine lange Auseinandersetzung, die von lokalen Kräften geführt werden muss. Dazu gehört so etwas wie glaubwürdiges Regieren in Bagdad wieder herzustellen, dazu gehören vor allem aber auch - wir reden ja jetzt über eine Situation in Syrien - Waffenstillstände zwischen der Regime-Armee von Baschar al-Assad und den diversen moderaten Oppositionsgruppen, die zurzeit in einen Zwei-Fronten-, zum Teil in einen Drei-Fronten-Krieg gedrängt worden sind. Nur Waffenstillstände in Syrien könnten hier wohl ein weiteres Expandieren dieses Islamistischen Staatsprojekts aufhalten.
Syrische Opposition: Bereitschaft zu Kompromissen gestiegen
Schulz: Aber wie oder wer soll so einen Waffenstillstand, der ja schon seit mehreren Jahren die Wunschoption des Westens wäre, wer sollte den vermitteln?
Perthes: Seien wir ehrlich: Der Waffenstillstand ist nicht die Wunschoption all der externen Kräfte gewesen, auch westlicher Staaten, die hier eine Position eingenommen haben im syrischen Bürgerkrieg, sondern die Wunschoption war, dass das Regime von Baschar al-Assad fällt. Das ist offensichtlich nicht eingetreten. Wir haben jetzt einen neuen UN-Vermittler, der hilfreich sein könnte, zusammen mit lokalen Kräften, die es ja gibt, auch lokale Waffenstillstände zu verhandeln. Wahrscheinlich wird es nicht den einen großen Waffenstillstand geben zwischen Regime-Armee und sogenannter Freier Syrischer Armee, aber es könnte - das ist kompliziert, aber wahrscheinlich letztlich erfolgreicher - viele lokale Waffenstillstände geben, und da kann der UN-Vermittler, der ja auch ein Büro in Damaskus hat, durchaus etwas tun. Da wird man auch andere Kräfte involvieren müssen, insbesondere Iran und Saudi-Arabien, die von außen sich entscheiden können, ob sie weiter Öl ins Feuer gießen, oder ob sie daran beteiligt sein wollen, das Feuer zu löschen.
Schulz: Aber warum sollte jetzt klappen, was über Jahre schon nicht geklappt hat?
Perthes: Nun, das ist eine Frage, die man bei Bürgerkriegen richtigerweise häufig stellt, weil sie häufig dann am Ende beigelegt werden oder deeskaliert werden auf einer Grundlage, die für die Konfliktparteien nicht besser ist als die, die sie gehabt haben, als der Krieg begann. Aber es gibt eine Abnutzung, es gibt eine Zivilbevölkerung, die es nicht mehr ertragen kann, es gibt ein humanitäres Elend, was all das, was wir in Syrien in Jahren und Jahrzehnten gesehen haben, übersteigt, und die Bereitschaft zum Beispiel der moderaten Opposition, sich auf eine Form von Kompromiss einzulassen, die sie vor zwei Jahren noch abgelehnt hätte, die ist zweifellos gestiegen.
Widerstand aus der Gesellschaft?
Schulz: Aber diese lokalen Waffenstillstände, die Sie ansprechen, die setzen ja auch voraus, dass der IS die Waffen aus der Hand legt und die Enthauptungen einstellt und die Steinigungen. Ist das eine realistische Erwartung?
Perthes: Nein. Ich denke, es wird keinen Waffenstillstand mit dem IS geben, sondern es muss einen Waffenstillstand geben, sagen wir mal, zwischen all denen, die ein Interesse daran haben, dass Syrien als ein Nationalstaat im regionalen Staatensystem erhalten bleibt, und das heißt Regime und das heißt moderate Opposition. Wenn das geschieht, dann ist es auch leichter, politisch und militärisch gegen den sogenannten Islamischen Staat vorzugehen. Wenn es als Ergebnis von vielen Waffenstillständen eine Chance gibt für die Zivilgesellschaft, für gewählte lokale Vertretungen, die es ja in vielen der Gebiete Syriens mittlerweile gibt, sich tatsächlich zu entfalten, weil sie nicht ständig bombardiert werden aus den Helikoptern des Regimes, dann haben wir eine andere Grundlage und vielleicht auch - ich weiß, das hört sich ein bisschen nach der Suche nach Hoffnung an, aber damit muss man manchmal operieren -, vielleicht auch die Chance, dass sich in Gebieten wie Rakka oder dergleichen, die der Islamische Staat übernommen hat, aus der Gesellschaft heraus Widerstand gibt, weil man sieht, dass es eine Alternative gibt.
Schulz: Der Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Volker Perthes, hier bei uns in den "Informationen am Mittag" im Deutschlandfunk.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.