Von "Reaktionsschnelligkeit" des Militär-Bündnisses kann in dieser Angelegenheit keine Rede sein: Fünf Tage dauerte die Offensive der Türkei gegen die Kurden in Syrien bereits an, als sich schließlich doch NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg – auf Nachfrage – zum Vorgehen Ankaras äußerte: "Die Türkei hat, wie jedes andere Land auch, das Recht zur Selbstverteidigung. Es ist aber wichtig, dass dies verhältnismäßig und in maßvoller Weise geschieht."
Eine Aufforderung zur Zurückhaltung also von Seiten Stoltenbergs an die Adresse Ankaras. Dass der Generalsekretär die Offensive in scharfen Worten verurteilen würde, hatte niemand erwartet: Stoltenberg spricht schließlich für die ganze NATO. Und da die Türkei zur Allianz dazugehört, gerade jetzt einer der wichtigsten Bündnispartner überhaupt ist, würde sie wohl kaum einer Erklärung zustimmen, in der sie sich sozusagen selbst verurteilt.
Gewisses Verständnis für das Vorgehen von Erdogan
"Die Türkei ist jener Alliierter, der am meisten unter Terror-Attacken gelitten hat über viele Jahre."
Aus diesem Stoltenberg-Satz lässt sich sogar ein gewisses Verständnis für das Vorgehen von Präsident Erdogan heraushören. Klar ist, dass die Offensive des Bündnispartners gegen die Kurden spätestens jetzt zu einem Thema für die gesamte NATO wird: Außenminister Sigmar Gabriel verlangte gestern, man müsse auch innerhalb des Bündnisses über die Lage im Norden Syriens beraten.
Generalsekretär Stoltenberg erklärte bislang dazu lediglich, er habe mit dem deutschen Außenminister und mit Präsident Erdogan gesprochen. Bereits am Dienstag, bestätigen NATO-Offizielle, sei Nordsyrien auf einer Sitzung in Brüssel thematisiert worden. Die EU-Abgeordnete und Außenpolitikexpertin der Grünen, Rebecca Harms, mahnte im Interview mit dem ARD-Studio Brüssel schärfere Worte der internationalen Gemeinschaft an:
"Die Türkei als NATO-Mitgliedsstaat hat mit der Offensive in Afrin internationales Recht gebrochen. Ich erwarte, dass dies in der NATO und der ganzen internationalen Gemeinschaft heftig kritisiert wird. Die EU ist Teil dieser Gemeinschaft." Sie sei "extrem beunruhigt" hatte bereits kurz nach Beginn der Militäraktion die EU-Außenbeauftragte Mogherini bekundet.
Umgang mit der Türkei ein heikler Balanceakt
Sowohl für die Europäische Union als auch für die NATO ist der Umgang mit der Türkei seit geraumer Zeit ein heikler Balanceakt: Gerade Jens Stoltenberg hatte sich in der Vergangenheit stets hinter den Kulissen als Vermittler betätigt – eine Rolle, die er offenbar nicht durch zu scharfe Rhetorik gefährden will. Er hatte vermittelt, als die Türkei und die Deutschen aneinandergerieten.
Und auch, als die Türkei und die USA sich beharkten. Das ist auch jetzt wieder der Fall. Sind doch jene syrischen Kurden, gegen die Ankara nun vorgeht, genau jene Kämpfer – YPG genannt - auf die Washington vertraute, um den sogenannten ‚Islamischen Staat‘ in die Knie zu zwingen. Und auf die man von US-Seite, wie die unlängst zum Ärger Ankaras klarstellte, auch weiterhin zählt:
"Solange die türkische Operation auf die Region Afrin beschränkt bleibt, dürften sich die Auswirkungen auf die türkisch-amerikanischen Beziehungen in Grenzen halten. Anders sieht das aus, wenn sie ausgeweitet würde auf von den USA kontrollierten Regionen", erklärt der Ex-Diplomat und Türkei-Experte von "Carnegie Europe", Sinan Ülgen.
Dann stünden sich auf einmal zwei NATO-Alliierte in Syrien sozusagen Auge in Auge gegenüber. Doch selbst wenn sich das verhindern lässt, das Verhältnis Ankara-Washington gilt derzeit als zerrüttet. Was übrigens auch für die Beziehungen zwischen den beiden Präsidenten Erdogan und Trump gilt. Nicht nur wegen der Entscheidung des US-Präsidenten, Jerusalem als Israels Hauptstadt anzuerkennen. Innerhalb der NATO wird man alle Hände voll zu tun haben, die Auswirkungen der Offensive, die türkische Militärs ausgerechnet 'Operation Olivenzweig' getauft haben, auch für das Bündnis selbst in Grenzen zu halten.