Martin Schulz sagte im Deutschlandfunk, er habe in der Nacht lange mit Alexis Tsipras telefoniert. Tsipras sei ein Pragmatiker, "der ziemlich genau weiß, dass er auch Kompromisse eingehen muss" – und zwar nach innen wie nach außen.
Zum einen brauche seine linke Partei Syriza einen Partner für eine Regierungskoalition. Allerdings: "Ich sehe keinen einzigen Koalitionspartner, der bereit oder in der Lage wäre, die radikalen Forderungen von Syriza mitzutragen." Deswegen werde Tsipras davon abrücken müssen. Zum anderen müsse Syriza auch gegenüber den EU- und Euro-Partnern Kompromisse machen. In Wahrheit gebe es kein Erpressungspotenzial. Wenn Syriza seine Forderungen überziehe, werde auch kein Geld mehr nach Griechenland fließen. Schulz sagte, Tsipras werde keine Mehrheiten für einen Schuldenschnitt finden.
"Du wirst behandelt werden wie jeder andere auch"
Er will stattdessen darüber diskutieren, wie die griechischen Einnahmen verbessert werden könnten, zum Beispiel durch das Eintreiben von vorhandenem Geld. So hätten die reichsten Griechen während der Schuldenkrise Geld aus dem Land bringen können. Tsipras sei gut beraten, dort anzusetzen.
Der Parlamentspräsident schilderte im Deutschlandfunk, er habe Tsipras am Telefon gesagt: "Du wirst behandelt werden wie jeder andere Regierungschef, der eine Wahl gewonnen hat, auch." Jetzt werde Tsipras erst mal vortragen müssen, was er wolle; zwischen dem, was man im Wahlkampf sage, und dem danach gebe es ja Unterschiede.
Das Interview in voller Länge:
Silvia Engels: Syriza-Spitzenkandidat Tsipras hat im griechischen Wahlkampf angekündigt, den Sparkurs in seinem Land zu stoppen. Er verlangt von den internationalen Gläubigern einen Schuldenschnitt. Mancher in Europa fürchtet nun nach seinem Wahlsieg eine neue Euro-Krise-Die Gemeinschaftswährung verlor jedenfalls nach Bekannt werden erst einmal um 0,3 Prozent gegenüber dem Dollar an Wert. In Athen selbst wird erst mal gejubelt.
Am Telefon ist Martin Schulz (SPD). Er ist Präsident des Europäischen Parlaments. Guten Morgen, Herr Schulz.
"Tsipras muss zwei Kompromisse eingehen"
Martin Schulz: Guten Morgen, Frau Engels.
Engels: Sie kennen Alexis Tsipras aus persönlichen Treffen. Wie schätzen Sie ihn ein?
Schulz: Ich glaube, dass das ein begnadeter Redner ist, das haben wir ja auch gesehen, ein charismatischer Mann. Aber ich habe heute Nacht mit ihm lange telefoniert: Das ist auch ein Pragmatiker, der ziemlich genau weiß, dass er zwei Kompromisse eingehen muss. Einmal einen nach innen, denn er braucht einen Koalitionspartner, und er wird auch Kompromisse mit seinen europäischen Partnern eingehen müssen. Ich glaube, darüber ist er sich im Klaren.
Engels: Hat er Ihnen gegenüber denn schon angedeutet, wie ein solcher Kompromiss aussehen soll, das heißt, mit welchen Forderungen oder auch Eingeständnissen er konkret nach Brüssel kommt?
Schulz: Mir gegenüber hat er das nicht gemacht, sondern es war eher umgekehrt. Ich habe ihm heute Nacht - Sie können sich das vorstellen; die sind natürlich in euphorischer Stimmung - schon gesagt, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass die radikalen Forderungen, die bis dato erhoben worden sind, von ihm und von seiner Partei, A eine Mehrheit in Griechenland finden und B, dass die EU-Partner darauf eingehen können. Man wird aber in Ruhe mit ihm reden müssen.
Ich habe ihm heute Nacht gesagt, Du wirst behandelt werden wie jeder andere Regierungschef, der eine Wahl gewonnen hat auch. Man muss mit ihm reden. Besser übrigens mit ihm zu reden, als nur über ihn. Und dann wird er auch erst mal vortragen müssen, was er denn will, denn zwischen dem, was man in so einem Wahlkampf dann sagt, und dem, was am Ende praktisch durchsetzbar ist, liegt sicher eine lange Strecke von Verhandlungen.
Engels: Haben Sie denn irgendetwas von ihm gehört, was darauf hindeutet, dass er von seiner ja sehr radikalen Forderung, 60 Prozent Schuldenerlass für Griechenland, abrückt?
"Wir werden kaum eine Mehrheiten für einen Schuldenschnitt finden"
Schulz: Ich glaube, dass Alexis Tsipras sich darüber im Klaren ist, dass diese Forderung von ihm erhoben werden kann, aber dass es ganz viele gibt, die es ablehnen und nicht bereit sind, auf solche Forderungen einzugehen. Ich mache mal einen Umkehrschluss. Stellen wir uns mal vor, in einem anderen Land gewinnt eine Partei eine Wahl, die sagt, wir zahlen nicht mehr nach Griechenland, also die nicht sagt, wir zahlen nichts zurück, sondern die sagt, wir zahlen nichts mehr dahin. Dann würden wir alle auch sagen, na ja, das ist eine Forderung, die kann jetzt mal vorgetragen werden, aber die muss ja nicht sofort in die Tat umgesetzt werden. Genauso geht es mit seinen Forderungen und das haben wir auch intensiv erörtert.
Ich habe ihm gesagt, wir werden, glaube ich, keine Mehrheiten für einen Schuldenschnitt finden. Das kann ich mir nicht vorstellen. Welche Möglichkeiten es gibt, etwas anderes zu tun, nämlich die Einnahmeseite des Staates zu verbessern, indem es auch europäische Steuerregeln gibt, die gegen Steuerflucht sind, oder, was meiner Meinung nach mindestens genauso wichtig ist, das leichte Wirtschaftswachstum, das das Land hatte, zu verstärken durch verstärkte Investitionen im Land, das sind Dinge, über die wir viel mehr reden müssen.
"Wann sprechen wir endlich über die Eintreibung von Geld?"
Engels: Das heißt, diese Maßnahmen, die Sie angesprochen haben, wären ja welche, die vielleicht mittelfristig auch greifen könnten. Wäre aber kurzfristig, um die Schuldenlast von Griechenland zu dämpfen, nicht wenigstens auch eine Streckung der Rückzahlung denkbar über das Maß, wie es jetzt vereinbart ist, hinaus?
Schulz: Griechenland hat ja zum ersten Mal im vergangenen Jahr einen Haushaltsüberschuss gehabt seit langer Zeit, einen sogenannten Primärüberschuss. Das heißt, sie haben mehr eingenommen als sie ausgegeben haben, wenn man die Schulden des Landes rausrechnet. Das ist ein erster Fortschritt. Und es gab zum ersten Mal vor allen Dingen in der Tourismusbranche - die ist ja im Land eine Riesenbranche - ein deutliches Wachstum. Ich glaube, das muss man verstetigen. Dann muss man auch bei dem Investitionsprogramm von 315 Milliarden, das Jean-Claude Juncker vorgestellt hat, jetzt überlegen, wo kann man dort investieren, um kurzfristig Beschäftigung zu schaffen.
Ich bleibe aber dabei: Immer, wenn wir über Griechenland diskutieren, diskutieren wir über Kürzungen und über Schuldenschnitte. Wann diskutieren wir endlich über das Eintreiben von vorhandenem Geld, nämlich im Kampf gegen die Steuerflucht? Wir wissen doch alle, dass die reichsten Griechen in der größten Krise des Landes Geld aus dem Land bringen konnten, und ich nehme mal an, dass Tsipras gut beraten ist, dort anzusetzen.
Engels: Das ist auch etwas, wo er möglicherweise punkten möchte. Aber die Debatte kreist ja sehr stark um die Frage, ob er die bisherigen Vereinbarungen mitträgt. Auch die Finanzmärkte reagieren schon. Was denken Sie? Wird Athen am Ende doch aus dem Euro-Raum ausscheiden?
Schulz: Das glaube ich nicht und ich glaube, dass Alexis Tsipras, das sagte ich ja eben, ein Pragmatiker ist. Der hat radikale Forderungen aufgestellt, aber eine Sache ist ganz sicher: Er hat keine absolute Mehrheit. Er liegt knapp darunter, aber er braucht Koalitionspartner. Ich sehe keinen einzigen Koalitionspartner in Athen, der bereit oder in der Lage wäre, die radikalen Forderungen von Syriza mitzutragen. Deshalb sprach ich eben von einem doppelten Kompromiss. Er wird erst mal eine Regierung bilden müssen und dort werden die Regierungspartner natürlich auch von ihm verlangen, dass er auch verbal erst mal eindämmt und runterfährt. Was man in Brüssel und in anderen Hauptstädten sehr wohl diskutieren muss ist, ich wiederhole das noch mal: Was kann man eigentlich tun, um den Haushaltsüberschuss zu stabilisieren? Muss der Haushaltsüberschuss zum Beispiel sofort in den Schuldenabbau fließen, oder kann er genutzt werden, um im Land zu investieren, um die schlimmsten Auswirkungen im Sozialbereich ein wenig einzudämmen? Das sind Dinge, über die wir mit ihm diskutieren müssen und sicher auch diskutieren werden, und dort müssen die Kompromisse gesucht werden.
Engels: Wie bedrohlich ist aber die Zwischenzeit, in der man noch verhandelt, für die Stabilität des Euro-Raums?
Schulz: Das geht ja relativ schnell. Tsipras wird ja diese Woche schon Ministerpräsident werden. Nach der griechischen Verfassung ist das so, dass er heute und morgen bereits die Regierungsbildung betreiben muss, und dann kann es sein, dass er Mittwoch oder Donnerstag schon Premierminister ist. Das heißt, so eine lange Zeit wird es gar nicht geben. Wir werden jetzt schon sehr schnell damit konfrontiert werden, was Tsipras an Vorschlägen vorlegt, und er wird damit konfrontiert werden, was andere Länder dazu sagen. Denken Sie immer daran: Man braucht in der Euro-Zone am Ende alle 19 Mitglieder um den Tisch herum, die Ja sagen. Wenn ein griechischer Ministerpräsident sagt, ich will dieses oder jenes nicht, ist das zunächst mal eine Ansage aus Athen und noch kein Beschluss in Brüssel.
"Griechenland hängt massiv von Hilfszahlungen ab"
Engels: Auf der anderen Seite haben Syriza-Anhänger ja auch immer wieder auf ein gewisses Erpressungspotenzial verwiesen, über das Griechenland verfüge, nämlich wenn Griechenland aussteige, dann würden die Gläubiger überhaupt nichts bekommen.
Schulz: Ich glaube, dass es dieses Erpressungspotenzial in der Realität gar nicht gibt, weil die Griechen umgekehrt und auch die Regierung in Athen, die jetzt an die Macht kommen wird, weiß, wenn man das überzieht, dann fließt auch kein Geld mehr nach Griechenland. Und welche Regierung kann sich in einer solchen Situation schon leisten, ein Land ohne irgendeine Finanzierung dastehen zu lassen, denn noch hängt Griechenland massiv von Hilfszahlungen ab, und das weiß auch Alexis Tsipras. Ich glaube, es ist jetzt der Tag nach der Wahl und es ist jetzt auch der Tag der Vernunft. Tsipras hat im Wahlkampf ziemlich aufgedreht, okay, das haben andere auch, aber wir wissen alle: Koalitionsregierungen müssen Kompromisse nach innen schließen und anschließend nach außen. Deshalb: Das, was wir jetzt tun sollten, ist erst mal mit ihm reden, ihm sagen, was schlägst Du vor, und ihm dann antworten, was geht und was nicht geht. Mein Rat bleibt dabei, ihn zu behandeln wie jede andere Regierung auch. Das heißt, der hört man zu, aber man sagt ihr zugleich auch, was man machen kann und was man nicht machen kann. Das wird nicht lange dauern, das geht in den nächsten zehn Tagen, glaube ich, schon los.
"Wir brauche massiv Investitionen"
Engels: Weiten wir etwas den Blick. Es war ja auffällig, dass die radikalen Linksparteien in Europa den Wahlsieg von Alexis Tsipras ausgesprochen bejubelt haben. Steuert generell die Stimmung in eine andere Richtung in Europa, als die Politik in Europa in ihrem Sparbemühen versucht?
Schulz: Aber nicht erst mit dem Wahlsieg von gestern. Dass jetzt die Linksparteien in Europa jubeln, das ist ja ganz klar. Aber wir sind ja schon seit der Europawahl dabei, in vorsichtigen Schritten die Marschrichtung zu korrigieren, denn die These, man müsse nur haushalte kürzen und schon käme das Wachstum zurück, die hat sich ja nicht nur in Griechenland, sondern auch in anderen Ländern als nicht richtig erwiesen. Wir brauchen eine Kombination aus Haushaltskürzungen einerseits, denn dass wir die Schuldenberge abbauen müssen, das ist jedem klar, und Investitionen andererseits, weil wir wissen, ohne Wirtschaftswachstum wird es auch keine Haushaltssanierungen geben. Und genau das ist ja nach der Europawahl in Brüssel mit dem großen Investitionsprogramm, das Juncker vorgelegt hat, was auch im Europaparlament beschlossen worden ist, das ist exakt das, was wir auch in Deutschland ja jetzt angefangen haben zu diskutieren, dass wir massiv Investitionen brauchen. Übrigens auch unser eigenes Land Deutschland hat eine Investitionslücke von zig Milliarden Euro, die geschlossen werden muss, und deshalb ist das, was da in Griechenland passiert, nur ein Stein in einem Mosaik einer Richtungsänderung in Europa, die Haushaltskonsolidierung und wachstumsstimulierende Investitionen miteinander kombiniert.
Engels: Kommt da auch die Europäische Zentralbank mit ihrer Entscheidung von vergangener Woche, Staatsanleihen zu kaufen, Tsipras entgegen, weil er nun sicher sein kann, zumindest in gewissem Maß Staatsanleihen ausgeben zu können, die indirekt ihm neues Geld bringen?
Schulz: Ganz sicher ist diese Entscheidung der Europäischen Zentralbank vom vergangenen Donnerstag eine Stimulanz für Investitionen, und die kommen nicht nur den Griechen, sondern uns insgesamt in der Euro-Zone zur Verfügung. Der Euro-Kurs, der ja auch in der Anmoderation von Ihnen erwähnt wurde, ist ja für exportorientierte Länder wie die Bundesrepublik Deutschland ein Segen. Unsere Produkte werden in anderen Ländern deutlich billiger und leichter verkaufbar, und der billige Ölpreis kompensiert die Importpreiserhöhungen, die man auf der anderen Seite hat. Deshalb ist das zum jetzigen Zeitpunkt eine sehr, sehr gute Entscheidung gewesen.
"Wir haben eine nie dagewesene Preisstabilität"
Engels: Auf der anderen Seite warnen Kritiker vor Preisverzerrungen durch einen künstlich niedrigen Euro und die deutschen Sparer vorneweg, aber auch viele andere Sparer müssen davon ausgehen, dass ihre Erträge nicht mehr so viel wert sind.
Schulz: Aber das ist nicht erst seit gestern der Fall, dass wir ein Problem mit den Spareinlagen haben und dass Sparer keine Verzinsung bekommen. Darunter leiden wir alle. Dafür haben wir umgekehrt praktisch keine Inflation, sondern eine enorme Preisstabilität. Deshalb verstehe ich diese Kritik nicht. Wir haben ja eine Art der Preisstabilität, wie wir sie noch nie hatten, aber eine Zentralbank kann sich nicht nur auf Preisstabilität begrenzen. Sie muss auch die Konjunkturzyklen insgesamt im Auge haben und da, glaube ich, ist es so, dass das große Problem Europas ja nicht die Preise sind, sondern die Wachstumsschwäche in der Euro-Zone, und die genau zu beheben - und ich kehre zurück zu dem, was wir am Anfang diskutiert haben -, auch in einem Land wie Griechenland die leichten Wachstumssignale, die es in den letzten Jahren gegeben hat, zu verstärken durch Investitionen, das ist genau das, was wir tun müssen. Und ich glaube, dass wir mit Tsipras genau darüber reden müssen, dass es viel besser ist, über Wachstum und Beschäftigung zu reden, als ideologische Debatten über Schuldenschnitte zu führen, die es eh wahrscheinlich nicht geben wird.
Engels: Martin Schulz, der Präsident des Europäischen Parlaments. Er gehört der SPD an. Wir sprachen mit ihm über das Wahlergebnis in Athen. Vielen Dank für das Gespräch.
Schulz: Vielen Dank, Frau Engels.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.