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Tadeusz Kantor
Bildstarke Szenen und suggestive Musik

Surrealismus, Aktionskunst und Happening - davon ließ sich der polnische Künstler und Regisseur Tadeusz Kantor inspirieren. Seit den 50er-Jahren entwickelte er dann eine ganz eigene Theaterkunst. Die Aufführungen seiner Gruppe Cricot2 überwanden Grenzen zwischen bildender Kunst und Theater. Vor 100 Jahren wurde er geboren.

Von Eva Pfister |
    Polnischer Autor, Regisseur und Theaterdirektor Tadeusz Kantor
    Polnischer Autor, Regisseur und Theaterdirektor Tadeusz Kantor (imago/Leemage)
    "Die tote Klasse" heißt das Theaterstück, mit dem Tadeusz Kantor in ganz Europa berühmt wurde. In vier enge Schulbänke gezwängt, sitzen Erwachsene in schwarzen altmodischen Kleidern, unbeweglich, wie von einem Fluch getroffen. Später wandern sie in einem ewigen Kreislauf umher, Puppen unter dem Arm, als würden sie das Kind mit sich schleppen, das sie einst waren. Der groteske Totentanz wird dirigiert von einem hageren Mann im Vordergrund. Es ist Tadeusz Kantor selbst, der Theaterregisseur, Maler, Aktionskünstler, Bühnenbildner, Schriftsteller und Schauspieler.
    Geboren wurde Tadeusz Kantor am 6. April 1915 im südpolnischen Wielopole. Von 1934 bis 1939 studierte er an der Akademie der schönen Künste in Krakau; während des Zweiten Weltkriegs schlug er sich als Maler und Anstreicher durch. Unter den deutschen Besatzern verlagerte sich das polnische Kulturleben in den Untergrund. Kantor wirkte an einer Ausstellung mit und inszenierte Jean Cocteaus "Orpheus" mit einer Theatergruppe, die in Privatwohnungen auftrat. Nach dem Krieg arbeitete er als Regisseur und Bühnenbildner, feierte erste Erfolge als bildender Künstler und erhielt 1948 eine Professur an der Krakauer Kunstakademie. Diese wurde ihm ein Jahr später wieder entzogen, weil er sich gegen die staatlich vorgeschriebene Ästhetik des Sozialistischen Realismus wandte.
    Experimentelles Theater
    1955 gründete Tadeusz Kantor die experimentelle Theatertruppe Cricot2, mit der er fortan unabhängig von staatlichen Subventionen und Kontrollen seine Projekte entwickelte. Wie die Surrealisten arbeite er mit Überraschungsmomenten, erklärte der Meister bei einem Gastspiel in Frankreich.
    Unerwartete, bildstarke Szenen, die oft von Krieg und Gewalt handeln, Typen wie im Stummfilm und suggestive Musik, das wurden die Kennzeichen für Tadeusz Kantors Aufführungen. Wie sie entstanden, erzählte rückblickend die Schauspielerin Ludmila Ryba:
    "Der schöpferische Prozess der Arbeit an der Aufführung begann in dem, was Tadeusz 'die armselige Stube meiner Vorstellungskraft' nannte. Er begann in seiner sehr individuellen Art durch irgendwelche Überlegungen, irgendetwas, was auf seinem Müll blühte, irgendwelche neuen Ideen, neue schöpferische Impulse."
    Zu den Proben mit den Schauspielern brachte der Künstler seine Skizzen mit sowie Texte seiner Lieblingsautoren Witkiewicz, Gombrowicz oder Bruno Schulz, die aber nie das Gewicht eines Librettos hatten, sondern nur ein Element neben den Gesten und der Musik darstellten.
    Inspiration Bildende Kunst
    1959 nahm Tadeusz Kantor erstmals an der documenta in Kassel teil. Dass er sich in jener Zeit von der bildenden Kunst inspirieren ließ, verraten die Namen, die er seiner Theaterarbeit gab, etwa "Informel-Theater" oder "Zero-Theater". 1965 organisierte Kantor - erstmalig in Polen - ein Happening: In einem Kaffeehaus zeigte er alltägliche Handlungen wie Sitzen, Essen oder Rasieren - ritualhaft ausgestellt. Viel später machte er sich über alle Richtungen und Theorien in der Kunst lustig.
    "Meine Damen und Herren: Die Abstraktion ist das einzige Abführmittel für diese unreine Natur der Materie."
    Ein Ausschnitt aus Kantors letztem Theaterstück "Heute ist mein Geburtstag". Bei der Premiere stand ein leerer Stuhl auf der Bühne, denn kurz davor, am 8. Dezember 1990, war Tadeusz Kantor gestorben. Das bedeutete bald auch das Ende seines Theaters, denn es lebte von und mit Kantors Präsenz. Er dirigierte die Abläufe, korrigierte die Bewegungen der Schauspieler und machte so deutlich, dass sich die theatralischen Totentänze in seinem Kopf abspielten.
    Tadeusz Kantor wird heute als Vertreter eines spartenübergreifenden Kunstbegriffs und Vorläufer des Performativen gewürdigt. In Krakau ist ihm ein Museum und Dokumentationszentrum gewidmet: Cricoteka.