Die 34 Jahre alte Bulgarin Desi hat ein Jahr in der Logistikbranche gearbeitet - als Kurierfahrerin für rund 1000 Euro im Monat. Ihr Arbeitspensum, das der Subunternehmer ihr aufdrückte, wurde immer größer.
"Die letzten beiden Monate habe ich täglich mehr als 150 Pakete bekommen, und das konnte ich gar nicht an einem Tag schaffen. Man musste sehr schnell sein, damit man nicht sogar 16 Stunden am Tag arbeiten musste."
Egal wie lange Desi arbeitete, der Lohn blieb der gleiche. Überstunden wurden nicht bezahlt. Dabei boomt die Logistikbranche: 2017 wurden in Deutschland 3,3 Milliarden Pakete ausgeliefert - von Kurierfahrerinnen wie Desi:
"Wenn wir zehn Prozent oder mehr von den Paketen wieder zurückgebracht haben, dann gab es Druck. Wir wurden angeschrien und uns wurde gedroht, dass sie den Lohn einbehalten."
"Es gibt genug andere, die deinen Job übernehmen"
Am schlimmsten sei es vor Weihnachten gewesen, sagt der Kurierfahrer Mitko.
"Um die Weihnachtszeit mussten wir 200 Pakete täglich ausliefern, 15-16 Stunden am Tag arbeiten."
Mitko hat mittlerweile bei drei Subunternehmern gearbeitet, die wiederum im Auftrag von Hermes und von DPD unterwegs waren. Einige Male hat er sich über die unbezahlten Überstunden beschwert.
"Der Subunternehmer hat klar gesagt: wenn es dir nicht gefällt, kannst du gehen. Es gibt genug andere, die deinen Job übernehmen."
Prälat Peter Kossen ist einer der schärfsten Kritiker der Arbeitsverhältnisse von mobil Beschäftigten. Er nimmt aber nicht nur die oft dubiosen Praktiken der Subunternehmer in den Blick. Auch die großen Unternehmen wie Hermes oder DPD stünden in der Verantwortung. Denn ihre Gewinne würden auf der Struktur mit Subunternehmen und mobilen Beschäftigten basieren.
"Das gehört zum System. Das ist doch nicht so, dass man das nicht weiß vorher. Man tut dann sehr überrascht. Wenn man wirklich was verändern will, muss man das System verändern. Zum Schluss zahlt immer einer die Rechnung, und in Deutschland ist das der Leiharbeiter oder die Arbeitskraft, die prekär beschäftigt wird, die nicht genug Geld verdient, aber das ganze Risiko trägt."
Die Logistikunternehmen weisen jede Verantwortung für die Arbeitsbedingungen bei den Subunternehmen von sich. Dumpinglöhne und rechtswidrige Kündigungen würden nicht ihren Maßstäben entsprechen. So hat Hermes, das mit rund 400 Subunternehmen zusammenarbeitet, neulich erklärt, man wolle überprüfen, ob seine Kooperationspartner gegen die Einhaltung des Mindestlohns verstoßen haben. Die Zusammenarbeit mit Unternehmen, die "auffällig" geworden seien, werde umgehend eingestellt, erklärte ein Sprecher von Hermes.
Der Mindestlohn wird unterlaufen
Auf dem Papier bekamen Kurierfahrer wie Mitko und Desi auch einen Mindestlohn von 8,80 Euro, doch durch die unbezahlte Mehrarbeit sank der Stundenlohn de facto auf fünf bis sechs Euro.
"Es gibt immer noch große Möglichkeiten, selbst den Mindestlohn zu unterlaufen."
Sagt Andreas Mayert. Er ist Arbeitsmarktexperte beim Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland.
"Beim Mindestlohn: Es wird auf dem Stundenzettel zu wenig aufgeschrieben, es gibt Lohnabzüge für die Arbeitskleidung und die Arbeitsgeräte, die Fahrt zum Beschäftigungsort wird vom Lohn abgezogen, die Miete für die Unterkunft. Und es bleibt am Ende viel weniger über als der Mindestlohn."
Und auch Eliza Yankova kennt die Tricks vieler Subunternehmer. Sie berät bei der Bildungsvereinigung Arbeit und Leben in Lüneburg mobile Beschäftigte aus Bulgarien und Rumänien.
"Überstunden werden nicht bezahlt, Zuschläge gibt es nicht, Urlaub wird nicht bezahlt; im Krankheitsfall, wenn es eine längere Krankheitsperiode ist, dann wird man sofort gekündigt."
Andreas Mayert von der EKD begrüßt zwar, dass der Gesetzgeber in den vergangenen Jahren einige Verbesserungen für die Arbeiter auf den Weg gebracht hat. Allerdings:
"Woran es fehlt, sind wirksame Kontrollen: Es gibt zwar Kontrollen, die sollen aber vor allem Betrug bei Sozialabgaben aufdecken, die sind nicht dafür da, den Arbeitnehmern zu ihrem Lohn zu verhelfen und es werden wenig Kontrollen durchgeführt. Sinnvoll wären auch schärfere Strafen, weil die Strafen sind so niedrig, dass sich das für die Firmen lohnt, das jahrelang durchzuziehen. Sie werden dann irgendwann erwischt, zahlen die Strafe, haben aber immer noch einen Riesengewinn gemacht. Die entziehen sich durch einen Konkurs - und damit läuft das Ganze ins Leere."
"Das Problem bleibt"
Prälat Peter Kossen aus Lengerich, einer Kleinstadt zwischen Münster und Osnabrück, gehört zu den wenigen Kirchenleuten, die die Arbeitsverhältnisse der prekär Beschäftigten anprangern. Er vermisst eine deutlichere Position der Kirchen:
"Wir lassen uns ja kaufen, wir sind ja käuflich, wenn wir das tolerieren, wenn vielleicht einzelne Unternehmen große Kirchensteuerzahler sind, was faktisch stimmt. Aber wenn das das Argument ist, dann prostituieren wir uns. Da ist viel Angst, nehme ich in meiner Kirche wahr, dass man nicht wirklich gewillt ist, diese Auseinandersetzung auf sich zu nehmen."
Die Arbeitsverhältnisse über Subunternehmer, bei Scheinselbständigen und Leiharbeitern kennt man seit Jahren vor allem aus der Fleischbranche - und will sie doch nicht so recht zur Kenntnis nehmen, meint der Sozialwissenschaftler Andreas Mayert:
"Gerade die Fleischwirtschaft, das ist was, wo keiner gerne reinguckt. Nicht nur wegen der Arbeitsbedingungen, sondern auch weil keiner gern wissen will, wie unser Fleisch produziert wird: Das ist relativ grausam. Da schauen die Leute ohnehin gern weg, und die Leute wollen auch nicht wissen, warum das Fleisch so billig ist."
Doch die prekären Arbeitsverhältnisse haben sich längst ausgeweitet, sagt Katarzyna Zentner von der hannoverschen Beratungsstelle für mobile Beschäftigte. Neben der Logistikbranche seien auch immer mehr Reinigungskräfte und Bauarbeiter betroffen.
"Manchmal haben wir den Eindruck, dass wir am Fließband arbeiten. Das Problem bleibt. Und es gibt nicht weniger Fälle - im Gegenteil."
Rassistische Diskriminierungen
Vielen Menschen sei auch bewusst, dass der Kurierfahrer, der Bauarbeiter, die Putzfrau und die häusliche Pflegekraft aus Polen, Bulgarien oder Moldawien am Tag weniger verdienen als mancher ihrer Kunden in einer Stunde. Die Ausnutzung der osteuropäischen Arbeitskräfte ist für Peter Kossen eine Form von Rassismus:
"Wenn man 'seinen Rumänen' hat, früher hätte man gesagt: man hat 'seinen Neger'. Und ich fürchte, dass man heute das gleiche damit meint, wenn man sagt: Ich habe meine Polin oder meinen Rumänen, und das macht mich zornig, weil das so eine unreflektierte Diskriminierung ist. Das Problembewusstsein lässt deutlich nach an der Stelle."
Dabei könnte man die Diskriminierung leicht beenden, meint Katarzyna Zentner. Die Lösung des Problems sei eigentlich so einfach:
"Dass für gleiche Arbeit gleiche Rechte gelten. Warum sollen ausländische Europäer schlechter bezahlt werden als deutsche Arbeitnehmer?"
Und Prälat Kossen beruft sich bei seinem Engagement auf Papst Franziskus.
"Das Maß der Dinge ist der Mensch und nicht das Kapital. Das Kapital dient dem Menschen und nicht umgekehrt."
Diese Botschaft verkündet Peter Kossen nicht nur im Gotteshaus - morgen wird der Prälat auch auf der 1. Mai-Kundgebung der Gewerkschaften in Vechta sprechen.