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Tagebuch eines Soldaten

Im Klappentext des dickleibigen Bandes, der das Leben des Wilm Hosenfeld dokumentiert, heißt es:

Von Brigitte van Kann |
    Wenige deutsche Soldaten haben im Zweiten Weltkrieg sich selbst gefährdet, um unschuldige Menschen zu retten. Durch falsche Papiere, Protektion und Lebensmittelschmuggel ermöglicht Wilm Hosenfeld über viele Jahre zahlreichen verfolgten Polen und Juden das Überleben. Dabei ist er nicht von vornherein Antinazi oder Pazifist. Als Parteimitglied glaubt er 1939 daran, in einen gerechten Krieg zu ziehen.

    Doch die erschütternden Erlebnisse in Polen, wo er ein Kriegsgefangenenlager kommandiert, Zeuge von Misshandlungen und Unterdrückung wird, rühren den gläubigen Katholiken tief. Tagebücher und Briefe an seine Familie geben Zeugnis von einer inneren Zerrissenheit dieses deutschen Offiziers, der immer wieder Menschlichkeit und Gerechtigkeit über Eid und Befehle stellt.


    Erst vor zwei Jahren, 50 Jahre nach seinem Tod in einem sowjetischen Kriegsgefangenenlager, erfuhr die Welt durch Roman Polanskis Film "Der Pianist" von der Existenz dieses Hauptmanns der Wehrmacht, der unter anderem den polnischen Pianisten Wladislaw Szpilman im besetzten Warschau rettete. Schon 1998, als Szpilmans Erinnerungen unter dem Titel Das wunderbare Überleben in deutscher Übersetzung erschienen, hatte Wolf Biermann im Nachwort des Buches diesen Retter in Uniform gewürdigt und Auszüge aus dessen Tagebüchern veröffentlicht. Der Liedermacher war es auch, der den damaligen Verteidigungsminister Rühe auf den selbst Militärhistorikern und Erforschern des Widerstands unbekannten Hosenfeld hinwies. Ein Recherche-Auftrag erging an das Militärgeschichtliche Forschungsamt in Potsdam, dessen Mitarbeiter bald einen wahren Schatz entdeckten: Wilm Hosenfelds umfangreiche Tage- und Notizbücher, Briefe an seine Frau und seine fünf Kinder, fast komplett erhalten und im Besitz der Familie. Das Forschungsamt entschloss sich zur Aufbereitung und Veröffentlichung dieser bemerkenswerten Zeugnisse.

    Heute, sechs Jahre später, liegt das Buch vor. Es ist erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt in München und trägt den Titel: "Wilm Hosenfeld: Ich versuche jeden zu retten. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern."


    Thomas Vogel, der Hosenfelds Briefe und Aufzeichnungen im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamt herausgegeben hat, stellt dem Werk einen biographischem Abriss voraus: eine Nachhilfe in Sachen Zeitgeschichte, aber auch eine Annäherung an eine, wie Vogel schreibt, ebenso "religiöse wie romantische Seele", der Versuch einer Klärung, wie der Mensch Wilm Hosenfeld zu dem werden konnte, der er war.

    Geboren 1895 in Hessen, hatte er sich mit fünfzehn Jahren für den Lehrerberuf entschieden, 1914 beendete der Erste Weltkrieg seine Ausbildung vorzeitig – nach mehrmaliger Verwundung wird Hosenfeld 1917 aus dem Armeedienst entlassen. Schon vor dem Krieg ist er Mitglied des "Wandervogels" gewesen, einer, wie man heute sagen würde, alternativen Jugendbewegung, in der sich schwärmerische Naturbegeisterung und Zivilisationskritik mischten. Nach dem Krieg zerfällt die Bewegung in ein ganzes Spektrum politisch polarisierter Gruppen, Wilm Hosenfeld entscheidet sich für die "völkisch" orientierten "Jungdeutschen", die keinen Hehl aus ihrer rassistischen und antisemitischen Haltung machen. Hat er diese Seite seiner "Wandervögel" nicht ernst genommen oder stillschweigend geduldet? Seine Aufzeichnungen verraten darüber nichts.

    1920 heiratet der junge Lehrer. Seiner Frau und seinen Kindern bleibt er bis zuletzt in inniger Liebe verbunden. 1927 tritt er eine Stelle als Leiter der Dorfschule in Thalau an, 15 Kilometer von Fulda entfernt. Von reformpädagogischem Eifer beseelt, unterrichtet er nicht nur seine Schüler nach dem Prinzip der Arbeitsschule, sondern bemüht sich um die Bildung und Kultivierung des ganzen Orts. Lehrer Hosenfeld versteht sich als Kulturträger, als Menschenerzieher durchaus auch im Sinne seines nationalen Bekenntnisses. Er ist es, der in Thalau nationalsozialistische Kundgebungen und Feierlichkeiten organisiert. Auf sein Redemanuskript zum "Tag des deutschen Volkstums" am 19. September 1937 notierte er:

    Solche öffentlichen, nationalen Kundgebungen müssen öfters stattfinden. Sie können mit wenig Mitteln aufgezogen werden, sie erreichen doch den Zweck, dass die Menschen des Dorfes aus ihrer Dumpfheit aufgerüttelt werden.

    1933 ist Wilm Hosenfeld in die SA eingetreten, 1935 Mitglied der NSDAP geworden. Entscheidungen, die auch das biographische Vorwort des Herausgebers letztlich nicht klären kann: Rassistische oder antisemitische Äußerungen Hosenfelds sind nicht überliefert, eine Auseinandersetzung mit diesem zentralen Teil der nationalsozialistischen Ideologie ebenfalls nicht. Er scheint solches Gedankengut nicht geteilt, aber eben auch nicht mit seinem Gewissen diskutiert zu haben. Wie konnte es sein, dass ein integrer, intelligenter Mensch solche Ausblendungen vornahm und es selbst nicht einmal merkte? Ein Menschenfreund, ein frommer, jedem Leben mit Ehrfurcht begegnender Katholik als Mitglied einer Partei mit einer menschenverachtenden Ideologie – der Wunsch, dieser rätselhaften partiellen Blindheit auf die Spur zu kommen, begleitet den Leser über lange Strecken der Lektüre. Erst nach der sogenannten Kristallnacht 1938, als in Deutschland die Synagogen brannten, äußerte Wilm Hosenfeld erstmals Abscheu:

    … fürchterliche Zustände im Reich, ohne Recht und Ordnung, dabei nach außen Heuchelei und Lüge.

    Der Kriegsbeginn ein Jahr später weckt keine Begeisterung, aber Hosenfeld fügt sich in das, was er für seine patriotische Pflicht hält.

    … Jeder hat ein Deutscher zu sein, der für sein Volk zu stehen hat.

    Wegen seines Alters – 1939 ist Wilm Hosenfeld 44 Jahre alt – kommt er nicht zur kämpfenden Truppe, sondern zu einer Wachkompanie in Polen. Er wird erschütterter Zeuge der Willkür und Grausamkeit gegen polnische Kriegsgefangene und Zivilisten, von 1940 bis 45 erlebt er in Warschau die Verbrechen an Juden und Polen. Nach der Räumung des Warschauer Gettos vertraut er seinem Tagebuch an:

    Mit diesem entsetzlichen Judenmassenmord haben wir den Krieg verloren. Eine untilgbare Schande, einen unauslöschlichen Fluch haben wir auf uns gebracht. Wir verdienen keine Gnade, wir sind alle mitschuldig. Ich schäme mich, in die Stadt zu gehen, jeder Pole hat das Recht, vor unsereinem auszuspucken. Täglich werden deutsche Soldaten erschossen, es wird noch schlimmer kommen, und wir haben kein Recht, uns darüber zu beschweren. Wir haben’s nicht anders verdient.

    Ist es Leichtsinn, Naivität oder Gottvertrauen, dass Hauptmann Hosenfeld sich so offen und ungeschützt in seinen Tagebüchern und in den Briefen an die Familie äußert? Fürchtet er nicht die Militärzensur und den Vorwurf der Wehrkraftzersetzung? Dass ihm sein Freimut nie zum Verhängnis wurde, grenzt an ein Wunder. Der Mann, dessen Oberlippe 1939 ein Hitlerbärtchen zierte, der 1940 Hitler noch einen "fabelhaften Menschen" genannt hatte, wendet sich vom Nationalsozialismus ab. Schon 1942 hatte er in sein Tagebuch geschrieben:

    Die Lüge ist mit das größte Übel. Was sind wir belogen worden, und wie steht die ganze öffentliche Meinung hinter der Lüge. Kein Zeitungsblatt ist ohne Verlogenheit, mag es von militärpolitischen, wirtschaftlichen, historischen, sozialen, kulturellen Dingen reden, überall ist der Wahrheit Zwang angetan, die Wirklichkeit entstellt, verdreht und ins Gegenteil verkehrt.

    Noch bevor er so ausdrücklich Stellung bezog, hatte Wilm Hosenfeld sich nicht wie ein "Herrenmensch" und Besatzer verhalten: Er begegnete der fremden Kultur mit Neugier und Achtung, trotz des Fraternisierungsverbots pflegte er Freundschaften mit polnischen Familien. Von der Gestapo Verfolgte versorgte er mit falschen Papieren und stellte sie ein. Einer von ihnen wird später bestätigen, dass er sich um seine polnischen Zivilangestellten kümmerte "wie ein Vater". Als er Ende 1944 im zerstörten Warschau auf den jüdischen Pianisten Władysław Szpilman trifft, der in Verstecken überlebt hat, besorgt er ihm einen sicheren Ort, Kleidung und Lebensmittel.

    Anfang 1945 gerät Wilm Hosenfeld in russische Kriegsgefangenschaft. Alle Versuche seiner Familie und der Menschen, denen er in Warschau das Leben gerettet hat, seine Freilassung zu erreichen, schlagen fehl. Weil er an Verhören gefangener Aufständischer teilgenommen hat, verurteilt ihn ein sowjetisches Militärtribunal 1950 zu 25 Jahren Haft. Dabei hatte er während des Warschauer Aufstands an seine Familie geschrieben:

    Ich versuche jeden zu retten, der zu retten ist. Ich bin nicht der Mensch dazu, solche Untersuchungen zu führen, wenigstens nicht mit der Herzlosigkeit, die hier am Platze wäre und meist angewendet wird. Und doch bin ich dankbar, dass ich das machen muss, denn ich kann doch manches noch gutmachen.

    Nach langem Leiden ist Wilm Hosenfeld 1952 in sowjetischer Gefangenschaft gestorben. Solange das sowjetische Urteil nicht aufgehoben wird, verweigert ihm die israelische Gedenkstätte "Yad Vashem" einen Baum in ihrer "Allee der Gerechten".

    Hosenfelds Bekenntnis "Ich versuche jeden zu retten" ist zum Titel dieser Sammlung seiner Briefe und Tagebuchnotizen geworden. Ihre Edition ist mustergültig und genügt wissenschaftlichen Kriterien ebenso wie den Lesebedürfnissen des interessierten Laien. Der Herausgeber legt die Kriterien seiner Auswahl offen und begründet sie. Auch wenn es in erster Linie um die Jahre geht, die Wilm Hosenfeld als Wehrmachtsoffizier in Warschau verbrachte, entsteht doch ein plastisches Bild dieses "bemerkenswerten deutschen Lebens". Um so mehr, als sich durch Auswahl und Montage eine Art narrativer Bogen ergibt, der das umfangreiche Konvolut zusammenhält.

    Hosenfelds Selbstzeugnisse werden erneute Fragen nach dem Handlungsspielraum von Angehörigen der Wehrmacht aufwerfen. Sie sind gewichtiges Material für die Diskussion über das paradoxe Phänomen des "anständigen Nationalsozialisten".

    Brigitte van Kann über Wilm Hosenfeld, "Ich versuche jeden zu retten. Das Leben eines deutschen Offiziers in Briefen und Tagebüchern". Das umfangreiche Werk wird von Thomas Vogel im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamts herausgegeben. Es ist erschienen bei der Deutschen Verlags-Anstalt in München, 1.200 Seiten, 32 €.