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Tagung "Erzählte Welt" in Loccum
"Wer erzählt, präsentiert seine Sicht auf die Welt"

Erzählen ist ein menschliches Bedürfnis. Was mit Brabbeln beginnt, entwickelt sich im Laufe des Lebens zum Argumentieren und Widersprechen. Für ein bewussteres Erzählen plädierte im Dlf die Literaturwissenschaftlerin Katharina Rennhak: "Man muss wissen, was man tut, wenn man Geschichten erzählt."

Katharina Rennhak im Gespräch mit Maja Ellmenreich |
    Eine Mutter erzählt im Freien ihren Kindern eine Geschichte.
    Auch Kinder mögen es, wenn ihnen erzählt wird (imago stock&people)
    Maja Ellmenreich: Es war einmal ein wärmendes Feuer. Um das saßen Groß und Klein eng beieinander: Die Köpfe zusammengesteckt, die Ohren gespitzt, lauschte man gemeinsam einer Stimme. Und die erzählte von wilden Abenteuern oder von fremden Ländern, von nahenden Feinden oder von unheilvollen Naturereignissen. Wie gesagt: Es war einmal … Doch damals wie heute gilt: Wer erzählt, der trifft stets eine Auswahl - das eine wird erzählt, das andere fällt unter den Tisch. Man muss sich entscheiden beim Erzählen, damals wie heute.
    Die evangelische Akademie im niedersächsischen Loccum hat sich entschieden, ab heute eine Tagung abzuhalten unter der Überschrift "Erzählte Welt". Da geht es um "Sinnstiftung in Zeiten kultureller und politischer Umbrüche". Teilnehmerin und Diskutantin, weil Expertin auf dem Gebiet des Erzählens, ist Katharina Rennhak. Professorin für Englische Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität in Wuppertal ist sie und leitet dort das "Zentrum für Erzählforschung". Ich habe sie gefragt, ob man das große Wort "Sinnstiftung" aus dem Titel der Loccumer Tagung auch übersetzen könnte mit: "Wer erzählt, erschafft sich überhaupt erst eine Welt".
    Katharina Rennhak: Ja, das würde ich sofort unterschreiben. Erzählen hat unter anderem die wichtige Funktion, die Wirklichkeit für uns überhaupt zugänglich zu machen, die Komplexität, mit der wir uns konfrontiert sehen, zu bewältigen, Ordnung zu stiften und auch Sinn zu stiften.
    Ellmenreich: Nun ist ja der Begriff des Erzählens durchaus positiv besetzt, habe ich so das Gefühl. Aber es heißt ja nicht unbedingt, wer erzählt hat recht, oder?
    Rennhak: Nein, überhaupt nicht. Wer erzählt, präsentiert zunächst einmal seine Sicht auf die Welt, und zwar, indem er eine Ereignisfolge präsentiert. In der Erzählforschung definieren wir das Erzählen als eine kommunikative Handlung, bei der es darum geht, eine Ereignisfolge zu präsentieren. Es ist immer eine soziale Interaktion und natürlich versucht der Erzähler, seine Zuhörerschaft zu überzeugen. Aber er muss nicht recht haben.
    Aushandlung von Deutungsmacht und Deutungshoheit
    Ellmenreich: Er muss nicht unbedingt recht haben, aber er betont vielleicht auch immer wieder das gleiche. Wenn man sich zum Beispiel Ungarns Ministerpräsidenten Orbán anhört, der immer wieder von großen Flüchtlingsströmen erzählt, die ins Land einfallen, dann wird ja irgendwann aus der Erzählung und seiner Variante doch so etwas wie eine, na ja, "Wahrheit".
    Rennhak: Das ist richtig und das ist ja auch der Grund dafür, warum der Begriff des Erzählens oder eine Pluralität von Begriffen, Erzählen, Narration, Narrativ, derzeit so Konjunktur haben, weil es um eine Aushandlung der Deutungsmacht und Deutungshoheit im öffentlichen Raum geht.
    Sie sprechen jetzt Herrn Orbán an. Damit ist, denke ich, auch verwiesen auf das allgemeine Phänomen, das derzeit oft unter dem Stichwort "Clash of Narratives" verhandelt wird, wo man davon ausgeht, dass sich unterschiedliche Arten und Weisen, die Welt zu ordnen, konfrontativ begegnen und um die Vorherrschaft in der öffentlichen Meinung kämpfen. Das ist sicherlich eine, denke ich, von zwei zentralen Argumentationslinien, die die öffentliche Diskussion im Zusammenhang mit dem Erzählbegriff im Moment beherrschen.
    Ellmenreich: Da fallen mir gleich die Verschwörungstheorien ein, die ja auch Hochkonjunktur haben in unseren Zeiten, die so was sind wie fortgesponnene Geschichten, oder?
    Rennhak: Ja, richtig. Verschwörungstheorien nehmen ein, in der Regel faktenbasiertes Ereignis und verknüpfen es dann zu kausalen Handlungsketten, die plausibel erscheinen, weil die kausale Verknüpfung gut funktioniert, die aber letztlich sich immer weiter von der Realität entfernen.
    Erzählungen bilden Gemeinschaften
    Ellmenreich: Schauen wir mal zurück auf die Geschichte, denn das Erzählen hat ja häufig was mit der Vergangenheit zu tun. Und da kommen gleich die Begriffe Erinnern, womöglich auch Gedenken mit ins Spiel und die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano hat den Satz gesagt: "Es gibt keine andere Möglichkeit als zu sprechen, zu erzählen, aufzuzeigen, Zeugnis abzulegen, immer und immer wieder." Ist das Erzählen auch etwas wie eine gesellschaftliche Aufgabe, damit ein gemeinschaftliches Narrativ entsteht?
    Rennhak: Unbedingt! Über Erzählungen verständigt sich eine Gemeinschaft über Handlungsmuster, würde ich sagen. Es werden über die immer wieder ähnliche Verkettung temporale und kausale Verknüpfungen von Ereignissen zu Ereignisfolgen Handlungsmöglichkeiten dargestellt, Handlungsschemata etabliert. Die in unserer Kultur wichtigste ist das Handlungsschema der Komödie oder der Tragödie oder auch einer Romanze. Dadurch, dass man das, was man selbst erlebt oder was man sich für eine andere Figur ausdenkt, in diese kulturell etablierten Handlungsschemata einbaut, verleiht man ihnen Sinn.
    Das Problem ist, dass die traditionellen Handlungsschemata, die unsere westliche Kultur seit dem 18. Jahrhundert geprägt haben - und da würde ich als die dominanten Erzählmuster oder Plotstrukturen die des Bildungsromans nennen und zum anderen auch die Liebeserzählung. Die sind einerseits weiter präsent und strukturieren unser Denken und unser Handeln. Aber die Werte, die wir jeweils damit verbinden, verschieben sich und werden von der Gesellschaft zum Teil zunehmend als problematisch wahrgenommen.
    Ellmenreich: Bei der Tagung in Loccum sitzen Sie, Frau Rennhak, am Freitag auf einem Podium, bei dem es um das Erzählen in Zeiten biografischer Umbrüche geht, also in Zeiten zum Beispiel von Flucht und Migration. Besitzt das Erzählen von dem, was einem widerfahren ist, zum Beispiel eine monatelange Flucht und auch das Bangen um das eigene Leben, besitzt das anschließende Reden darüber auch so was wie eine therapeutische Funktion?
    Rennhak: Ja! Da gibt es zumindest sehr überzeugende Theorien. Im Englischen wurde da zum Beispiel der Begriff der Scriptotherapy geprägt, der besagt, dass Menschen, die eine traumatische Erfahrung erlebt haben, dadurch, dass sie sie in eine kohärente Erzählung bringen - und das bedeutet meistens, man schreibt sie auf, man bearbeitet auch den Text, den man aufschreibt -, ihre Erlebnisse zum einen überhaupt erst mal wieder ins Bewusstsein holen können und zum zweiten in eine Struktur bringen, mit der es dann möglich ist umzugehen. Das wäre der Versuch, ein Trauma über das Erzählen zu bewältigen.
    Erzählen als kommunikativer Akt
    Ellmenreich: Erzählen - darüber sprechen wir gerade. Das ist natürlich nur dann sinnvoll, wenn dem Erzähler auch zugehört wird. Der Empfänger beim Erzählen, ist der so wichtig wie der Sender?
    Rennhak: Wenn wir sagen, Erzählen ist ein kommunikativer Akt, dann ist das so, und ich denke, für die gesellschaftlichen Fragen, die uns zurzeit umtreiben, ist das auch das zentrale Argument. In der Regel braucht man jemanden, der die Geschichte sich anhört, wahrnimmt und teilt, bestätigt, vielleicht auch nur in Teilen bestätigt, und entsprechend auch mit Empathie oder Ablehnung darauf reagiert.
    Ellmenreich: Frau Rennhak, jetzt haben wir in unserem Gespräch mehrfach die aktuelle Lage außerhalb unseres Gespräches gestreift. Wir haben über Orbán gesprochen, womöglich über die neuen Rechten, über die Populisten. Was würden Sie sagen im Jahr 2018? Sollten wir mehr und forcierter erzählen oder gibt es auch womöglich Anlass, ein bisschen auf die Bremse zu treten und zu sagen, na ja, zu viel fabulieren und zu viel erzählen kann auch einer Gesellschaft schaden?
    Rennhak: Ich denke, wir müssen bewusster erzählen. Wir können uns die Wirklichkeit nicht aneignen, ohne zu erzählen. Davon bin ich überzeugt. Aber man muss wissen, was man tut, wenn man Geschichten erzählt, und man muss als Zuhörer und Empfänger von Erzählungen ein Verständnis dafür entwickeln, mit welchen Strukturen und Handlungsschemata man hier konfrontiert wird.
    Ich denke, dass die Sehnsucht nach einer neuen Erzählung die Dinge zu stark zuspitzt. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine neue Erzählung überhaupt geben kann. Es sind ja doch in den großen Geschichten, die wir uns immer schon erzählen, dieselben Elemente und Grundkonstanten versammelt. Aber man muss sich überlegen, wie man die einzelnen Bausteine, Figuren, Ereignisse anordnet und auswählt, und da lässt sich doch feststellen, dass wir auf der einen Seite bei den Populisten immer wieder das haben, was man eine Feinderzählung nennt, also "Enemy Narrative", eine Erzählung, die auf so einer Vorstellung des "Clash of Cultures" beruht und die nahelegt, dass man Probleme lösen muss, auch schnell lösen muss, jetzt lösen muss, weil es eine Bedrohung gibt, und dass man sie dadurch lösen kann, dass man andere ausgrenzt, ausblendet oder überhaupt nicht mehr wahrnimmt, vielleicht sogar bekriegt.
    Ein anderes dieser populistischen Narrative ist die Katastrophenerzählung, die suggeriert, wir nähern uns unaufhörlich und unweigerlich einem Abgrund, und diesen Narrativen, die nun meines Erachtens nicht unbedingt dazu beitragen, eine friedlichere Gesellschaft für uns zu schaffen, denen, denke ich, muss man andere Erzählungen entgegensetzen. Und darum ringen derzeit viele, wie die aussehen könnten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.