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Tanztheater
"Available Light" in neuem Licht

Lucinda Childs ist mittlerweile 75 Jahre alt und eine Choreografie-Legende. Seit ein paar Jahren bringt sie ihre Choreographien neu auf die Bühne - die alten Stücke mit jungen Tänzern. In Hamburg wurde beim Internationalen Sommerfestival ihr Stück "Available Light" zum ersten Mal in Europa "wiederbelebt".

Von Elisabeth Nehring |
    Mitglieder der "Lucinda Childs Dance Company" tanzen in Hamburg auf der Fotoprobe von "Available Light". Die Europapremiere des Stücks in der Choreographie von Lucinda Childs eröffnete am 05.08.2015 das diesjährige Kampnagel Sommerfestival.
    Mitglieder der "Lucinda Childs Dance Company" tanzen in Hamburg "Available Light" (picture alliance / dpa / Markus Scholz)
    "Wenn so das zur Verfügung stehende Licht aussieht, dann soll doch besser Dunkelheit herrschen“, urteilte 1983 der Kritiker der "New York Times" über das Lichtkonzept, das Architekt Frank Gehry für die Uraufführung von "Available Light" entworfen hatte. In enger Zusammenarbeit mit Lucinda Childs, Choreografin des amerikanischen Postmodern Dance und seit den Siebzigern Ikone des tänzerischen Minimalismus, hatte Gehry in ein altes Industriegebäude eine imposante doppelstöckige Bühne gebaut – beleuchtet durch Tageslicht, das durch verblichene Oberlichter fiel und nur schwach ergänzt durch eine schmale zusätzliche Lichtleiste am Bühnenboden.
    Der ungewöhnliche Eindruck, den dieses Lichtkonzept und damit die Gesamtkomposition aus Choreographie, Raum und Musik damals gemacht haben muss, ist heute kaum noch nachzuvollziehen. Aus unserer gegenwärtigen Perspektive sehen wir in der Neufassung von "Available Light" - gehandelt als Aktualisierung eines modernen Klassikers - ein fast konventionelles Setting: Das Bühnenlicht wechselt über die Dauer einer knappen Stunde von gedämpft zu hell-strahlend, von tiefrot zu weiß. Gehrys Bühnenkonstruktion ist noch immer raffiniert, aber nichts, was einem heute noch den Atem raubend würde: Während der vordere Teil der Bühne frei bleibt, steht in der hinteren Hälfte eine erhöhte Ebene auf fünf käfigartigen Stahlstrukturen; sie ist zum Zuschauerraum hin leicht angeschrägt, als wolle sie die Koordination und den Gleichgewichtssinn der Tänzer besonders herausfordern.
    Lucinda Childs choreographischer Spürsinn dagegen, ihr Timing, ihr Vermögen, aus einfachen Bewegungsphrasen hochkomplexe Muster entstehen zu lassen, ist auch heute noch ganz und gar zu bewundern. Auf der oberen Ebene tanzen zwei, unten sechs Tänzer. Schlichte Kombinationen aus leichtfüßigen Schritten, federnden Sprüngen und sanften Drehungen - alles dem klassischen Ballettvokabular entlehnt - werden vom Einzelnen vielfach variiert. Wie Childs die Phrasen auf die verschiedenen Tänzer verteilt, zeugt von ausgeprägtem Gespür für die räumliche Wirkung von Choreographie. In verschiedenen Verteilungen durchlaufen die Tänzer dieselben Bewegungssequenzen, parallel, asymmetrisch verschoben oder spiegelbildlich zueinander; oft geht es in gänzlich verschiedene Richtungen. Fast immer stehen einige von ihnen still, setzen nur für kurze Momente wieder ein. Es herrscht ein ständiger Richtungswechsel, der sowohl in der Horizontalen auch als Vertikalen immer wieder neue Muster im Raum entstehen lässt.
    Die Tänzer tragen - genau wie in der Fassung von 1983 - die Farben Rot, Weiß und Schwarz. Nur ist der Stoff arg dezimiert worden. Von den witzigen ballonartigen, schmal taillierten Ganzkörperanzügen mit langen weiten Ärmeln und Hosenbeinen sind nur noch Hemdchen, kurze Hosen und etwas alberne Brustschärpen übrig geblieben. Sicherlich ist es keine modische, sondern eine konzeptionelle Entscheidung, den Körpern der Tänzer so viel Aufmerksamkeit zu verschaffen – die mit ihren langen, schlanken oder eher stämmig-kräftigen Figuren durchaus sehr unterschiedlich sind. Nur agieren sie trotz aller technischen Präzision derart verhalten, ja gehemmt, dass sie weder Charisma entwickeln noch ihre spezifische Individualität besonders entfalten würden.
    Bis auf wenige Momente, in denen sich einige von ihnen frei tanzen, exerzieren die Tänzer Lucinda Childs formal grandios durchkomponierte Choreographie am Abend der Europapremiere wie leere Gefäße - und zeigen damit vor allem, dass es im Tanz, anders als in anderen Künsten, keine lebendige Tradition ohne Menschen von heute geben kann.