Es ist aber auch die Zeit ambivalenter Entdeckungen. Ost-Autoren dürfen, wenn die Feldzeichen auf Entspannung stehen, den Westen erkunden. Eine Reise kann genehmigt werden oder auch nicht, die Staatspartei setzt auf Wohlverhalten. Da verbringen die Dichter viel Zeit und Aufregung mit den Ämtern. Sarah Kirsch wehrt sich mit Sarkasmus: "... immer wieder freundlich die Reisestelle anrufen. Die zukünftigen herrlichen Gedichte werden ganz Oben geplant, das ist das Revolutionäre hier an der Kunst." Genug Stoff für Gedichte liegt hinter dem Zaun. Der Blick der Dichterin bleibt elementar, keine moralische Impression verstellt den Weg. Ohne Vorsatz, alles hinter sich lassend, was Absicht sein kann, erkundet sie die westlichen Milieus. "Ich kam in Kreuzberg an und es gefiel mir." Sarah Kirsch, die sich manchmal nur mit einem Augenaufschlag gegen ein Defizit wehrt, hat das Weltvertrauen der Sächsischen Dichterschule längst gekündigt. Sie versteht, es gibt keinen Ausgleich für versäumtes Leben. Die Mauerspringerin ist zerrissen. "Ich weiß nicht, wo mir das Messer steckt. Mal im Zwerchfell und mal im Herzen. Die Luft ist weiß und das Haus schwankt."
Ein anderes Leben könnte beginnen, es gibt eine Wahl. Vor Lebenshunger rauschen die Worte. Und hinter der Mauer lebt ein Mann, zumeist in einem französischen Winkel. Aber diese Flucht ins Private wird zum Handicap. Wie soll die Willkür der Reiseerlaubnis mit den Zeitfundus des gebundenen Geliebten in Übereinklang gebracht werden? "Wir ruinieren uns heftig und gehen jeder für sich und zusammen kapores. Wir trennen uns, weil wir ne Mauer zwischen uns haben oder ne Freundin von ihm, aber alle paar Wochen fallen wir uns in die Arme." Das sind keine Eskapaden inszenierter Liebesnot, das ist eine Ausweichbewegung vor einer großen Entscheidung. Aber diese drängt sich auch ohne Vorsatz in die schönste Aufgewühltheit: "Wie soll das weitergehen mit mir und dem Arbeiterland."
Ein neues Leben braucht einen neuen Rahmen. Obwohl das erlösende Wort bis zum Ende des Buches nicht fällt, bleibt kein Zweifel, Sarah Kirsch kann dieses Ländchen mit der angehaltenen Zeit nur verlassen. In feinen Abstufungen entzieht sie sich dem Gehorsam gegenüber der Schwerkraft von Mauern, die sie vor den Gefahren einer Moderne bewahren sollen. Und die Vormoderne zeigt immer wieder, was sie so kann. Als Söhnchen Max zur Schule kommt, beginnt alles mit einem Fahnenappell. "Das ist ja wie bei mir anno 1941!" Wenn eine Lesung der unbequemen Dichterin verhindert werden soll, wird schon mal ein Wasserrohrbruch inszeniert. Die Spitzel zeigen sich immer ungenierter.
Der Blick zurück von Sarah Kirsch gibt Szenen wieder, weniger reflektierte Zusammenhänge. Aber jedes Wort hat hier etwas gekostet. Ihrem destruktiven Sehen entspricht ein konstruktiver Vollzug genauen Schreibens. Nicht, dass wir alles sehen dürften. Die Dichterin weiß immer, wann sie abbricht und wieder neu ansetzt. In diesen durchbrochenen Texten gibt es keinen Anfang und kein Ende. Heimweh nach früheren Zeiten ist dabei nirgends auszumachen.
Sarah Kirsch bricht die kleine traurige Liebesgeschichte mit dem Schlachten-Gemälde des Igorliedes. Ohne Not überzog vor achthundert Jahren Fürst Igor aus Nowgorod die Steppenvölker an der Wolga mit einem mörderischen Krieg. Sarah Kirsch findet für ihre Übertragung bündige Bilder: "Man hörte im russischen Land nur selten einen Pflüger rufen. Dafür schrien die Raben umso mehr und stritten sich um die Leichen." Sie setzt den byzantinischen Heldenfries einfach gegen das Kammerspiel eigener Angst vor einem ungelebten Leben. So zeigt sich die Sprache zwischen Tätlichkeit und zärtlicher Berührung in vereinfachter Dramaturgie. Aber auch Sarah Kirsch kann nicht immer dieselbe sein.