Ein elektronischer Fluchthelfer für U-Bahnhöfe, der im Ernstfall den sichersten Weg ins Freie weist: Das war das Ziel des 2008 gestarteten Forschungsprojektes ORGAMIR. Das zugrundeliegende Terrorszenario: Ein Giftgasanschlag, wie 1995 in der U-Bahn von Tokio. Erste Ergebnisse des 3,2 Millionen Euro Vorhabens präsentierte Projektsprecher Marco Plaß von der Universität Paderborn 2010 am Computer.
"Wir können das auch gern mal machen…" Per Mausklick auf die graphische Darstellung eines U-Bahnhofs simuliert der Diplom-Ingenieur damals eine Gefahrstoffquelle - und zwar neben einer der Rolltreppen, die ins Freie führt.
"Wenn man jetzt die Berechnung durchführt, würde der Weg von diesem Punkt natürlich in die komplett entgegen gesetzte Richtung weisen," erklärt Marco Plaß.
Umsetzung in der Realität
Da der kürzeste Fluchtweg versperrt ist, schickt die Software die Menschen in der Nähe der Rolltreppe nun in die entgegengesetzte Richtung. In der Praxis sollte das durch Lautsprecherdurchsagen oder Lauflichter geschehen oder mit einer Art Fluchtkompass fürs Handy.
"Das Fernziel, das wir noch anstreben, ist, das mobile Endgeräte direkt einen Pfeil anzeigen, mit Richtungssensor und so weiter, was jetzt der richtige Fluchtweg für eine Person auf der Station ist."
Die Technik ist praktisch noch nicht einsetzbar
Sieben Jahre später ist man diesem Fernziel kaum näher gekommen. Obwohl auf ORGAMIR das bis 2015 laufende Projekt ORGAMIR Plus folgte, ist die Technik längst nicht reif für die Praxis. Außerdem würde ihr Einsatz kritische Fragen aufwerfen. Was wäre, wenn der Evakuierungshelfer Flüchtende aus Versehen in eine tödliche Falle lockt? Stefan Strohschneider, Professor für interkulturelle Kommunikation an der Universität Jena, brachte das Problem seinerzeit so auf den Punkt:
"Die Betreibergesellschaft wäre in der Tat juristisch haftbar, wenn sie falsche Evakuierungsempfehlungen geben würde. Deswegen wird kein Tunnelbetreiber solche Evakuierungsempfehlungen geben."
Obwohl sich an diesem Dilemma nichts geändert hat und die greifbaren Ergebnisse von ORGAMIR überschaubar blieben, wird weiter an den Grundlagen von Evakuierungsassistenten für U-Bahnhöfe geforscht. Aktuell etwa im Verbundprojekt ORPHEUS, das Dr. Lukas Arnold vom Forschungszentrum Jülich koordiniert.
"Das Ziel des Orpheus-Projektes ist es, sich das System U-Bahn-Station unter dem Gesichtspunkt des Brandschutzes nochmal anzuschauen."
Das Orpheus-Projekt konzentriert sich auf Brände in U-Bahn-Schächten
Statt Giftgasanschlägen unter Tage stehen nun also Feuer im Fokus, hervorgerufen etwa durch Unfälle, Kurzschlüsse oder Brandstiftung. Weil die Rauchentwicklung in einem Tunnelsystem viel komplizierter zu berechnen ist, sobald eine Hitzequelle turbulente Luftströmungen erzeugt, profitiere man nur bedingt von den Vorläuferprojekten sagt Lukas Arnold.
"Es ist halt einfacher in einer existierenden U-Bahn-Station irgendwelche Spurengase auszulassen als eben einen realen Brand abzubilden. Deswegen: Da gibt es auch eine Abstufung, was die Komplexität angeht in den Projekten."
Anhand mathematischer Strömungsgleichungen entwickeln die Forscher Computeralgorithmen, die schnell berechnen, wie sich der Rauch in einem U-Bahnhof ausbreiten wird. Dazu haben sie die Berliner U-Bahn-Station ‚Osloer Straße‘ im Rechner nachgebildet und in Millionen kleine Zellen unterteilt. Um zu testen, wie gut Computersimulation und Realität übereinstimmen, werden in Kooperation mit den Berliner Verkehrsbetrieben Brandversuche gemacht. Während der nächtlichen Betriebspause verdrahten Forscher der Uni Bochum die Station dazu in Windeseile mit Temperatur-, Wind und Gassensoren. Dann machen Experten vom Institut für Industrieaerodynamik der Fachhochschule Aachen Feuer.
"Das heißt, sie bringen Propanbrenner mit, die Propan sauber verbrennen können. Heißt: De facto machen die nichts außer warme Luft, also keinen Ruß, keine anderen Rückstände. Mit diesen Brennern kommen sie auf eine Leistung von etwa einem Megawatt, die sie dann unten einbringen."
Ein Megawatt entspricht der Energie, die ein brennendes Sofa freisetzt. Um zu sehen, wohin die heiße Luft von den Propangasbrennern strömt, blasen die Forscher Theaternebel ein. Der Rauch sammelt sich zunächst unter der Decke und strömt dann zur Seite, nach unten und über die Treppenhäuser nach oben. Dabei vernebelt der Qualm die Sicht und hängt stellenweise so tief, dass Flüchtende den Kopf einziehen müssten, um eine Rauchvergiftung zu vermeiden. Mit aktiver Belüftungssteuerung, sagt Lukas Arnold, ließen sich solche Gefahrenzonen künftig vielleicht entschärfen.
Rauch soll sich nicht verteilen
"Zum Beispiel lokalisierte Absaugvorrichtungen an Treppenaufgängen, sodass eine U-Bahn-Ebene erstmal so gelassen wird, wie sie ist, aber der Rauch eben nicht in die Treppenhäuser eindringen kann. Das ist ein Beispiel für eine lufttechnische Maßnahme, die man sich überlegen kann."
Damit die Rettungskräfte im Ernstfall die richtigen Knöpfe drücken, müsste ein mit Sensordaten gefüttertes Computerprogramm berechnen, wie sich der giftige Rauch in den nächsten Minuten ausbreiten wird. Doch das ist knifflig, erklärt die am ORPHEUS-Projekt beteiligte Mathematikerin Anne Severt.
"Das Ziel ist die Rauchentwicklung zu simulieren, und das Ganze so schnell wie möglich. Die normalen kommerziellen Simulationsprogramme brauchen Wochen, Tage, Monate, so in dem Rahmen. Und ich möchte das Ganze in der sogenannten Echtzeit simulieren und rechnen lassen. Und vielleicht sogar schneller als Echtzeit, sodass es wirklich als Prognose dann verwendet werden kann."
Im Rahmen ihrer Doktorarbeit am Supercomputing Centre in Jülich testet Anne Severt neue Algorithmen dafür. Bis die dann allerdings soweit optimiert sind, dass sie auf einem Computer bei U-Bahn-Betreibern oder der Feuerwehr laufen, dürften noch mindestens zehn Jahre vergehen. Schnelle High-Tech-Lösungen für mehr Sicherheit im U-Bahn-Schacht sind also trotz millionenschwerer Forschungsprojekte in den vergangenen Jahren nicht in Sicht.