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"Tempel der Körper" - Eine Ketzerschrift

In Stadien, auf Plätzen und in Hallen und Becken werden siegreiche Männer und Frauen in der Form von Aposteln und Heroen mystifiziert und in synodaler Form gefeiert - egal ob es um einen Helden, einen Schurken oder einen Narren geht.

Von Peter Kühnst |
    Das Stadion, die Kathedrale der Neuzeit?
    Das Stadion, die Kathedrale der Neuzeit? (picture-alliance / dpa / Arno Burgi)
    Wir verstehen die Kultur des leistungs- und rekordorientierten Sports als eine moderne Form von Religion. Mit dem Rückgang, der Versandung der christlichen Religionen verlief die Ausbreitung dessen, was wir mit Sport zusammenfassen, parallel. Sport wurde seit den 20er Jahren international ein Massenphänomen, und dabei sind seine Architekturen, die Stadien, Hallen, Plätze oder Becken und Schanzen bedeutsam. Sie sind Bauten mit einem sakralen Charakter, in denen eine wunschdenkende Anbetung funktioniert.

    Das Stadion als klassisches Beispiel ist ein geschlossener Hof mit einer Rasenfläche. Solche ovalen Räume sind Signaturbauten unserer Städte und Kirchen, Domen, auch Museen und Theatern vergleichbar. In Sinn und Form sind sie Kultplatz und Opferstätte, in denen ein Sehnen nach dem Außergewöhnlichen stattfindet. Sport ist dabei ein körperliches, ein athletisches Abenteuer mit dem Horizont einer zeichenhaften Opfertat. Hier gilt: "Denke nicht, schaue."

    Werfen wir einen ganz kurzen Blick auf die Geschichte der Architekturen der neuzeitlichen Olympischen Spiele: Diese Baugeschichte beginnt mit 1896. In Athen wurde ein altes Stadion in seiner U-Form restauriert. Wir kennen dieses mit weißem Marmor verkleidete Panathenäisches Stadion. 1908, für die Spiele von London, hat man ein ovales, also geschlossenes Stadion, das White City Stadium erstmals in Skelettbauweise errichtet, so dass 68.000 Zuschauer darin Platz fanden.

    In der pionierhaften Zeit der 20er und frühen 30er Jahre entstehen Stadien und Hallen in Stahlbeton, und sie werden nach und nach nun auch vereinheitlicht, d.h. typisiert. Bis dahin war jede Sportstätte individuell gestaltet. Jetzt dominieren z.B. eine exakt vermessene 400 Meter-Bahn und die Radrennbahn und das Schwimmbecken werden separat gebaut.

    Machen wir einen kleinen Sprung: Bemerkenswert sind die Schwimm- und die Spielhalle für die Spiele von Tokio 1968, die Kenzo Tange errichtete. Mit seiner pagodenartigen Konstruktion der Halle für die Schwimmer gelang ihm eine Harmonie zwischen der japanischen Bautradition und der Architektur des Westens. Es entstand eine Art Kathedrale mit einem amphietheatralischen Innenraum.

    Der gebürtige Dresdener Günther Behnisch und Partner und Frei Otto kreierten für München 1972 eine asymmetrische Zugseilarchitektur, die sich nicht nur an Kenzo Tange anlehnte, sondern auch an zirzensische Verhältnisse erinnert. Dabei wirkt sie leicht und beschwingt und stellt so einen gewollten Kontrast zu den monumentalistischen Spielen von Berlin 1936 dar.

    In Montreal – 1976 – baute der französische Architekt Roger Tallibert eine hochmoderne neoexpressionistische Anlage aus Betonfertigteilen. So imposant das Stadion und die Radsporthalle sind, hier liegt ein veritabler Bauskandal vor: Der Turm, und damit die Überdachung des Olympiastadions, wurden erst 11 Jahre nach den Spielen fertig und die Baukosten, geplant waren 720 Mio. CAN $, erreichten schließlich die Summe von 3,5 Mrd. CAN $ – eine inzwischen häufigere finanzielle Entwicklung bei Sakralbauten.

    Ein baustatisches Kunststück gelang den Schweizer Architekten Jacques Herzog und Pierre de Meuron mit dem Stadion von Peking (2008). Das naturreligiöse Bild eines Vogelnestes umgibt hier die eigentliche Konstruktion aus Stahlbeton. Allerdings sieht der Ideengeber für diese skulpturale Architektur, der chinesische Künstler Ai Weiwei, die Gefahr von "Illusionismus", also Kulissenbauerei. Man darf zusammenfassen – die körperliche Monströsität des heutigen Leistungs-Sports hat ihre logische Entsprechung in der Sakralität ihrer Architekturen, anders und als Frage: Ist solche Architektur von "Tempeln getrübter Vernunft" ein baulicher Reflex auf die humanmedizinischen Extreme dieses Leistungssports?

    Kommen wir zurück zur Versportung unserer modernen Gesellschaften, in denen diese Bemuskelung oder Verfleischlichung als Ausprägung des Gläubigen, des Religiösen, immer weitere Kreise zieht. In der Tat ist dieser rassistische Kult ein rohes Handwerk mit unserem Körper, den wir einerseits haben und der wir andererseits sind. Zu sprechen ist sowohl von seiner Vitalität und Virilität, aber auch von Phänomenen der Gewalt.

    Es gehört zur Lebendigkeit dieses Themas, dass Sport und Spiel allemal als verschlüsselter Exhibitionismus erkannt werden. Sie sind lüsterne Projektionen verfremdeter Triebe und sexueller Lust in sakralen Kulissen. Viele Szenen bersten vor Wollust und Spannungen, die sich entladen möchten. Sexualität anhand schamentblößender Gebärden also, und das mit pädophilen, besser nympholeptischen Offenbarungen. Wir sehen, staunen, gaffen und schwärmen beim koketten Öffnen und Schließen der rehschlanken Schenkel, beim obszönen Dehnen und Posieren oder dem frivolen Anbieten und verlegenen Verweigern besonders des weiblichen Körpers beim Eiskunstlauf, beim Eistanz, bei der Künstlerischen Gymnastik, dem Kunstturnen, dem Beachvolleyball, dem Turniertanz oder in der Leichtathletik. Solches Madonnen-Spiel, letztlich ein Venuskult, gleicht einem Geschehen zwischen Scheinheiligkeit und Heiligenschein.

    Zum Phänomen der Gewalt findet sich das öffentlich zelebrierte Foltern mit Entstellungen und Verstümmelungen, mit Quälereien und Verletzungen. Beispielsweise bei den zahlreichen, um nicht zu sagen ständigen brutalen Attacken oder raffinierten Fouls in den kämpferischen und zugleich ermüdenden Sportspielen Fußball, Eishockey, Rugby und Handball. Grausam und nicht selten blutrünstig sind die Matern öffentlichen Hinrichtens beim Boxen. Im Grunde findet sich hier eine fragwürdig zivilisierte Form des versuchten Totschlagens. Ekel- und abscheuerregend ist das Catchen. Wir können die legitimierte Vergewaltigung und die mitunter elefantistische Entstellung des Körpers im Bodybuilding nicht übergehen und neuerdings steht die modifizierte Gladiatur in der Tür, der Freefight – Männer, auch Frauen, bei denen einen das Gefühl beschleicht sie anketten zu müssen.

    Die Frage darf erlaubt sein, ob es sich in diesem Umfeld nicht um eine Form rückwärtsgewandter Menschwerdung handelt.

    Bevor wir auf den Olympismus zu sprechen kommen, an dieser Stelle ein grundsätzliches Wort zu meiner Ketzerschrift, wie der Untertitel der entstehenden Publikation heißt. Seit der Aufklärung ist Wissenschaft ein beständiges Ringen gegen die Gläubigkeit, die Religion. Ist doch der Kultivierte ein wacher und von Vernunft gesteuerter Kritiker. Ketzerisches Nachfragen ist von daher eine Form des Zerdenkens, und dies eröffnet Neues, Anderes. Denn ungewohnte Denkbilder beleuchten die Schatten sog. "edler Einfalt und stiller Größe". Nicht selten erscheint hinter, über oder unter allem Zauber ein Laster. Kurz gesagt, ich sehe in dieser Herangehensweise einen kreativen Ansatz, der Gewinn für die Sache ermöglicht.

    Sprechen wir nun vom Olympismus, dem Pontifikalamt des Sports. Umrandet sind diese Andachten der Olympischen Spiele von einer zeremoniellen Theatralik, zu der prozessionshafte Ein- und Ausmärsche, Fanfaren, Fahnenweihen, Fackelläufe sowie Glockenklänge, Taubenaufflüge und Feuerwerke gehören. In der Summe ein Erweckungserlebnis. In solchem Bad eines religiösen Willens entsteht der Olympismus als eine fromme Hoffnung mit einer wohlbegründeten Verzweiflung.

    Der jesuitisch erzogene Pierre de Coubertin sprach seinerzeit von der "religio athletae", und war überzeugt:

    "Indem wir eine Entwicklung wieder aufnahmen, die schon 25 Jahrhunderte alt ist, taten wir es, damit ihr wieder zu Jüngern der sportlichen Religion werden könntet, so wie die großen Vorfahren es verstanden."

    In Stadien, auf Plätzen und in Hallen und Becken werden siegreiche Männer und Frauen in der Form von Aposteln und Heroen mystifiziert und in synodaler Form gefeiert – egal ob es um einen Helden, einen Schurken oder einen Narren geht. Die gefahrvolle Bereitschaft dieser Athleten zur asketischen Zurichtung hat Erfolg gehabt. In einer Miniatur des Jüngsten Gerichts, ihrem Wettkampf, haben sie sich behauptet, sind sie auserwählt worden. Sie erleben eine Ermächtigung, die die Zuschauer mit ihrem Beifall beglaubigen. Die vielen Verlierer, das ist die Welt der Märtyrer.

    In der Umgebung sakraler Architektur dieses Sports existiert ein Zauber, bei dem aus dem traditionellen Glaube ein Staunen geworden ist, aus dem Gebet eine Bewunderung – beides, das Staunen und die Bewunderung sind der Untergrund des Religiösen. Hoffnungsvoll versucht der Olympismus so dem athletischen Endlichen einen unendlichen Sinn zu geben.

    Dabei sind schon in der Antike zu diesem Geschehen kritische Hinweise überaus deutlich. Der Mediziner Hippokrates nannte den Wettkampfsport, wie er 400 Jahre v. Chr. üblich war, "eine Schule des Betruges". Der Sportlehrer war bei den Griechen schon rein sprachlich der "Knabenschinder", und in seinen Tragödien sprach Euripides davon: "Es gibt zahllose Übel in Griechenland, doch nichts ist schlimmer als das Pack der Athleten, ihr Training macht sie für ein normales Leben untauglich.". Der römische Kirchenvater Tertullian (um 150-220 n. Chr.) legte detailliert in seiner Schrift "De spectaculis" die Schwächen dieses Wollens offen und Seneca erkannte "das Training allein ist schon eine Marter".

    Werfen wir abschließend einen Blick auf den heutigen Manierismus dieses körperlichen oder fleischlichen Strebens: Wozu z.B. stoßen wir eine Eisenkugel in die Gegend, und das möglichst weit? Wieso flitzen wir wie von Panik getrieben 100, 200, 1.000 oder 5.000 Meter auf einer hergerichteten Bahn im Oval herum und ereifern uns über den, der zuerst ankommt, obwohl wir auch den Letzten feiern könnten? Was soll der Unsinn, jener artilleristischen Kanonade der Hammerwerfer, die jede Wiese zertrümmern? Dann wieder segeln wir tollkühn über Schanzen hinweg engelsgleich in ein Tal. Was ist das Segenbringende in der weltweiten Pilgerkultur bei den Marathonläufen, wo sich so viele den Knorpel, die Bänder und die Gelenke zermürben?

    Was ist das alles für eine lebensbedrohliche Hingabe und Opferbereitschaft? Ein riskantes, sogar ruinöses Ausprobieren von uns selbst. An so vielen Stellen dieser gläubigen Kultur möchte man ausrufen:

    ""Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun"."