Christoph Heinemann: Professor Peter Neumann lehrt am Internationalen Zentrum für die Erforschung von Radikalisierung und politischer Gewalt am King's College in London - jetzt am Telefon. Guten Morgen!
Peter Neumann: Guten Morgen, Herr Heinemann!
Heinemann: Herr Neumann, die spanische Polizei sprach gestern Abend sehr schnell sofort von einem Terroranschlag. Die Terrororganisation IS hat sich dazu bekannt. Gehen Sie jetzt davon aus, dass die Toten und Verletzten in Barcelona auf das Konto des IS gehen?
Neumann: Ja, sicher. Also ich denke, zum einen die Äußerung der Polizei, zum anderen das Bekennerschreiben des Islamischen Staates selbst, das über die richtigen Kanäle verbreitet wurde und authentisch scheint, und zum anderen natürlich der Modus Operandi, also die Art und Weise, wie der Anschlag durchgeführt wurde, all das deutet darauf hin, dass das tatsächlich der Islamische Staat war.
Die Frage, die sich stellt, ist natürlich, welche Verbindung es gab, ob das ein inspirierter Anschlag war oder einer, der direkt angewiesen und organisiert wurde aus Syrien zum Beispiel - das wissen wir noch nicht. Der IS nimmt alle solche Anschläge für sich in Anspruch, und die Verbindung wird sich wahrscheinlich erst in den nächsten 48 Stunden stärker oder besser herausstellen lassen.
"Eine Form von asymmetrischer Kriegsführung"
Heinemann: Herr Neumann, der IS ist militärisch geschlagen, Mossul ist befreit, welche Strategie verfolgt die Terrororganisation gegenwärtig?
Neumann: Ich denke, die Strategie hat sich nicht großartig geändert. Das Ziel ist zum einen eine Form von asymmetrischer Kriegsführung. Das heißt, es wird ganz klar und ganz deutlich gesagt - und ich glaube, das stimmt auch -, dass man sagt: Ihr greift uns hier an, in Syrien und im Irak, und wir schlagen dort zurück, wo es euch am meisten schmerzt, und das ist bei euch zu Hause. Das heißt, jedes Land, das gegen uns kämpft, jedes Land, das Teil der globalen Koalition ist, gegen den Islamischen Staat, ist somit auch ein Ziel. Und jeder dort ist ein Ziel.
Auf der anderen Seite geht es, glaube ich, schon darum, zu sagen, wir wollen weiter Mitglieder gewinnen und wir wollen weiter Leute radikalisieren, und das schaffen wir am besten dadurch, dass wir zum Beispiel europäische Gesellschaften radikalisieren und polarisieren. Und das ist ja der Effekt dieser Anschläge, dass sie nämlich Gesellschaften auseinanderdriften lassen, dass sie die Extremen auf allen Seiten des politischen Spektrums stärken und dass dadurch dann Muslime in europäischen Gesellschaften sich noch weiter ausgeschlossen fühlen und möglicherweise ansprechbar werden für den Islamischen Staat.
Heinemann: Noch mal zur Strategie: Das geplante Kalifat ist am Ende, jetzt nutzt der IS eben seine zerstörerischen Kapazitäten, um wahllos Menschen in der westlichen Welt zu töten. Kann man das so zusammenfassen?
Neumann: Ja, das hat er auch vorher schon getan, aber das tut er jetzt noch intensiver. Also vorher, bis letztes Jahr, bis vor zwölf Monaten war ja die Strategie des Islamischen Staates, kommt ins Kalifat, helft uns dabei, das Kalifat mit aufzubauen, und Muslimen im Westen wurde zum Beispiel gesagt, es ist eure Pflicht, ins Kalifat zu gehen, oder zumindest habt ihr die Option, ins Kalifat zu gehen, und wir würden gerne, dass ihr hierherkommt.
Das hat vor zwölf Monaten der Islamische Staat geändert. Seitdem sagt er, kommt nicht mehr hierher, bleibt, wo ihr seid, und kämpft, wo ihr seid gegen diejenigen, die gegen uns kämpfen.
"Mangelnde Zusammenarbeit und mangelnder Datenaustausch"
Heinemann: Herr Neumann, wie bewerten Sie den Stand der gemeinsamen Terrorabwehr, die Zusammenarbeit in Europa?
Neumann: Das habe ich immer schon sehr kritisch gesehen und das sehe ich nach wie vor sehr kritisch. Jetzt kann man in diesem speziellen Fall noch nichts Genaues darüber sagen, ob es hier grenzüberschreitende Effekte gab, ob es hier Pannen gab bei der Zusammenarbeit, ob die Verdächtigen hier zum Beispiel die nahe Grenze nach Frankreich genutzt haben, aber es war zumindest in der Vergangenheit so, ganz besonders im Falle Paris und Brüssel, dass sich Terroristen des Islamischen Staates die mangelnde Zusammenarbeit und den mangelnden Datenaustausch in Europa zunutze gemacht haben und ausgenutzt haben für ihre Zwecke.
Ich halte es nach wie vor für einen Skandal, dass obwohl sich die Zusammenarbeit gebessert hat - kein Zweifel - in den letzten zwei Jahren, dass wir immer noch keine nahtlose Zusammenarbeit der europäischen Sicherheitsbehörden haben, dass wir nach wie vor nicht einen Datentopf haben in Europa, wo alle Daten über alle terroristischen Gefährder in Europa drin sind, sodass alle europäischen Staaten zu jedem Zeitpunkt die Daten von allen anderen europäischen Staaten abrufen können.
Wenn man einen Raum hat, wie zum Beispiel Schengen, wo offene Grenzen existieren, dann ist eben die andere Seite der Medaille, dass man dann auch nahtlos zusammenarbeiten muss, wenn es um den Austausch der Daten geht. Und diese Situation haben wir immer noch nicht in Europa, und das ist meiner Meinung nach nach wie vor ein Skandal.
"Terroraktivität in Spanien hat schon deutlich abgenommen"
Heinemann: Herr Neumann, was für die Amerikaner 9/11 ist, der 11. September 2001, das ist für die Spanier once marzo, das ist der 11. März 2004, der Anschlag auf den Bahnhof Atocha in Madrid mit über 190 Toten. Danach hatte sich Spanien ja aus den militärischen Koalitionen zur Terrorbekämpfung zunächst zurückgezogen in der Hoffnung, dadurch vom Radar der islamistischen Terrorbanden zu verschwinden. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt.
Neumann: Die hat sich nicht erfüllt. Allerdings ist es so, wenn man sich die Statistiken anschaut, die Terroraktivität in Spanien hat schon deutlich abgenommen. Es gab seit 2004 keinen islamistisch motivierten Anschlag mehr, und auch die Terrorkampagnen der ETA, der baskischen Separatisten, ist seitdem zu Ende gegangen. Terror hat das Land Spanien im Prinzip seit 2004 bis gestern nicht berührt.
Das liegt zum einen daran, dass Spanien, wie Sie gesagt haben, nicht mehr so im Fadenkreuz stand, das liegt zum anderen daran, dass die Spanier seit 2004 auch intern aufgerüstet haben. Und speziell in Barcelona war es so - und das weiß ich aus eigener Erfahrung, weil ich zu Gast war bei der katalanischen Polizei -, dass seit 2008, als es bereits einen großen Terroranschlagsplan gab, dass die Polizei speziell dort sich sehr, sehr für dieses Thema interessiert hat und auch viele Leute festgenommen hat. In Spanien sind in den letzten zwei Jahren fast 200 Leute festgenommen worden in Verbindung mit islamistisch motiviertem Terrorismus, also es gab da viel Aktivität, aber die Polizei und die Sicherheitsbehörden waren sehr intensiv hinterher.
Iberische Halbinsel als Teil des Fantasiekonstruktes Kalifat
Heinemann: Herr Neumann, welche Rolle spielt Spanien in der Ideologie der Islamisten? Ist das auch eine Ideologie, die an Geschichte erinnert, an die 500 Jahre der Präsenz der Mauren in Spanien?
Neumann: Klar. Wenn Sie sich Karten des Kalifats anschauen, nicht nur des Islamischen Staates jetzt aktuell, sondern davor auch El Kaida, wenn die also Taten verbreiten über das Kalifat, das sie anstreben, also dieses Fantasiekonstrukt, dass dann fast die gesamte Welt umspannt, da sind alle Territorien mit eingeschlossen, die jemals aus deren Sicht in muslimischer Hand waren, und dazu gehört eben auch, was die Dschihadisten Andalusien nennen, und das ist die gesamte Iberische Halbinsel.
Da sehen Sie dann eben immer, und das können Sie auch in Verlautbarungen lesen, dass man zumindest langfristig die Absicht hat, dann wieder Spanien ins Kalifat einzugliedern. Also ideologisch, aus dschihadistischer Sicht spielt Spanien eine besondere Rolle.
Heinemann: Professor Peter Neumann vom King's College in London, danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!
Neumann: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.