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Terror-Warnung in Brüssel
"Der Eindruck ist wirklich problematisch"

In Brüssel gilt weiter die höchste Terror-Warnstufe. Irgendwann werde man die Sicherheitsvorkehrungen herunterfahren müssen, ohne einen Erfolg vorweisen zu können, sagte der Terrorismus-Experte Peter R. Neumann im DLF. "Im Rückblick werden die belgischen Behörden sagen: Wir hätten am besten anders entschieden."

Peter R. Neumann im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Prof. Dr. Peter Neumann, Terrorismus-Experte
    Prof. Dr. Peter Neumann, Terrorismus-Experte (imago/Müller-Stauffenberg)
    Die Situation in Brüssel sei eine andere als die beim Fußball-Länderspiel in Hannover, sagte der Politikwissenschaftler im Deutschlandfunk. Dort habe es einen konkreten Hinweis auf einen geplanten Anschlag gegeben und die Sicherheitskräfte hätten nach der Absage zumindest weitersuchen können. In Brüssel dagegen gebe es keinen solchen Hinweis und es sei auch noch keiner der Verdächtigen gefasst worden. Die Sicherheitsvorkehrungen könnten aber nicht ewig aufrecht erhalten werden. "Der Eindruck ist wirklich ganz ganz problematisch."
    Neumann sieht die Belgier mit der großen Zahl von IS-Anhängern und Syrien-Rückkehrern überfordert: "Die Sicherheitsbehörden sind einfach nicht für die Gefahr geschaffen, mit der sie es gerade zu tun haben." Das sei auch für Deutschland gefährlich, so Neumann. Durch das Schengener Abkommen sei man auch davon betroffen, was in den Nachbarländern geschehe. Wenn man den Schengen-Raum aufrecht erhalten wolle, müsse man deshalb auch die Kooperation zwischen den Sicherheitskräften der einzelnen Staaten ausbauen.
    Neumann glaubt, dass der IS durch die Anschläge von Paris neuen Zulauf bekommen hat. Die Terroristen hätten etwa in Syrien zuletzt Gebiete verloren. Das sei aber durch den Terrorismus übertüncht worden. "Das gefällt den Unterstützern", so der Wissenschaftler. Diese wollten, dass der IS "möglichst brutal" sei. Bisher habe die Mehrheitsgesellschaft noch nicht ganz verstanden, dass die Anziehungskraft des IS genau davon ausgehe, "dass wir ihn so unglaublich schrecklich finden".

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Ausnahmezustand für eine weitere Woche, Terror-Warnstufe vier - das ist zurzeit die Realität in Brüssel. Die Sicherheitsbehörden dort sagen, es bestehe nach wie vor eine ernste und unmittelbare Bedrohung durch Terroristen. Was genau sich dahinter verbirgt, dazu gibt es keine Angaben. Die Schulen sollen allerdings morgen, am Mittwoch wieder öffnen. Auch die U-Bahnen sollen dann wieder fahren.
    Mitgehört hat Peter Neumann, Terrorismus-Experte am King's College in London. Schönen guten Morgen.
    Peter R. Neumann: Guten Morgen.
    Armbrüster: Herr Neumann, macht das Sinn, eine Großstadt so lahmzulegen wegen einer Terrorgefahr?
    Neumann: Natürlich muss man aus dieser Situation jetzt lernen. Ich glaube, im Rückblick werden die belgischen Behörden sagen, wir hätten am besten anders entschieden, denn natürlich ist der Eindruck, der entsteht, wirklich problematisch. Das war etwas anders bei dem Fußball-Länderspiel letzte Woche in Deutschland, wo es einen spezifischen Hinweis auf ein spezifisches Ereignis gab, das man absagen konnte. Natürlich hat man deswegen die Verdächtigen noch nicht festgenommen, aber zumindest konnte man nach dieser Absage weiter suchen. Jetzt hat man eine Situation, wo man weiß, es gibt diese zwei Verdächtigen. Man hat allerdings keinen spezifischen Hinweis. Man hat die Verdächtigen noch nicht gefunden. Das heißt, man muss im Prinzip irgendwann die Sicherheitsmaßnahmen runterfahren, ohne dass man tatsächlich den Erfolg gehabt hat. Der Eindruck ist wirklich ganz, ganz problematisch.
    "Sicherheitsbehörden in Behörden sind extrem überfordert"
    Armbrüster: Welche Methodik erkennen Sie denn da? Wie geht die Polizei in Belgien vor bei der Suche nach diesen Verdächtigen?
    Neumann: Sie geht im Prinzip vor wie in allen anderen Orten auch. Das heißt, da wird Kommunikation rekonstruiert, da werden Verdächtige weiter verfolgt, ihre Kontakte rekonstruiert. Der Sinn und Zweck dieser Sicherheitsmaßnahmen ist letztlich, es zu schaffen, alle möglichen Ziele unter Kontrolle zu haben. Das bedeutet, während diese Hausdurchsuchungen stattfinden, zu verhindern, dass Anschläge stattfinden, weil man einfach nicht das Personal hat, um beides gleichzeitig zu leisten. Das ist auch ein Hinweis auf die Situation in Belgien, wo die Sicherheitsbehörden extrem überfordert sind. Die Sicherheitsbehörden in Belgien sind einfach nicht für die Art von Gefahr geschaffen, mit der sie momentan zu tun haben. Wir müssen uns daran erinnern: Aus Belgien sind fast 500 Menschen nach Syrien und in den Irak gegangen. Es gibt kein Land in Europa, das stärker von dieser Gefahr betroffen ist. Seit einiger Zeit schon sagen die Belgier auch zu ihren Nachbarn, wir können das im Prinzip nicht leisten, und da kommen dann solche Aktionen dabei heraus.
    "Sicherheitsbehörden in Europa kooperieren immer noch katastrophal"
    Armbrüster: Heißt das, wenn unser Nachbarland Belgien überfordert ist bei dieser Arbeit, ist das dann auch gefährlich für uns in Deutschland?
    Neumann: Absolut, denn was wir jetzt gelernt haben in dieser ganzen Krise ist natürlich, dass wir davon betroffen sind, was in unseren Nachbarländern passiert - nicht erst seit Schengen, aber besonders durch Schengen. Natürlich - und das haben wir jetzt gesehen - ist es so, dass Terroristen vom Islamischen Staat die Situation auch ausnutzen. Das heißt, da gehen dann Franzosen nach Belgien, um dort eine Operation in Paris vorzubereiten, weil das möglich ist und weil das relativ einfach ist. Da werden solche Schwächen dann ausgenutzt. Und man weiß auch mittlerweile, dass die Sicherheitsbehörden in Europa mittlerweile immer noch katastrophal kooperieren, und das ist wirklich ein Skandal. Wenn man Freizügigkeit hat und wenn man die beibehalten möchte, wenn man diesen Schengen-Raum beibehalten möchte, dann muss man auch dafür sorgen, dass die Kooperation zwischen den Sicherheitsbehörden in Europa funktioniert. Das sind zwei Seiten derselben Medaille. Man kann keine Freizügigkeit haben, aber gleichzeitig die Grenzen oder die Hürden bei der Kooperation der Sicherheitsbehörden beibehalten.
    Armbrüster: Herr Neumann, ich will noch einmal zurückkommen auf die konkrete Situation in Belgien, in Brüssel. Wenn wir das jetzt sehen, diese Polizisten überall in der Stadt, das lahmgelegte öffentliche Leben, leere Bürgersteige, ist das ein Zeichen von Schwäche?
    Neumann: Wenn das ewig so weitergeht, dann natürlich schon. Man muss immer in Betracht ziehen, dass natürlich der Terrorismus vor allem politische und psychologische Absichten hat. Es geht nicht in erster Linie darum, Menschen umzubringen, obwohl das natürlich die direkte Folge ist und die sichtbarste Folge. Aber damit ist nicht Schluss. Es gibt immer einen darüber hinausgehenden politischen und psychologischen Zweck. Das bedeutet in vielen Fällen, Terror einzuflößen, und das bedeutet in vielen Fällen auch, Schaden, politischen Schaden und ökonomischen Schaden anzurichten.
    Armbrüster: Das heißt aber: Das was die Behörden da in Belgien jetzt gerade machen, in Brüssel, das ist eigentlich genau das, was der IS sich wünscht?
    Neumann: Da findet natürlich eine Abwägung statt, denn wenn die belgischen Behörden davon ausgehen, dass tatsächlich ein terroristischer Anschlag unmittelbar bevorstand, dann ist das, was jetzt geschieht, wahrscheinlich weniger schlimm als ein terroristischer Anschlag. Wenn allerdings nicht klar ist, ob tatsächlich etwas passiert wäre - und das ist natürlich dann immer die Abwägung -, dann ist es möglicherweise jetzt problematischer. Wir wissen natürlich die Fakten nicht genau und das wird man im Rückblick dann herausstellen müssen. Aber klar ist jetzt schon, dass der Eindruck, der dadurch entsteht, natürlich schon katastrophal ist, auch im Hinblick auf das, was zum Beispiel in Amerika potenzielle Touristen denken, die jetzt ihre Reise nach Europa streichen, weil sie jeden Tag im Fernsehen Bilder von Armee auf den Straßen und so weiter sehen.
    "IS hat absolut wieder an Enthusiasmus und Unterstützung gewonnen"
    Armbrüster: Herr Neumann, Sie beschäftigen sich ja am King's College intensiver mit diesen Phänomenen in Europa, jetzt nicht nur in diesen Tagen, sondern Sie machen das ja schon seit vielen Jahren. Was würden Sie denn aus Ihrer Erfahrung sagen? Hat der IS bei radikalen Muslimen in Europa in den vergangenen zehn Tagen massiv an Rückhalt gewonnen? Konnte er viele neue junge Männer und vielleicht auch Frauen für sich rekrutieren?
    Neumann: Ich denke schon, dass der Islamische Staat in den letzten Tagen seit Paris wieder an Zuspruch gewonnen hat. Das lässt sich erst mal empirisch ganz klar sagen. Wir beobachten ja sehr viele Leute im Internet, Unterstützer, radikalisierte Unterstützer des Islamischen Staates. Da war es durchaus so, vor ein, zwei Monaten noch, dass Leute relativ deprimiert waren, denn im Kerngebiet, in Syrien und im Irak war der Islamische Staat am Verlieren. Er war in der Defensive, er stand unter Druck. Viele Gebiete, die er letztes Jahr hinzugewonnen hatte, die hat er jetzt wieder verloren. Das hat er übertüncht gewissermaßen durch diese Anschläge, durch die Tatsache, dass jetzt Terrorismus stattfindet, dass der Islamische Staat wieder gefürchtet ist, und das gefällt den Unterstützern. Die sind ja Teil einer Gegenkultur. Die wollen ja, dass der Islamische Staat Schreckliches tut, Brutales tut, je brutaler desto besser. Insofern ja, er hat absolut wieder an Enthusiasmus und Unterstützung gewonnen.
    Armbrüster: Was genau fasziniert denn radikale junge Muslime in Europa so sehr an diesem Vorgehen?
    Neumann: Wiederum die jungen Leute, die den Islamischen Staat unterstützen - und das ist nach wie vor natürlich eine Minderheit -, sind Teil einer Gegenkultur. Das heißt, sie wollen sich gegen die Mehrheitsgesellschaft stellen und sie fühlen sich natürlich auch von der Mehrheitsgesellschaft verraten und ausgeschlossen und sie sehen im Islamischen Staat eine Gegenfolie, im Prinzip ein Gesellschaftsmodell, was attraktiv ist, weil es gegen alles steht, wofür die europäischen Gesellschaften stehen. Und wenn sie etwas sehen, worüber sich die Mehrheitsgesellschaft aufregt, was sie absolut abscheulich findet, was sie absolut verurteilt, dann wird das für sie umso attraktiver, je mehr sich die Eltern, die Lehrer, die religiösen Anführer darüber aufregen. Das verstehen wir immer noch nicht ganz, dass der Appeal genau darin liegt, dass wir es so unglaublich schrecklich finden. Da kommt einiges zusammen. Da kommt natürlich in vielen Fällen der Migrationshintergrund zusammen, die Tatsache, dass man sich ausgeschlossen fühlt, dass man glaubt, keine Perspektive zu haben in der Mehrheitsgesellschaft, aber natürlich auch ganz einfach der jugendliche Rebellionswille, die Tatsache, dass man sich in einem gewissen Alter gegen die Gesellschaft stellt. Das kommt da alles zusammen.
    "Es geht letztlich um einfache Jugendarbeit, Präventionsarbeit"
    Armbrüster: Herr Neumann, dann noch ganz kurz.. Was könnten denn europäische Politiker tun? Wo müssten sie als Erstes ansetzen, um so eine Entwicklung zu stoppen, dass junge Muslime in diese Terrorbewegung abdriften?
    Neumann: Es ist im Prinzip einfach und schwierig zugleich. Es ist einfach deshalb, weil es letztlich um einfache Jugendarbeit geht, Präventionsarbeit, wenn man über Radikalisierungsprävention spricht. Das ist nicht kompliziert. Man muss die Leute ansprechen, bevor es die Extremisten tun. Man muss in diese Gebiete, in diese Vorstädte von Brüssel oder Paris oder möglicherweise auch in Deutschland reingehen, sich mit den Problemen der Jugendlichen beschäftigen, die ernst nehmen, bevor es die Extremisten tun, möglicherweise mit den gleichen Methoden wie die Extremisten, das heißt sich wirklich in die Brennpunkte hineinzubegeben und die Leute ernst zu nehmen, aber natürlich für einen anderen Zweck, und zwar sie wieder für diese Gesellschaft zu gewinnen, und davon passiert noch nicht genug.
    Armbrüster: Live hier bei uns im Deutschlandfunk war das Peter Neumann, Terrorismus-Experte am King's College in London. Vielen Dank, Herr Neumann, für Ihre Zeit heute Morgen.
    Neumann: Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.