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Terrormiliz IS
"Jeden Tag kommen weit über 100 neue Kämpfer dazu"

Der Islamische Staat (IS) sei viel stärker als Terrorgruppen wie Al-Kaida oder Taliban, sagte der Publizist Jürgen Todenhöfer im DLF. Er hat zehn Tage lang mit IS-Kämpfern zusammengelebt. Der Zulauf sei gewaltig. Für den Kampf gegen die Gruppe sieht er nur einen Weg.

Jürgen Todenhöfer im Gespräch mit Peter Kapern |
    Porträt von Jürgen Todenhöfer in Anzug und Krawatte
    Todenhöfer: Im IS herrsche ein "sehr, sehr harter Stil" (dpa / Karlheinz Schindler)
    Die Terrormiliz werde immer noch unterschätzt. "Der IS hat inzwischen ein Gebiet erobert, das größer ist als Großbritannien." Todenhöfer betonte: "Jeden Tag kommen weit über 100 neue Kämpfer dazu." Das seien oft begeisterte, junge Menschen, die auch in ihren Herkunftsländern erfolgreich seien. Sie reize die Vorstellung, Teil eines historischen Prozesses zu sein, nämlich der Errichtung eines riesigen islamischen Staates.
    Todenhöfer sagte weiter, es sei eine "krasse Fehleinschätzung", dass IS-Kämpfer nach ihrer Rückkehr in ihre Heimatländer gefährlich seien. Das zeige, dass der Westen den IS überhaupt nicht verstanden habe. "Diejenigen, die zurückkehren, sind die, die es nicht geschafft haben, sind die Verlierer." Seiner Ansicht nach ist es falsch, das Problem mit Bomben lösen zu wollen. Das habe in Afghanistan und im Irak nicht funktioniert, weil immer auch Zivilisten getötet würden und so Terroristen entstehen. "Schlagen können die sunnitischen radikalen IS-Kämpfer nur die gemäßigten irakischen Sunniten."

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Kürzlich hat Amnesty International einen Bericht über die Lage der Menschenrechte im sogenannten Islamischen Staat vorgelegt, also in jenen Teilen Syriens und des Iraks, die von den islamistischen Terrormilizen kontrolliert werden. Dieser Bericht stützte sich auf die Berichte derjenigen, die den mörderischen Dschihadisten entkommen waren. Der Titel des Berichtes sagt eigentlich alles über die Herrschaft des IS: "Der Hölle entkommen", so lautete er. Es gibt einen Mann, der dieser Hölle einen Besuch abgestattet hat, freiwillig. Jürgen Todenhöfer, der frühere CDU-Bundestagsabgeordnete, danach war er Medienmanager, und seit etlichen Jahren arbeitet er als Publizist mit dem Schwerpunkt Islamische Welt. Zehn Tage lang hat er also die Hölle des IS bereist, und anschließend hat er gesagt, der IS ist weit gefährlicher als der Westen glaubt. Herr Todenhöfer, was genau meinen Sie damit?
    Jürgen Todenhöfer: Ich meine die Kampfkraft dieser Gruppe. Ich habe Al-Kaida-Kämpfer in Afghanistan getroffen, ich habe den Front National de Libération getroffen, der die Franzosen aus Algerien vertrieben hat. Ich habe Taliban-Führer getroffen. Der IS ist viel stärker als diese Truppen. Er hat inzwischen ein Gebiet erobert, das größer ist als Großbritannien. Das kann man sich hier alles gar nicht vorstellen. Und er hat einen Zulauf von europäischen und westlichen Kämpfern von täglich mehreren Hundert. Ich war in einer der Rekrutierungsstellen, einem der vielen Häuser an der Grenze, die neue Kämpfer aufnehmen, und da kamen täglich über 50 begeisterte junge Leute. Und das macht mir Sorge und hat mich veranlasst zu sagen, dass wir das immer noch unterschätzen.
    Kapern: Haben Sie mit den rekrutierten Dschihadisten selbst sprechen können? Was haben die Ihnen gesagt, warum sie das tun?
    Todenhöfer: Ich hab ja mit diesen Leuten gelebt, ich habe ja zehn Tage nicht in einem Hotel gelebt und dann zwei, drei Termine gemacht, sondern ich bin mit Kämpfern gereist, ich hab mit denen im selben Raum auf dem Boden geschlafen und habe viele Rekrutierte gesehen. Ein Grund ist die Diskriminierung in ihren Ländern. Sie glauben und haben den Eindruck, dass sie da ihren Islam nicht wirklich leben können. Und der andere Grund ist die Vorstellung, dass sie etwas Großes, Historisches machen, dass sie Teil eines großen historischen Prozesses sind, nämlich der Schaffung eines riesigen islamischen Staates, der den ganzen Mittleren Osten umfassen soll und eines Tages die ganze Welt. Und ich kann mir die Begeisterung auch nicht erklären, aber sie war so stark, wie ich das eigentlich nie in meinem Leben erlebt habe. Und das sind nicht nur Menschen, die in ihren Ländern gescheitert sind, sondern auch sehr viele erfolgreiche Leute. Einer hatte gerade sein juristisches Staatsexamen brillant bestanden und wollte einfach in den Islamischen Staat und dort kämpfen.
    "Der Westen hat diesen Islamischen Staat überhaupt nicht verstanden"
    Kapern: Haben Sie bei diesen Freiwilligen, bei diesen Dschihadisten auch irgendwelche Selbstzweifel ausmachen können an dem, was sie tun?
    Todenhöfer: Nie. Ich weiß natürlich auch, dass es Rückkehrer gibt und dass es Leute gibt, die dieses harte und teilweise spartanische Leben nicht schaffen, die keine Lust haben, gegen andere Rebellengruppen notfalls auch zu kämpfen, oder deren Frauen sagen, das ist nicht das richtige Leben für mich. Aber das ist die klare Minderheit, und die gelten auch als diejenigen, die es nicht geschafft haben. Aber überwiegend, wenn ich auch durch übers Gesicht gezogen haben, damit wir sie nicht fotografieren konnten wegen ihrer Angehörigen, da war eine Begeisterung - ein Schwede sagte mir, das ist die Zeit meines Lebens, das Größte, was ich jemals gemacht habe.
    Kapern: Die Politik hier im Westen, Herr Todenhöfer, drückt ja ihre Besorgnis aus angesichts der Tatsache, dass diese IS-Kämpfer irgendwann als ausgebildete Kämpfer zurückkehren könnten. Fürchtet sich der Westen zu Recht vor der Rückkehr dieser Dschihadisten?
    Todenhöfer: Das ist eine Fehleinschätzung, eine krasse Fehleinschätzung, die zeigt, dass der Westen diesen Islamischen Staat überhaupt nicht verstanden hat. Diejenigen, die zurückkehren, sind die, die es nicht geschafft haben, sind die Verlierer. Was der IS allerdings plant, ist, und ob er das schafft, da habe ich natürlich auch Zweifel, ist eines Tages die Welteroberung, und dann wollen sie natürlich auch Europa und Deutschland erobern. Und dafür erklären sie den Krieg. Aber das ist nichts für morgen und nichts für übermorgen. Das erste Ziel ist der Mittlere Osten, und ein Gebiet zu erobern, das größer ist als Großbritannien, ist ja schon mal erschreckend.
    Kapern: Aber noch mal nachgefragt, Herr Todenhöfer: Warum müssen sich die Menschen im Westen nicht fürchten vor denen, die nun möglicherweise nicht die Stärke gehabt haben, diesen brutalen Kampf zu bestehen in Syrien und im Irak?
    Todenhöfer: Sie haben recht, ja, das kann man nicht ganz ausschließen. Es hat ja auch einen Anschlag, ich glaube, eines Belgiers, in Frankreich gegeben. Aber der war nicht in Auftrag gegeben von der Führung. Es kann Anschläge geben. Aber diese Leute werden als nicht mehr dazugehörig betrachtet. Sie haben kein Ansehen innerhalb des IS. Eine größere Gefahr würde ich eher sehen von denen, die jetzt gerade auf dem Sprung sind und dort hin wollen, und vorher vielleicht noch mal einen Anschlag machen wollen. Aber im Kern wollen die Kämpfer dort kämpfen, im Islamischen Staat. Der erste islamische Staat, den sie seit langer Zeit haben und der für sie was ganz Besonderes ist.
    Kapern: Hier im Westen, da gibt es Berichte darüber, Herr Todenhöfer, dass es massenhafte Hinrichtungen sogenannter Abtrünniger durch den IS gibt, also dass dort die sogenannten Gescheiterten, wie sie dann wohl dort bezeichnet werden, nicht einfach in die Heimat zurückreisen können, sondern auch hingerichtet werden. Sind das Auflösungserscheinungen, oder was haben Sie in Erfahrung bringen können über diese Geschichte?
    Todenhöfer: Ich habe das selbst nicht erlebt, und ich glaube, ich sollte auch nur berichten über Dinge, die ich gesehen habe. Ich habe Zweifel an Meldungen, die ich selbst nicht beurteilen kann. Aber wenn die Zahlen stimmen, dass da hundert Menschen getötet sein sollten, dann ist das nichts. Denn jeden Tag - das ist natürlich persönlich grauenvoll und ein schreckliches Schicksal, und es wäre Mord -, aber jeden Tag kommen weit über hundert neue Kämpfer dazu. Das heißt, das würde die überhaupt nicht kämpferisch beeindrucken. Aber es herrscht schon ein sehr, sehr harter Stil, und der heißt, entweder ihr kämpft mit uns oder ihr seid Verlierer. Das, was ich gehört habe, war einfach, dass man diese Leute nicht mehr respektierte, weil sie es nicht geschafft haben.
    "Nur die gemäßigten irakischen Sunniten könnten den IS stoppen"
    Kapern: Springen wir noch mal auf den Ausgangspunkt Ihrer Reise, Herr Todenhöfer. Sie hatten Kontakt aufgenommen über Facebook ja zu Dschihadisten. Dann haben Sie in langen Gesprächen Sicherheitsgarantien für Ihre Reise bekommen. Da weiß man ja nie, ob man sich auf solche Garantien kopfabschneidender Islamisten verlassen kann. Als Beweggrund dafür, dass Sie dennoch in die vom IS kontrollierten Gebiete gegangen sind, haben Sie das Verlangen genannt, die wahren Beweggründe der Dschihadisten für ihr Handeln herauszufinden. Das heißt, Sie sind von einer Diskrepanz zwischen der Realität und dem, was der IS selbst als Zielsetzung reklamiert, ausgegangen?
    Todenhöfer: Jein. Ich hab eigentlich immer, wenn ich ein Buch über Afghanistan geschrieben habe, dann habe ich mehrfach mit dem Präsidenten, mit Karzai gesprochen und habe mit Taliban-Führern gesprochen. Oder, wenn ich über den Irak, über den Irak-Krieg damals geschrieben habe, da habe ich nicht nur mit der irakischen Regierung gesprochen, sondern ich war eine Woche beim irakischen Widerstand. Ich versuche, als früherer Richter, Kurzzeitrichter habe ich das gelernt, immer mit beiden Seiten zu sprechen. Und ich hab dann auch in diesen vielen Stunden, die wir auch in unseren Räumen verbrachten, weil wir im Augenblick nicht raus konnten, aus Sicherheitsgründen, stundenlange Gespräche geführt, warum das geschieht. Und ich habe vor allem Gespräche geführt über diese unglaubliche Brutalität, die diese Gruppe an den Tag legt. Und ich habe Gespräche geführt, warum sie glauben, dass sie alle Religionen mit Ausnahme der drei Buchreligionen Judentum, Christentum und ihren IS-Islam ausrotten wollen, geführt und versucht, rauszubekommen, woher kommt dieser Enthusiasmus. Und eigentlich muss ich sagen, ich habe es nicht herausgefunden, weil ich eine derartige Entschlossenheit und auch Begeisterung mir nicht vorstellen konnte bei dem Ziel, am Ende hundert Millionen, fünfhundert Millionen oder noch mehr Menschen umzubringen. Das ist außerhalb meiner Vorstellungskraft, und das habe ich am Ende auch nicht verstanden. Ich habe nur verstanden, dass das existiert.
    Kapern: Haben Sie feststellen können, Herr Todenhöfer, ob die Luftangriffe der Koalition der Willigen, die die USA da zusammengeführt haben, dass die irgendetwas bewirken?
    Todenhöfer: Unsere Strategie, die westliche Strategie, das Problem durch Bomben zu lösen, wie wir im Badischen sagen, grottenfalsch. Die hat ja schon nicht in Afghanistan funktioniert, da sind wir ja jetzt davongeschlichen, und sie hat im Irak nicht funktioniert, weil immer Zivilisten getötet werden. Und das bedeutet ein Terrorzuchtprogramm, es bedeutet, dass neue Terroristen entstehen. In Mossul, wo ich mehrere Tage war, leben angeblich drei Millionen Menschen. Und diese drei Millionen Menschen werden von 5.000 IS-Kämpfern gesteuert, geführt, wie immer Sie das nennen wollen, unterdrückt. Und diese 5.000 Leute leben nicht an einem Platz. Sie sind alle auf unterschiedlichste Häuser verteilt. Und die können Sie durch Bomben nicht ausschalten, es sei denn, Sie machen die ganze Stadt dem Erdboden gleich. Und wenn wir jetzt Soldaten hinschicken würden nach Mossul - der Westen hat keine Stadtguerilla-Strategie. Die besten Spezialisten Amerikas oder der NATO würden diesen Stadtguerillakrieg verlieren. Die einzigen, die IS stoppen könnten, sind die gemäßigten irakischen Sunniten, die jedoch leider nach dem Einmarsch von George W. Bush aus dem politischen Leben des Irak ausgeschaltet worden sind, diskriminiert worden sind, ins Gefängnis geflogen sind durch Maliki, getötet worden sind, denen man übel mitgespielt hat. Die haben alle ihre Jobs verloren. Wenn es gelingen würde, diese gemäßigten sunnitischen Iraker wieder ins volle und gleichberechtigt ins politische Leben des Irak zu integrieren, dann hätte man eine Gegenmacht. Die hätte eine Chance.
    Kapern: Das heißt, Sie halten auch nichts von einer Bewaffnung der Kurden durch den Westen, beispielsweise?
    Todenhöfer: Das ist so eine 50-50-Frage. Die Kurden sind eher in der Lage, etwas zu erreichen, als westliche Kämpfer. Aber ich wiederhole mal: Schlagen können die sunnitischen radikalen IS-Kämpfer nur die gemäßigten irakischen Sunniten. Und sie haben es schon einmal getan. Das war 2007, als die Amerikaner den irakischen Stämmen Hunderte von Millionen gegeben haben, und die irakischen Stämme dann, damals, wir nannten es Al Kaida, aber es war der Islamische Staat im Irak, ISI genannt, vertrieben hat. Allerdings war damals ISI wesentlich schwächer als heute IS. Aber das ist die einzige Strategie, die funktionieren wird.
    "Strategie des Bombardierens wirkt nicht"
    Kapern: Aber eine Strategie, Herr Todenhöfer, die auch bedeuten würde, dass man der Ermordung von Jesiden beispielsweise noch auf viele Jahre tatenlos zuschauen würde, weil eine solche Strategie, wie Sie sie empfehlen, ja nicht kurzfristig wirken kann.
    Todenhöfer: Ja, aber die jetzige Strategie des Bombardierens wirkt doch auch nicht. Natürlich müssen wir Jesiden, Jesiden gehören ja auch zu den Opfern, sie gehören ja aus Sicht des IS auch zu den Ungläubigen. Aber man muss die richtige Strategie haben. Es ist ja auch - das klingt jetzt wie ein Widerspruch, ein halbherziges Bombardieren, wenn Sie die Zahl der amerikanischen Angriffe jetzt vergleichen mit der Zahl der Angriffe, die sie während des Irakkrieges am Anfang gemacht haben und während des Afghanistankrieges, dann lässt sich das überhaupt nicht vergleichen. Ich setze darauf, dass die Araber dieses Problem lösen können und dass wir ihnen dabei helfen sollten, indem wir helfen, dass die ausgeschlossenen irakischen Sunniten wieder in die irakische Gesellschaft eingeschaltet werden. Und das kann dann sehr schnell funktionieren.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.