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"The Rake's Progress" in Leipzig
Sittengemälde der Gegenwart

Anthony Bramall und Damiano Michieletto bringen Igor Strawinskys "The Rake's Progress" an die Oper Leipzig. Nach einem platten Anfang erlangt die Inszenierung eine große Eindringlichkeit.

Von Mascha Drost |
    Blick über den Augustusplatz in Leipzig mit der Oper
    Blick über den Augustusplatz in Leipzig mit der Oper (picture alliance / ZB)
    Vielleicht ließe sich der Abend auf folgende Formel bringen: Die Qualität des Ganzen verhält sich umgekehrt proportional zum Zustand des Protagonisten. Will sagen: Je mieser es der Hauptfigur geht, desto wohltuender die Inszenierung. Man sollte vielleicht nicht unbedingt irgendwelche psychologischen Schlüsse daraus ziehen, aber der Untergang von Tom Rakewell scheint den Regisseur zu beflügeln, jedenfalls gewinnt der Abend kontinuierlich an Tiefgang, Dichte und Wirkung während der Held, geistig umnachtet, mit einer Plastiktüte über dem Kopf endet. Hinter ihm liegt die "Karriere eines Wüstlings", "The Rake's Progress", ein Weg, der durch Lotterbetten führt, Spekulationsgeschäfte, Glücksspiel – bis hin zur Endstation Wahnsinn.
    Begonnen hatte diese Karriere im Grünen – Grill, Liegestühle, ordentlich gestutzte Hecke: Spießers Schrebergartentraum. Der ist allerdings so klischeehaft, so platt und bunt auf die Bühne gebracht, dass man unweigerlich nach dem nötigen Quäntchen Ironie Ausschau hält – leider vergebens. Damiano Michieletto will offenbar sicher gehen: Tom Rakewell ist Jedermann und soll als solcher unmissverständlich wahrgenommen werden; also Vorsicht bitte, wenn der Postmann das nächste Mal vor der Tür steht und eine fette Erbschaft in Aussicht stellt - es könnte sich um einen kostümierten Teufel und echtes Teufelszeug handeln.
    So ausdrucksvoll und mitreißend Marika Schönberg in der Rolle der Anne Truelove auch singen mag – ihren Liebsten erlöst sie damit noch nicht. Der muss erst durch den Höllenkreis der Wollust. Und der Zuschauer leider mit ihm. Der Höllenkreis, das ist ein riesiger Swimmingpool gefüllt mit Goldglitter, darum und darin treiben es Personen beiderlei Geschlechts in quietschbunter Reizwäsche und ebensolchen Perücken – von vorn und hinten, oben und unten, wie man es in einem Bordell eben so macht. Gruppensex auf der Bühne, ujujuj,- was wahrscheinlich als Opernaufreger gedacht war, wirkte allerdings weniger aufregend als verklemmt – glatt, plastikmäßig, wie gewollt und nicht gekonnt.
    Kein erhobener Zeigefinger
    Regisseur Michieletto wirft mit schrillen Farben, goldglitzerndem Konfetti und Neonlicht nur so um sich – und zeigt sich, in der ersten Hälfte zumindest, doch nur als aufmerksamkeitsheischender Blender. Da hilft nur Augen zu und Ohren auf, denn was das Gewandhausorchester unter Anthony Bramall präsentierte, ist Strawinsky von Feinsten. Von großer innerer Spannkraft, federnd und elastisch - die Konturen gestochen scharf, egal, ob Blechbläserfanfaren oder aberwitzige Parforcejagden in den Streichern. Detailverliebt wurden Klang und Ausdruck gestaltet, ohne den Blick auf das Ganze zu verlieren.
    Glanz und Gloria also im Graben und auch darüber – Norman Reinhardt gibt seinem Tom Rakewell mehr sinnlichen Schmelz und Ausdrucksstärke als ihm eigentlich zustünde, gefährlich-grollend und mit mephistophelischem Blick ist Tuomas Pursio eine Idealbesetzung, sein Bariton ist so abgrundtief dunkel wie der von ihm verkörperte Nick Shadow; das Lob ließe sich fortsetzen bis in die kleinsten Nebenrollen und den eindrucksvollen Leipziger Opernchor.
    Und wenn am Ende der ganze Glitter im Abfluss gelandet ist und der Held am Boden, ein Irrer unter Irren, ein zitterndes Häuflein zerstörter Illusionen, dann gewinnt dieser Abend eine Eindringlichkeit, die man ihm nicht mehr zugetraut hätte.
    Und die Moral von der Geschichte bleibt er Gott sei Dank auch schuldig; kein erhobener Zeigefinger beendet die Premiere - also alles noch mal gut gegangen.