Maja Ellmenreich: Wir erinnern an den Literaturwissenschaftler Peter Bürger. Gestern ist er im Alter von 80 Jahren in Berlin gestorben, dieser große Denker, Theoretiker und Verfasser kunst- wie literaturwissenschaftlicher Schriften. Seine "Theorie der Avantgarde" zum Beispiel aus dem Jahr 1974 ist längst ein kunstphilosophisches Standardwerk - übersetzt in über ein Dutzend Sprachen.
"Ist nicht das Fremde nur in dem Maße für uns auch inspirierend, sodass wir etwas aus ihm ziehen, wie wir auf ein Eigenes zurückgreifen können?"
So fragte, so stellte Peter Bürger fest - hier bei uns Deutschlandfunk, im Jahr 2005, in einem Gespräch über den Einfluss der Globalisierung auf die bildende "Westkunst".
Ich habe am Nachmittag mit dem Schriftsteller Thomas Hettche gesprochen, einem engen Freund und Weggefährten von Peter Bürger und dessen Ehefrau Christa, bei der Thomas Hettche auch promoviert hat.
"Er war natürlich ein Fragender"
Herr Hettche, wir haben Peter Bürger gerade noch mal im Originalton gehört, wie er sich halb fragend, halb antwortend äußerte. Was war er aus Ihrer Sicht mehr: Ein Fragender oder ein Antwortender?
Thomas Hettche: [lacht] Dieses Originalzitat trifft auch seine Denkweise. Das ist auch sehr gut ausgewählt. Er war natürlich ein Fragender, weil seine Kunstmotivation Neugier war, Interesse an den Menschen und Neugier auf das Fremden, von dem er an dem Tag ja auch sprach. Das Fremde, das wir aber auch nicht verstehen können, ohne eben uns selber in die Waagschale zu werfen. Und das will die Kunst, und das war die große Leidenschaft des Denkens auch von Peter Bürger, dessen philosophisches Denken ja auch ein literarisches Denken war. Ein Denken in Bildern, auch in der Freiheit des Literarischen, des Künstlerischen. So habe ich ihn immer erlebt: als jemand, der sich voller Neugier allen Phänomenen zuwendet. Neugier, die aber letztendlich natürlich gespeist ist von einer großen Humanität und einem großen Interesse an dem Menschen.
Stundenlange leidenschaftliche Reflexionen
Ellmenreich: Sie haben gerade die unterschiedlichen Fachrichtungen, wenn man sie jetzt mal getrennt voneinander anschauen möchte, erwähnt: Die Literatur auf der einen Seite, die Bilder auf der anderen Seite. Seit Anfang der 70er war Peter Bürger ja Professor für Literaturwissenschaft, für Romanistik, an der Universität Bremen gewesen. Kunsttheorie, Philosophie - seine Publikationsliste, so scheint es - da gibt es überhaupt keine thematischen Begrenzungen. Würden Sie den Begriff des Universalgelehrten auf Peter Bürger zutreffen lassen?
Hettche: Nein. Das würde ich nicht sagen, weil er sich für Technik gar nicht interessierte. Das war wirklich ein ungeheures Interesse an der Kunst. Ich weiß, Christa und Peter haben - einige sagen symbiotisch eigentlich - symbiotisch eigentlich gelebt und symbiotisch gearbeitet. Ich weiß, wie sie immer Pläne hatten, hier in Berlin etwa ins Kupferstichkabinett zu gehen und sich genau die zwei Zeichnungen von Raffael anzugucken, über die sie jetzt nachdenken wollten. Dann saßen sie den ganzen Tag da und haben dann genau über zwei Raffael-Zeichnungen nachgedacht, sie stundenlang betrachtet und dann auch darüber geschrieben. Bis dann die Krankheit, die ihn vor einem halben Jahr ans Bett gefesselt hat, war dann jeder Tag aufs Neue ein Versuch, sich ein Stück der künstlerischen Welt anzueignen und zu verstehen und sich selber ins Verhältnis dazu zu setzen. Insofern war er ein Gelehrter, aber "universal" ist, glaube ich, das falsche Adjektiv.
Jugendlichkeit und Lebendigkeit - auch in den Texten
Ellmenreich: Sie haben jetzt gerade Christa Bürger angesprochen und diese symbiotische Lebens- wie Arbeitsbeziehung. Ist die exemplarisch für die akademische Szene, in der die beiden gewirkt haben?
Hettche: Ja, exemplarisch insofern, dass sie in die Veränderung der Universitäten voll hineingekommen sind. Peter Bürger war ja einer der ersten Professoren der Reformuniversität in Bremen in den 70er Jahren. Ihr Ideal war immer - oder: es ist es noch von Christa Bürger - einer kritischen Literaturwissenschaft, einer Wissenschaft, die über Literatur nachdenkt, aber sich öffnet für die Gesellschaft, und die möglichst viele Leute anspricht. Wir hatten jetzt noch mal… im letzten Wintersemester gab es noch mal so eine Art Privatseminar mit ganz jungen Studenten und Promovenden. Und es war so schön zu sehen, wie Peter Bürger eben noch mal mit Dreißigjährigen eben noch mal über Hegel sprechen kann wie er es wahrscheinlich schon vor 50 Jahren getan hat. Also, diese Art von Jugendlichkeit und Lebendigkeit miteinander als Paar zeichnet, glaube ich, beide Bürgers aus und ist eben in ihren Texten auch zu spüren.
Das Standardwerk "Die Theorie der Avantgarde"
Ellmenreich: Also, einen ganz prägenden Einfluss auf den akademischen Nachwuchs - wie Sie sagen - auch vor 50 Jahren schon und sicherlich auch noch in den vergangenen Monaten. Was wird von ihm akademisch-inhaltlich bleiben? Wo hat er Ihrer Meinung nach, Thomas Hettche, vielleicht die tiefsten Spuren hinterlassen?
Hettche: Also, die "Theorie der Avantgarde" ist sicherlich maßstabsetzend gewesen, auch weil sie uns viel erzählt über das Denken der Theorie, das ja auch schon fast wieder historisch geworden ist. Für mich persönlich sind es im Wesentlichen die Essays über Kunst. Ich finde, dass Peter Bürger wirklich ein ungeheuer eleganter Denker ist und in der Lage ist, wirklich Aufmerksamkeit und Wahrnehmung von Kunst zu verbinden mit einer hohen Reflexionsgabe. Es ist ja jemand, der die eigene Gesetzlichkeit der Kunst anerkannt hat und das Besondere des philosophischen Denkens - und keines von beiden gegeneinander verrechnen wollte. Und das, glaube ich, das ist eine Haltung. Und das ist auch die Haltung, glaube ich, die heute auch wieder und immer noch Menschen findet, die daran anknüpfen wollen. Das bleibt, glaube ich, als Haltung von ihm.
Ellmenreich: Als Haltung von dem Literaturwissenschaftler und Kunsttheoretiker Peter Bürger. Im Alter von 80 Jahren ist er gestern gestorben. Wir erinnerten im Gespräch mit dem Schriftsteller Thomas Hettche.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.