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Thomas Meinecke: "Selbst"
Utopie einer emanzipatorischen Erotik

Thomas Meinecke zitiert in seinen Büchern gerne aus verschiedenen Quellen, seien es Google-Texte oder Facebook-Chats. So auch in seinem neuen Roman "Selbst", in dem es um die Sexualität der Hauptfiguren Eva, Genoveva und Venus geht. Die drei sind auf der Suche nach einer neuen Art von Liebe und Erotik.

Von Enno Stahl |
    Der Autor und Musiker Thomas Meinecke im Studio von Deutschlandradio Kultur.
    Autor Thomas Meinecke kommt als Figur in seinem Roman "Selbst" vor. (Deutschlandradio - Andreas Buron)
    In einer poetologischen Selbstauskunft formulierte Thomas Meinecke Anfang des Jahrtausends: "Pop ist eine Praxis. Ein Mittel. Ein analytisches Verfahren, mit vorgefundenen Oberflächen auf politisch produktive Weise umgehen zu können." Gemeint ist damit, dass Meinecke wie ein DJ, als der er ebenfalls arbeitet, ganz verschiedene Quellen benutzt und montiert – theoretische Texte, Google-Fundstücke oder Chat-Protokolle. Dieser Vorgehensweise ist er auch in seinem neuen Buch "Selbst" treu geblieben:
    "Das Verfahren ist eigentlich immer noch das Gleiche, dass ich am liebsten mit vorgefundenen Elementen arbeite und das sogenannte 'Eigene' ständig im Verdacht habe, sowieso nicht eigen zu sein. Dadurch finde ich es ganz schön, wenn man einfach mit gefundenen Dokumenten, die jeweils für sich oder für andere sprechen und oft eine Absicht haben, die vielleicht politisch fragwürdig ist, so arbeiten kann, dass man die direkt übernimmt. Und analysieren kann."
    Frage nach dem Copyright
    Bei diesem – man könnte etwas despektierlich sagen - "parasitären Schreiben", das sich Facebook-Postings, archivalische Quellen, seitenweise deutsch- oder englischsprachige Zitate aus Fachbüchern aneignet – könnten durchaus Copyright und Personenschutzrechte eine Rolle spielen. Hat er keine Angst vor Plagiatsjägern?
    "Ja, wenn, dann müsste ich Angst haben, dass andere das anmelden. Nein, aber ich bin jemand, der erstens viel Rücksprache hält mit denen, die ich zitiere, zweitens wenn ich die nicht kenne oder die nicht mehr leben - es gibt oft auch Dinge aus vergangenen Jahrhunderten -, dann gebe ich die ganz genau an, weil es in der Regel eine huldigende Geste ist, wenn ich das bei mir reintue, weil ich es toll finde, was es da schon gegeben hat, worauf ich mich beziehen kann. Es ist bisher noch nicht passiert, irgendwie ist mir das auch als Kunstmittel, als Stilmittel eingeräumt."
    Meinecke sucht sich auch in "Selbst" wieder mehr oder weniger korrelierende Themenschwerpunkte. Diesmal sind es deutsche Vormärzauswanderer in Texas, Gender, Transsexualität, weibliches Schreiben. Dann sticht er hinein in den gewaltigen Strudel der öffentlichen Bild- und Bedeutungsproduktion, es ist eine vagierende Reise durch Sprache und Inhalte. Leicht zu lesen ist das nicht. Wie in seinen früheren Büchern hat Meinecke auch im Roman "Selbst" mehrere Figuren für seine Zwecke amalgamiert, die Mode-Redakteurin Eva, das androgyne Model Venus und Genoveva, eine Sexualwissenschaftlerin. Sie werden gewissermaßen Trägerinnen seiner Denkprozesse – zusammengenommen sind sie eine Art Alter Ego.
    "Das könnte man, glaube ich, sagen, dass die ganzen Figuren ein bisschen so etwas sind wie Gefäße, die das beinhalten oder rumtragen, was mir in den Sinn kommt. Darum haben meine Romanfiguren selten eine psychologische Grundierung oder eine Vorgeschichte, biografisch, sondern sind oft nur Namen. Neuerdings gibt es da auch noch den Namen Meinecke, der trägt auch etwas mit herum. Aber alles in allem dient der dann wieder dazu, dass man die poetologische Ebene, also dessen, was dort gerade erzählt wird und wie es erzählt wird, mit hineinbringen kann. Die anderen Romanfiguren sind tatsächlich Ideenträger und werden durch ihre Lektüreprozesse zu gewissen Charakteren."
    Autor taucht im eigenen Roman auf
    Dieser Kunstgriff, dass der Autor Meinecke in seinem eigenen Roman auftaucht, ist interessant. Ist das ein Zeichen dessen, dass er inzwischen im allgegenwärtigen Zitieren bei sich selbst angekommen ist, im Rekurs auf sein bisheriges Schreiben und die Reaktion darauf – eine Zitatenmaschine also, die alles an sich reißt, sogar das Eigene.
    "Das könnte man so sagen, aber das Eigene ist sowieso nicht wirklich das Eigene, das Vorangegangene, was ich schon mal gedacht habe oder was man vielleicht mal behauptet hat, was sich nicht halten lässt, wird noch einmal praktisch überprüft. Sich selbst ins Bild zu bringen als eine Figur, die das Buch, was man liest, gerade geschrieben hat, finde ich poetologisch einen interessanten Twist, oder auch einen narrativen Twist, der mir noch eine zusätzliche Ebene einräumt, die allerdings schwierig ist.
    Man muss ganz aufpassen, es kann sehr eitel wirken, weil man sich selbst reinbringt, aber es kann auch so wie Hitchcock sein, der einmal kurz durchs Bild geht. Aber eigentlich habe ich damit angefangen, als ich vor fünf Jahren hier in Frankfurt die Poetik-Dozentur hatte und dann ganz stark dann die Rezeption meiner Texte vorgelegt habe, darunter auch viele Verrisse, und da gab es eben immer diesen Thomas Meinecke. Dann habe ich das in meinen nächsten Roman 'Lookalikes' drin gehabt und in meinem neuen auch, dass dieser Thomas Meinecke auftaucht. Das muss nicht der sein, der hier im Studio sitzt und eine bestimmte Lebensgeschichte hat, sondern eher in dem Moment der, der den Text, den man gerade liest, geschrieben hat."
    "Selbst" ist ein neuer Versuch Meineckes, die Abgrenzungen und Verwischungen des zeitgenössischen Subjekts auszuloten. Im Grunde geht es um eine Liebesgeschichte, eine Dreierkonstellation, bei der die "Prinzessin" Eva und die sprödere Genoveva zwei entgegengesetzte Pole des Frauseins markieren. Meinecke zielt damit wohl auf so etwas wie die Utopie einer emanzipatorischen Erotik, Liebe und Sexualität ohne feste Geschlechterkonturen und ohne Dominanz oder Repression – ein zukunftsweisendes Konzept zumindest für den Fall, dass die Zukunft sich in Richtung einer wachsenden Zivilisierung der Völker und Menschen entwickeln sollte.
    Thomas Meinecke: "Selbst".
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, 472 Seiten, 25,00 €.